Entscheidungsstichwort (Thema)

Einstweiliger Rechtsschutz. Arbeitslosengeld II. Nichtanwendung des Leistungsausschlusses für Ausländer bei Aufenthalt zur Arbeitsuche. Nachweis der tatsächlichen Ausübung einer selbstständigen Erwerbstätigkeit. Anordnungsgrund hinsichtlich der Leistungen für Unterkunft und Heizung. verfassungskonforme Auslegung

 

Orientierungssatz

1. Der Leistungsausschluss gem § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB 2 findet keine Anwendung, wenn der ausländische Antragsteller durch Vorlage von Einkommensteuerbescheiden, Einnahme-Überschuss-Rechnungen und Kundenrechnungen die tatsächliche Ausübung einer selbstständigen Erwerbstätigkeit (nicht nur in untergeordnetem und unwesentlichem Umfang) nachgewiesen hat und insofern ein Aufenthaltsrecht gem § 2 Abs 2 Nr 2 FreizügG/EU 2004 vorliegt.

2. Die bisherige Auffassung des Senats, dass ein Anordnungsgrund hinsichtlich der Bedarfe für Unterkunft und Heizung erst vorliegt, wenn Wohnungs- und Obdachlosigkeit drohen, dh Räumungsklage erhoben wurde, wird unter verfassungskonformer Auslegung aufgegeben (Aufgabe von LSG Essen vom 10.9.2014 - L 7 AS 1385/14 B ER, vom 28.2.2013 - L 7 AS 306/13 B ER und vom 25.5.2012 - L 7 AS 742/12 B ER).

 

Normenkette

SGB II § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2, § 22 Abs. 9; FreizügG/EU 2004 § 2 Abs. 2 Nr. 2; SGB II § 3 Abs. 1 S. 1; SGG § 86b Abs. 2 S. 2; GG Art. 1 Abs. 1, Art. 19 Abs. 4, Art. 20 Abs. 1; BGB § 539 Abs. 3 Nr. 2 S. 1, § 546a Abs. 1, § 573 Abs. 2 Nr. 1

 

Tenor

Auf die Beschwerde der Antragsteller wird der Beschluss des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 14.01.2015 geändert. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, den Antragstellern vom 01.12.2014 bis zum 31.05.2015, längstens bis zum rechtskräftigen Abschluss des Hauptsacheverfahrens, Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II in Höhe von 1.366,66 EUR monatlich nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu zahlen.

Der Antrag auf Verpflichtung des Antragsgegners zur Übernahme der Kostennote der Rechtsanwälte der Vermieter in Höhe von 950,57 EUR wird als unzulässig verworfen.

Der Antragsgegner hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Antragsteller für beide Rechtszüge zu erstatten.

Den Antragstellern wird für das Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwalt T, H, beigeordnet.

 

Gründe

I.

Die Antragsteller sind bulgarische Staatsangehörige und begehren im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes Leistungen zur Deckung des Regelbedarfs sowie zur Deckung von Bedarfen für Unterkunft und Heizung nach dem SGB II sowie die Begleichung einer Rechnung der Rechtsanwälte der Vermieter.

Die am 00.00.1974 bzw. am 00.00.1979 geborenen Antragsteller zu 1) und 2) sind die Eltern der Antragstellerinnen zu 3) und 4) - geboren am 00.00.1997 und am 00.00.1999 - sowie des Antragstellers zu 5) - geboren am 00.00.2011. Die Antragsteller leben in Bedarfsgemeinschaft. Nach Auskunft der Ausländerbehörde der Stadt H ist der Antragsteller zu 1) erstmals am 20.07.2007 in die Bundesrepublik Deutschland eingereist. Letztmalige Wiedereinreise war am 01.09.2011. Die Antragsteller zu 2) bis 5) reisten im September 2011 ein. Im Schuljahr 2014/2015 besucht die Antragstellerin zu 3) das Berufsorientierungsjahr BOJ-2, Berufskolleg L-straße und die Antragstellerin zu 4) die achte Klasse der Hauptschule in H. Die Antragstellerin zu 2) bezieht Kindergeld in Höhe von 558,00 EUR monatlich. Der Antragsteller zu 1) hat in H seit Januar 2012 ein Gewerbe im Bereich "Akustik- und Trockenbau" angemeldet. Die Antragsteller bewohnen seit dem 10.08.2014 eine 67 m² große Wohnung in H in der C Straße (Miete 520,00 EUR: Kaltmiete 324,00 EUR, Betriebskosten 99,00 EUR und Heizung 97,00 EUR). Die Vermieter haben mit Schreiben vom 04.03.2015 das Mietverhältnis wegen Mietrückständen für den Zeitraum von Dezember 2014 bis März 2015 (2.080,00 EUR) fristlos gekündigt.

In Ausführung eines Beschlusses des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 30.06.2014 bewilligte der Antragsgegner zuletzt für die Zeit vom 06.06.2014 bis zum 05.12.2014 vorläufig Leistungen zur Deckung des Regelbedarfs nach dem SGB II (969,00 EUR monatlich bis November 2014, 161,48 EUR für Dezember 2014).

Den Fortzahlungsantrag der Antragsteller lehnte der Antragsgegner mit Bescheid vom 01.12.2014 ab. Der Antragsteller zu 1) könne sich nicht auf die Niederlassungsfreiheit berufen. Denn er habe einen Nachweis für die Ausübung einer selbständigen Tätigkeit nicht erbracht. Gegen den zurückweisenden Widerspruchsbescheid vom 09.02.2015 haben die Antragsteller Klage erhoben.

Am 11.12.2014 haben die Antragsteller beim Sozialgericht Gelsenkirchen beantragt, den Antragsgegner einstweilen zu verpflichten, Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II zu gewähren. Mit den Einnahmen aus dem von ihm angemeldeten und ausgeübten Trocken- und Akustikbaugewerbe habe der Antragsteller zu 1) 2011 und 2012 den Lebensunterhalt der Antragsteller finanziert. Aufgrund der schwierigen wirtschaftlichen Situation könne der Antragsteller zu 1) ab 2014...

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