Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialgerichtliches Verfahren. abtrennbarer Streitgegenstand. Sozialhilfe für Ausländer bzw Überbrückungsleistungen. Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung. Leistungsausschluss für Ausländer ohne Aufenthaltsrecht. Verfassungsmäßigkeit. Möglichkeit und Zumutbarkeit einer Rückkehr ins Heimatland. Überbrückungsleistungen. Bereitschaft zur Ausreise. Härtefall

 

Leitsatz (amtlich)

1. Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums steht einem vollständigen Leistungsausschluss, der darauf beruht, dass der Antragsteller seine Hilfebedürftigkeit zumutbar verhindern bzw beseitigen kann, nicht entgegen (Anschluss an BVerfG vom 5.11.2019 - 1 BvL 7/16). Der Leistungsausschluss gemäß § 23 Abs 3 S 1 Nr 2 SGB XII für Personen, die kein Aufenthaltsrecht haben oder deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt und die die Hilfebedürftigkeit im Inland durch Rückkehr in ihr Heimatland verhindern bzw beseitigen können, ist daher verfassungsgemäß.

2. Die Leistungen nach § 23 Abs 1 SGB XII einerseits und die Überbrückungsleistungen des § 23 Abs 3 S 3 bis 6 SGB XII andererseits bilden unterschiedliche Streitgegenstände.

3. Die Härtefallregelung des § 23 Abs 3 S 6 SGB XII setzt das Vorliegen der Voraussetzungen für Überbrückungsleistungen nach § 23 Abs 3 S 3 SGB XII voraus.

4. Die Gewährung von Überbrückungsleistungen nach § 23 Abs 3 S 3 bis 6 SGB XII setzt eine Ausreisebereitschaft des Hilfebedürftigen voraus.

5. Die Anwendung der Regelungen bzgl der Überbrückungs- und Härtefallleistungen nach § 23 Abs 3 S 3 bis 6 SGB XII darf nicht dazu führen, den Leistungsausschluss nach § 23 Abs 3 S 1 SGB XII leerlaufen zu lassen. Insbesondere liegt ein Härtefall nicht bereits dann vor, wenn die Ausländerbehörde noch keine aufenthaltsbeendende Maßnahmen eingeleitet hat.

 

Tenor

Auf die Berufung des Beklagten wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Freiburg vom 20. Februar 2019 abgeändert und die Klage in vollem Umfang abgewiesen.

Die Beteiligten haben einander außergerichtliche Kosten in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten um die Gewährung von Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung (Grundsicherungsleistungen) nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII) ab dem 1. Oktober 2017.

Die Klägerin ist 1933 geboren und Staatsangehörige der Republik Kroatien. Seit dem 12. April 2013 ist sie verwitwet und bezieht eine kroatische Witwenrente in Höhe von umgerechnet ca. 2.455,00 Euro jährlich (so die Angabe im Antrag vom 29. September 2016) oder 150,00 Euro monatlich (so die Angabe im Antrag vom 30. Oktober 2017). Die Klägerin hat zwei Töchter, von denen eine in Kroatien und die andere in der Bundesrepublik Deutschland (B./Baden-Württemberg) lebt. In Kroatien lebte die Klägerin mietfrei in einem ihrer Enkelin (im Folgenden: S. G. oder Enkelin) gehörenden Haus. Die Enkelin lebt in der Bundesrepublik Deutschland im beklagten Landkreis in einem in ihrem Eigentum stehenden Haus mit einer Wohnfläche von 180 qm.

Seit dem 8. September 2016 ist die Klägerin in der Bundesrepublik Deutschland gemeldet. Sie wohnt seitdem bei S. G. in deren Haus. Die Klägerin und S. G. schlossen unter dem 14. September 2016 einen ab diesem Tag geltenden Mietvertrag über ein Zimmer, Küche/Kochnische, Bad und Gartenanteil mit einem Umfang von ca. 50 qm. Nach dem Vertrag hat die Klägerin an S. G. eine monatliche Miete inklusive Nebenkosten in Höhe von 300,00 Euro zu zahlen. Im zeitlichen Zusammenhang mit dem Umzug richtete die Klägerin in Kroatien ein Konto ein, auf das die Zahlungen der Altersrente erfolgt, nachdem diese zuvor jeweils bar vom Postboten ausbezahlt worden war.

Das Amtsgericht T. hat S. G. mit Beschluss vom 15. Mai 2018 (XVII 46/18) zur Betreuerin der Klägerin in allen Angelegenheiten bestellt.

Mit Bescheid vom 26. September 2018 stellte der Beklagte - Ausländerbehörde - das Nichtbestehen des Rechts auf Freizügigkeit der Klägerin fest, forderte die Klägerin auf, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb eines Monats nach Zustellung des Bescheides zu verlassen und drohte ihr gleichzeitig die zwangsweise Rückführung (Abschiebung) nach Kroatien an, falls sie nicht bereit sei, das Bundesgebiet bis zum Ablauf der genannten Ausreisefrist zu verlassen. Dieser Bescheid ist nach Lage der Akten noch nicht bestandskräftig.

Die Klägerin beantragte erstmals am 29. September 2016 Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung. Der Beklagte lehnte den Antrag mit Bescheid vom 21. Oktober 2016 ab. Die Klägerin sei von Grundsicherungsleistungen nach dem SGB XII ausgeschlossen, weil sie eingereist sei, um Sozialhilfe zu erlangen. Hiergegen erhob die Klägerin am 18. November 2016 Widerspruch. Bei ihrer Einreise handele es sich um eine unverzichtbare Einreise, da sie körperlich und gesundheitlich nicht mehr in der Lage sei, ihren Lebensunterhalt in Kroatien alleine zu bestreiten und auf Grund einer fortschreitenden Demenz pflegebe...

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