Entscheidungsstichwort (Thema)

Erforderlichkeit einer Abmahnung vor Ausspruch einer Kündigung. Auflösungsgründe i.S.d. § 9 Abs. 1 Satz 2 KSchG. Bewusst wahrheitswidriger Prozessvortrag als Auflösungsgrund

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Beruht eine Pflichtverletzung auf steuerbarem Verhalten des Arbeitnehmers (z.B. Verstoß gegen die Maskenpflicht während der Corona-Pandemie), ist grundsätzlich davon auszugehen, dass sein künftiges Verhalten schon durch die Androhung von Folgen für den Bestand des Arbeitsverhältnisses positiv beeinflusst werden kann. Die außerordentliche und ordentliche Kündigung wegen einer Vertragspflichtverletzung setzen deshalb regelmäßig eine Abmahnung voraus.

2. Die Gründe, die eine den Betriebszwecken dienliche weitere Zusammenarbeit zwischen den Vertragspartnern nicht erwarten lassen, müssen nicht im Verhalten, insbesondere nicht im schuldhaften Verhalten des Arbeitnehmers liegen. Entscheidend ist, ob die objektive Lage bei Schluss der mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz die Besorgnis rechtfertigt, dass die weitere gedeihliche Zusammenarbeit gefährdet ist.

3. Ein bewusst wahrheitswidriger Prozessvortrag eines Arbeitnehmers in einem Kündigungsrechtsstreit ist geeignet, eine Auflösung des Arbeitsverhältnisses zu rechtfertigen. Dabei spielt es keine Rolle, ob der wahrheitswidrige Vortrag letztlich entscheidungserheblich ist. Entscheidend ist, dass der "untaugliche Versuch" eines "Prozessbetrugs" das Vertrauen des Arbeitgebers in die Redlichkeit des Arbeitnehmers irreparabel zerstört.

 

Normenkette

KSchG § 1 Abs. 2, §§ 9-10

 

Verfahrensgang

ArbG Köln (Entscheidung vom 27.08.2021; Aktenzeichen 19 Ca 7185/20)

 

Tenor

Auf die Berufung der Beklagten wird unter Zurückweisung im Übrigen das Urteil des Arbeitsgerichts Köln vom 27.08.2021 - 19 Ca 7185/20 - teilweise abgeändert und wie folgt neu gefasst:

Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien durch die fristlose Kündigung der Beklagten vom 14.10.2020 nicht zum 14.10.2020 beendet worden ist.

Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien durch die fristgerecht ausgesprochene Kündigung der Beklagten vom 14.10.2020 nicht zum 30.11.2020 und auch zu keinem anderen Zeitpunkt beendet worden ist.

Auf Antrag der Beklagten wird das Arbeitsverhältnis der Parteien zum 30.11.2020 aufgelöst und die Beklagte verurteilt, an den Kläger eine Abfindung in Höhe von 5.596,04 € brutto zu zahlen.

Die Kosten des Rechtsstreits werden der Beklagten zu 75 % und dem Kläger zu 25 % auferlegt.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten um die Wirksamkeit einer außerordentlichen sowie ordentlichen Kündigung des Arbeitsverhältnisses und einen Auflösungsantrag der Beklagten.

Der am 1995 geborene Kläger, ledig, ist seit dem April 2017 bei der Beklagten, einem Zulieferer der F W GmbH, als Produktionsmitarbeiter beschäftigt, zuletzt auch in teamleitender Funktion.

Anlässlich der Auswirkungen COVID-19-Pandemie und dem Verhalten in der Belegschaft veranlasste die Beklagte unter dem 14.05.2019 einen betrieblichen Aushang, mit dem sie u.a. eine "absolute Maskenpflicht" anordnete und für den Fall der Zuwiderhandlung arbeitsrechtliche Konsequenzen androhte (Bl. 49 d.A.).

Die Beklagte mahnte den Kläger mit Schreiben vom 03.07.2019 ab und hielt ihm unentschuldigtes Fehlen am 02.07.2019 vor (Bl. 137 d.A.). Eine weitere Abmahnung erfolgte am 28.08.2019 (Bl. 138 d.A.). Sie betrifft ein angebliches Führungsversagen. Der Kläger habe als Teamleiter nicht eingegriffen, obwohl Mitarbeiter den Produktionstakt nicht eingehalten hätten. Mit einer weiteren Abmahnung vom 10.09.2019 rügte die Beklagte eine Verspätung beim Arbeitsantritt am selbigen Tag (Bl. 139 d.A.).

Unter dem 29.04.2020 haben die Betriebsparteien eine Betriebsvereinbarung zu Maßnahmen des Infektionsschutzes geschlossen, die u.a. das Tragen eines Mundschutzes beinhaltet (Bl. 44 ff. d.A.). Diese Betriebsvereinbarung wurde durch eine Zusatzvereinbarung vom 11.05.2020 (Bl. 47 ff. d.A.) ergänzt, die Einschränkungen zur Nutzung betrieblicher Räume zur Reduzierung des Infektionsrisikos enthält.

Zwischen den Parteien ist streitig, ob der Kläger am 06.10.2020 mit dem Zeugen G ein Gespräch ohne Mund-Nasen-Schutz geführt hat und hierbei von dem Zeugen S beobachtet wurde, der die Einhaltung der betrieblichen Regelungen zum Infektionsschutz als Environment-Health-Safety-Beauftragter (EHS-Beauftragter) überwacht hat. Nach Darstellung der Beklagten hat der Zeuge S den Produktionsleiter D von einem Verstoß des Klägers gegen die "Maskenpflicht" unterrichtet, der wiederum den Kläger am 07.10.2020 gegen 9:00 Uhr deshalb ermahnt haben soll.

Am 07.10.2020 gegen 10:00 Uhr erfolgte im Schichtleiterbüro eine Auseinandersetzung über den Verstoß gegen das Tragen des Mund-Nasen-Schutzes durch die anwesenden Mitarbeiter, u.a. unter Beteiligung des Klägers und des Zeugen S .

Die Beklagte hörte den Betriebsrat am 09.10.2020 sowohl zur außerordentlichen, fristlosen als auch zur ordentlichen Kündigung ...

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