Entscheidungsstichwort (Thema)

Wichtiger Grund i.S.d. § 626 Abs. 1 BGB. Begrenzte Überprüfbarkeit der Tatsachenfeststellungen der ersten Instanz. Umfassende Interessenabwägung bei einer fristlosen Kündigung. Entbehrlichkeit einer Abmahnung

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Bei einer fristlosen Kündigung ist zunächst zu prüfen, ob der Sachverhalt ohne seine besonderen Umstände "an sich", d. h. typischerweise, als wichtiger Grund geeignet ist. Alsdann bedarf es der Prüfung, ob dem Kündigenden die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unter Berücksichtigung der Umstände des Falles jedenfalls bis zum Ablauf der Kündigungsfrist zumutbar ist oder nicht. Eine Tätlichkeit gegenüber einer Arbeitskollegin kann einen wichtigen Grund darstellen.

2. Nach § 64 Abs. 6 Satz 1 ArbGG und § 529 Abs.1 Nr. 1 ZPO ist das Berufungsgericht grundsätzlich an die Tatsachenfeststellungen des ersten Rechtszugs gebunden. Eine Ausnahme gilt nur bei Verfahrensfehlern, namentlich dann, wenn die Beweiswürdigung des Erstgerichts gegen die Grundsätze der freien Beweiswürdigung des § 286 Abs. 1 ZPO verstößt.

3. In einer Gesamtwürdigung ist das Interesse des Arbeitgebers an der sofortigen Beendigung des Arbeitsverhältnisses gegen das Interesse des Arbeitnehmers an dessen Fortbestand abzuwägen. Es hat eine Bewertung des Einzelfalls unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu erfolgen. Zu berücksichtigen sind regelmäßig das Gewicht und die Auswirkungen einer Vertragspflichtverletzung, der Grad des Verschuldens des Arbeitnehmers, eine mögliche Wiederholungsgefahr sowie die Dauer des Arbeitsverhältnisses und dessen störungsfreier Verlauf.

4. Einer Abmahnung bedarf es nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nur dann nicht, wenn bereits ex ante erkennbar ist, dass eine Verhaltensänderung in Zukunft auch nach Abmahnung nicht zu erwarten steht, oder dass es sich um eine so schwere Pflichtverletzung handelt, dass selbst deren erstmalige Hinnahme dem Arbeitgeber nach objektiven Maßstäben unzumutbar und damit offensichtlich - auch für den Arbeitnehmer erkennbar - ausgeschlossen ist.

 

Normenkette

BGB § 626 Abs. 1; ZPO § 529 Abs. 1 Nr. 1; ArbGG § 64 Abs. 6 S. 1; ZPO § 286 Abs. 1; TVöD-VKA § 34 Abs. 2

 

Verfahrensgang

ArbG Mainz (Entscheidung vom 21.07.2021; Aktenzeichen 5 Ca 80/21)

 

Tenor

  • I.

    Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Mainz - Auswärtige Kammern Bad Kreuznach - 5 Ca 80/20 - vom 21. Juli 2021 wird kostenpflichtig zurückgewiesen.

  • II.

    Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer außerordentlichen fristlosen Kündigung durch den Beklagten und um die Weiterbeschäftigung der Klägerin.

Die 1965 geborene, verheiratete Klägerin ist bei dem beklagten Landkreis kraft schriftlichen Arbeitsvertrages vom 29. Dezember 1997 (Bl. 5 ff. d. A., im Folgenden: AV) seit dem 06. Januar 1998 als nichtvollbeschäftigte Arbeiterin beschäftigt, zuletzt zu einem durchschnittlichen Bruttomonatsgehalt (einschließlich Jahressonderzahlung) von 1.553,27 EUR bei einer regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit von durchschnittlich 17,25 Stunden. Sie ist als Reinigungskraft in der Realschule Z. in A-Stadt eingesetzt. Auf das Arbeitsverhältnis findet kraft einzelvertraglicher Vereinbarung der Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst im Bereich der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände (TVöD/VKA; im Folgenden: TVöD) Anwendung. Die Klägerin erfüllt die Voraussetzungen für eine ordentliche Unkündbarkeit nach § 34 Abs. 2 TVöD. Der Beklagte beschäftigt regelmäßig mehr als 10 Arbeitnehmer mit Ausnahme der zu ihrer Ausbildung Beschäftigten.

Der beklagte Landkreis erteilte der Klägerin unter dem 01. Februar 2019 eine schriftliche Abmahnung, in der er ihr vorwarf, am 20. November 2018 absichtlich und aus Schikane gegenüber einer Kollegin den Flur vor einer Klasse mit Limonade verunreinigt zu haben. Hinsichtlich des umstrittenen Inhalts des Abmahnungsschreibens wird auf Bl. 23 f d. A. Bezug genommen.

Am 20. Januar 2021 kam es nach einer Beschwerde einer Arbeitskollegin der Klägerin, der Zeugin Y., zu einem Personalgespräch mit der Klägerin in Anwesenheit weiterer Personen, welches den Vorwurf gegenüber der Klägerin zum Gegenstand hatte, sie habe die nicht gut Deutsch sprechende Zeugin Y. am 14. Januar 2021 körperlich angegriffen. Der Klägerin wurde vorgehalten, sie habe die Zeugin - nachdem diese etwas nicht verstanden gehabt habe, was die Klägerin ihr zugerufen habe - an den Schultern gepackt und durchgeschüttelt.

Mit Schreiben vom 25. Januar 2021 (Bl. 21 f. d. A.) hörte der Beklagte den bei ihm gewählten Personalrat zur beabsichtigten außerordentlichen Kündigung der Klägerin wegen begründeten Verdachts einer körperlichen Tätigkeit an. Wegen der Einzelheiten des Anhörungsschreibens und die diesem beigefügten Anlagen wird auf den Akteninhalt verwiesen. Der Personalrat erklärte am 28. Januar 2021, dass er keine Erörterung wünsche und keine Stellungnahme abgebe.

Der beklagte Landkreis kündigte das Arbeitsverhältnis mit de...

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