Entscheidungsstichwort (Thema)

Arbeitsunfähigkeit. Entgeltfortzahlung. Normsetzungswille. Normklarheit

 

Leitsatz (amtlich)

1. Die Tarifurkunde indiziert den Regelungswillen der Tarifvertragsparteien. Diese Vermutung wird nicht schon dann widerlegt, wenn sich der Inhalt einer Tarifvertragsklausel mit dem Inhalt einer zur Zeit des Tarifabschlusses geltenden gesetzlichen Regelung deckt.

2. § 8 Abs. 2.1 des Manteltarifvertrages für das Hotel- und Gaststättengewerbe des Landes Schleswig-Holstein vom 15.04.1994 gewährt unter den in dieser Vorschrift bezeichneten Voraussetzungen einen Anspruch auf 100%ige Entgeltfortzahlung.

 

Normenkette

§ 8 Abs. 2.1 Manteltarifvertrag für das Hotel- und Gaststättengewerbe des Landes Schleswig-Holstein vom 15.4.1994

 

Verfahrensgang

ArbG Lübeck (Urteil vom 24.07.1997; Aktenzeichen 2 Ca 246/97)

 

Nachgehend

BAG (Urteil vom 05.05.1999; Aktenzeichen 5 AZR 173/98)

 

Tenor

1. Das Urteil des Arbeitsgerichts Lübeck vom 24.7.1997 – 2 Ca 246/97 – wird abgeändert.

2. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin DM 225,84 brutto nebst 4 % Zinsen seit 29.1.97 zu zahlen.

3. Die Kosten des Rechtsstreits – beider Instanzen – hat die Beklagte zu tragen.

4. Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Die Beklagte zahlte der bei ihr als Zimmermädchen beschäftigten Klägerin für Arbeitsunfähigkeitszeiten vom 02. bis 07.10.96, 08. bis 13.11.96 und 19. – 20.11.96 80 % des Arbeitsentgelts. Mit ihrer am 29.01.97 zugestellten Klage begehrt die Klägerin die Differenz zu 100 % in Höhe von 225,84 DM brutto.

Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien ist der allgemeinverbindliche Manteltarifvertrag für das Hotel- und Gaststättengewerbe des Landes Schleswig-Holstein vom 15.04.1994 (Bl. 25–32 d. A., im folgenden MTV 1994) anwendbar, dessen § 8 Abs. 2.1 lautet:

„Alle AN haben bei Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit oder Unfall Anspruch auf Bezahlung des vollen Gehalts bzw. Lohnes entsprechend dem Lohnfortzahlungsgesetz.

Bei Arbeitsunfähigkeit, die auf einen Arbeitsunfall im Sinne der RVO zurückzuführen ist, wird nach Ablauf der Gehalts- bzw. Lohnfortzahlung ein Arbeitgeberzuschuß in Höhe der Differenz zwischen dem Verletztengeld und dem Nettogehalt bzw. -lohn, für die Dauer von 24 Wochen gewährt.”

Der genannte Tarifvertrag löste den Manteltarifvertrag für das Hotel- und Gaststättengewerbe des Landes Schleswig-Holstein vom 06.02.1989 (im folgenden MTV 1989) ab, dessen § 11 Abs. 3 a bestimmte:

„Alle Arbeitnehmer haben bei Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit oder Unfall Anspruch auf Bezahlung des vollen Gehaltes bzw. Lohnes entsprechend der gesetzlichen Bestimmungen.”

Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Hiergegen richtet sich die Berufung der Klägerin.

Sie macht geltend, es handele sich bei § 8 Abs. 2.1 MTV 1994 um eine konstitutive Regelung. Selbst wenn man diese Klausel nur als deklaratorische Regelung auffasse, bestehe ein Anspruch auf 100% ige Entgeltfortzahlung, da sich die Tarifvertragsparteien allenfalls statisch auf die Gesetzeslage zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses bezogen haben könnten.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Arbeitsgerichts Lübeck vom 24.07.1997 – 2 Ca 246/97 – abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin DM 225,84 brutto nebst 4 % Zinsen seit dem 29.01.1997 zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die mit Schriftsatz vom 05.09.1997 eingelegte Berufung in vollem Umfang zurückzuweisen.

Sie hält § 8 Abs. 2 Satz 1 MTV für eine deklaratorische Regelung, die keine eigene Wirkung entfalte. Da es sich um eine Nichtregelung handele, sei diese weder statisch noch dynamisch.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Parteivorbringens wird auf die gewechselten Schriftsätze Bezug genommen.

 

Entscheidungsgründe

I. Die zulässige Berufung ist begründet.

1. Der Anspruch der Klägerin auf 100%ige Entgeltfortzahlung folgt aus § 8 Abs. 2.1 MTV 1994.

a) Die Auslegung des normativen Teiles eines Tarifvertrages folgt den für die Auslegung von Gesetzen geltenden Regeln. Danach ist zunächst vom Tarifwortlaut auszugehen. Soweit der Tarifwortlaut nicht eindeutig ist, ist der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien mit zu berücksichtigen, soweit er in den tariflichen Normen seinen Niederschlag gefunden hat. Anhaltspunkte für den wirklichen Willen der Parteien liefert der tarifliche Gesamtzusammenhang. Verbleiben danach noch Zweifel, sind weitere Kriterien wie die Entstehungsgeschichte des Tarifvertrages heranzuziehen. (Vgl. z. B. BAG, Urteil vom 25.11.1987 – 4 AZR 403/87 – EzA § 1 TVG Auslegung Nr. 18, Urteil vom 21.07.93 – 4 AZR 468/92 – EzA § 1 TVG Auslegung Nr. 28.)

Im vorliegenden Fall enthält § 8 Abs. 2.1 MTV 1994 hinsichtlich der Höhe des Anspruchs bei Arbeitsunfähigkeit eine eindeutige Aussage: Geschuldet ist die Bezahlung des vollen Gehaltes bzw. Lohnes.

Der Zusatz „entsprechend dem Lohnfortzahlungsgesetz” nimmt Bezug auf das Gesetz, das den Namen Lohnfortzahlungsgesetz trägt. Entgegen der Auffassung der Beklagten kann der Begriff nicht dahingehend interpretiert werden, daß die jeweils geltenden gesetzlichen Regelungen ...

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