Entscheidungsstichwort (Thema)

Wichtiger Grund i.S.d. § 626 Abs. 1 BGB. Verleumdung von Arbeitskollegen als wichtiger Grund. Umfassende Interessenabwägung bei einer fristlosen Kündigung. Betriebliches Eingliederungsmanagement als Teil der Verhältnismäßigkeitsprüfung

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Bei einer fristlosen Kündigung ist zunächst zu prüfen, ob der Sachverhalt ohne seine besonderen Umstände "an sich", d. h. typischerweise, als wichtiger Grund geeignet ist. Alsdann bedarf es der Prüfung, ob dem Kündigenden die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unter Berücksichtigung der Umstände des Falles jedenfalls bis zum Ablauf der Kündigungsfrist zumutbar ist oder nicht.

2. Die Verleumdung von Arbeitskollegen, die nach Form und Inhalt eine erhebliche Ehrverletzung für die Betroffenen bedeutet, stellt zugleich einen erheblichen Verstoß des Arbeitnehmers gegen seine arbeitsvertraglichen Pflichten dar und kann auch eine außerordentliche Kündigung rechtfertigen.

3. In einer Gesamtwürdigung ist das Interesse des Arbeitgebers an der sofortigen Beendigung des Arbeitsverhältnisses gegen das Interesse des Arbeitnehmers an dessen Fortbestand abzuwägen. Es hat eine Bewertung des Einzelfalls unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu erfolgen. Zu berücksichtigen sind regelmäßig das Gewicht und die Auswirkungen einer Vertragspflichtverletzung, der Grad des Verschuldens des Arbeitnehmers, eine mögliche Wiederholungsgefahr sowie die Dauer des Arbeitsverhältnisses und dessen störungsfreier Verlauf.

4. Die Durchführung eines betrieblichen Eingliederungsmanagements ist zwar kein milderes Mittel gegenüber einer personenbedingten ordentlichen Kündigung. § 167 Abs. 2 SGB IX konkretisiert aber den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Ob dies auch im Fall einer ordentlichen verhaltensbedingten Kündigung gilt, bleibt unentschieden.

 

Normenkette

BetrVG § 102 Abs. 1; BGB § 626 Abs. 1; KSchG § 1 Abs. 2; SGB IX § 167 Abs. 2 S. 1

 

Verfahrensgang

ArbG Koblenz (Entscheidung vom 06.05.2021; Aktenzeichen 9 Ca 1855/20)

 

Tenor

  • I.

    Die Berufung der Klägerin und die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Koblenz - 9 Ca 1855/20 - vom 06. Mai 2021 werden zurückgewiesen.

  • II.

    Die Kosten des Berufungsverfahrens trägt die Klägerin zu 70%, der Beklagte zu 30 %.

  • III.

    Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit mehrerer außerordentlicher, fristloser, hilfsweise fristgerecht erklärter Kündigungen des Beklagten gegenüber der Klägerin wegen behaupteter Verleumdung einer Kollegin, sowie um die Weiterbeschäftigung der Klägerin.

Die 1969 geborene, verheiratete Klägerin ist seit 01. Januar 1999 im vom beklagten Verein betriebenen Seniorenwohnpark "Z." in A.-Stadt als Pflegehelferin beschäftigt, zuletzt mit einer Arbeitszeit von 75 % einer Vollzeitkraft zu einer monatlichen Bruttovergütung in Höhe von durchschnittlich 2.300,00 EUR. Auf das Arbeitsverhältnis findet kraft einzelvertraglicher Vereinbarung der DRK Reformtarifvertrag Anwendung. Der Beklagte beschäftigt regelmäßig mehr als 10 Arbeitnehmer ausschließlich der Auszubildenden. Im Betrieb ist ein Betriebsrat gewählt.

Wegen Unstimmigkeiten mit dem Bewohner und Vorsitzenden des Bewohnerbeirats Y. in der Frühschicht am 05. Mai 2020 erbat die Klägerin beim Einrichtungsleiter X. ein Teamgespräch. In einer Unterredung mit Kolleginnen und Kollegen bemängelte sie am 06. Mai 2020 einen - allein nach ihrer Auffassung - schlechten Pflegezustand von Bewohnern, den Umgang mit diesen, sowie die Dienstplangestaltung. Am 07. Mai 2020 wurde die Klägerin zur Geschäftsstelle des Beklagten in A.-Stadt gebeten, wo es zu einem Gespräch im Beisein des Geschäftsführers des Beklagten W., des Gesamtheimleiters V., des Einrichtungsleiters X. und des Personalleiters U. kam. Der Verlauf des Gesprächs, in dem die Klägerin ua. aus ihrer Sicht bestehende Missstände im Arbeitsablauf in der Einrichtung ansprach, sind im Einzelnen zwischen den Parteien umstritten. Nach erstinstanzlich durchgeführter Beweisaufnahme ist im Berufungsverfahren nicht mehr streitig, dass die Klägerin plötzlich unvermittelt behauptete, ihre Kollegin T. schlage Bewohner und dass sie nicht lediglich auf entsprechende Gerüchte verwies. Das Gespräch wurde vom Geschäftsführer des Beklagten abgebrochen.

In den Tagen nach dem Gespräch vom 07. Mai 2020 befragte der Beklagte im Seniorenwohnpark "Z." die Zeugin T. zum Vorwurf der Klägerin, sie schlage Bewohner. Nach dem Vortrag der Beklagten wies die Zeugin den Vorwurf, der sich demnach auch im Übrigen durch weitere Befragungen nicht erhärtete, zurück. Die Klägerin übersandte einen - von ihr am 28. Juli 2020 in vorliegendem Rechtsstreit als "Entschuldigungsschreiben" in Kopie vorgelegten - undatierten, handschriftlichen Brief an die Zeugin T. (Bl. 13 ff. d. A.), in dem es unter anderem heißt:

"Liebe S.,

...ich möchte mich vom ganzem Herz bei dir entschuldigen. Wenn du wirklich verstanden hast, dass ich gesagt habe, dass du Leute (Bewohner) schlägst...

Ich würde sowas niem...

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