Entscheidungsstichwort (Thema)

Dem Betriebsrat zurechenbares Verhalten des Betriebsratsvorsitzenden bei Kenntnis des Betriebsrats und Vertrauen der Verhandlungsgegenseite. Wirksame Betriebsvereinbarung bei Vorliegen einer Rechtsscheinvollmacht

 

Leitsatz (amtlich)

1. Dem Betriebsrat ist das Handeln seines Vorsitzenden auch ohne ordnungsgemäße Beschlussfassung über seine Bevollmächtigung zuzurechnen, wenn er dessen Auftreten kannte und der Geschäftsgegner auf den so gesetzten Rechtsschein vertraut hat sowie nach Treu und Glauben vertrauen durfte.

2. Liegen die Voraussetzungen einer Rechtsscheinvollmacht vor, so kann der Betriebsratsvorsitzende für den Betriebsrat auch eine Betriebsvereinbarung wirksam - mit der Folge normativer Bindung (§ 77 Abs. 4 Satz 1 BetrVG) - abschließen (aA: LAG Düsseldorf, Beschluss vom 27.04.2018 - 10 TaBV 64/17).

 

Normenkette

BetrVG § 26 Abs. 2 S. 1, § 33; BGB § 167; BetrVG § 77 Abs. 3-4, § 87 Abs. 1; ZPO § 97 Abs. 1, § 301 Abs. 1

 

Verfahrensgang

ArbG Wuppertal (Entscheidung vom 25.06.2019; Aktenzeichen 6 Ca 1138/18)

 

Nachgehend

BAG (Urteil vom 08.02.2022; Aktenzeichen 1 AZR 233/21)

 

Tenor

  • I.

    Die Berufung des Klägers gegen das Teilurteil des Arbeitsgerichts Wuppertal vom 25.06.2019 - Az. 6 Ca 1138/18 - wird zurückgewiesen.

  • II.

    Die Kosten der Berufung werden dem Kläger auferlegt.

  • III.

    Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten darüber, ob der Kläger nach einem neu eingeführten Entgeltsystem zu vergüten ist, welche Eingruppierung darin zutreffend ist und ob er weiterhin Anspruch auf die Zahlung von Zulagen hat.

Die Beklagte ist ein Unternehmen der Stahlindustrie und stellt Kurbelwellen her. Im Juni 2018 beschäftigte sie in ihrem Werk in S. 72 Mitarbeiter.

Der am 01.04.1975 geborene, verheiratete Kläger ist seit dem 28.04.1997 bei der Beklagten als Industriemechaniker tätig. Er ist Mitglied der Industriegewerkschaft Metall. Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien finden die Tarifverträge der Stahlindustrie Anwendung.

Der Lohnrahmentarifvertrag zwischen dem Arbeitgeberverband Eisen- und Stahlindustrie e.V. und der Industriegewerkschaft Metall für die Bundesrepublik Deutschland, Bezirksleitungen Essen, Hagen, Köln und Münster vom 28.07.1966, Auszug Bl. 728 ff. d.A. (im Folgenden: LRTV 1966), wurde durch den Lohnrahmentarifvertrag vom 05.01.1973, Bl. 539 ff. d.A. (im Folgenden: LRTV), abgelöst. Nach der insoweit wortgleichen Regelung des § 2 LRTV 1966 bzw. des § 2 LRTV erfolgt die Einstufung der Arbeitnehmer nach dem Lohngruppensystem, geregelt in den §§ 3 - 7, oder nach der analytischen Arbeitsbewertung, geregelt im Anhang. Für die Einstufung in die Lohngruppen und Tarifzulagen sind in der Anlage zum LRTV Arbeitsbeispiele erstellt worden, wobei klargestellt wird, dass nicht die Tätigkeitsbezeichnung, sondern die am Arbeitsplatz anfallenden Anforderungen entscheidend sind, vgl. § 7 LRTV. Dort wird etwa der "Dreher" der Lohngruppe 7 und der "Großstückdreher" der Lohngruppe 8 zugeordnet. Die §§ 8 ff. sind für beide Einstufungssysteme anzuwenden. Gemäß § 12 des LRTV erfolgt die Einstufung durch eine betriebliche paritätische Kommission. § 15 LRTV (nahezu wortgleich 1966 und 1973) bestimmt, dass die Festlegung der Entlohnungsformen unter Mitbestimmung des Betriebsrats erfolgt. In § 17 LRTV ist geregelt, dass Prämienlohn vorliegt, wenn eine Prämie als variabler Leistungslohnanteil für eine über die Soll-Leistung erzielte Mehrleistung zusätzlich mindestens zum Basislohn gezahlt wird, und dass die Prämiengrundsätze mit dem Betriebsrat zu vereinbaren sind.

§ 1 des Anhangs zum LRTV (1966 und 1973) lautet:

"1. Die Einführung der tariflichen analytischen Arbeitsbewertung erfolgt durch Betriebsvereinbarung.

2. Für die Einführung einer anderen Arbeitsbewertungsmethode bedarf es eines Zusatztarifvertrages."

Die Beklagte und der bei ihr gebildete Betriebsrat schlossen am 31.05.1967 eine Betriebsvereinbarung, Bl. 84 ff. d.A. Darin vereinbarten sie unter Ziffer 1., dass die Einstufung nach der analytischen Arbeitsbewertung erfolgen sollte. Unter Ziffer 6. trafen sie Regelungen über ein Prämienverfahren sowie über Lohnbestandteile des Prämienarbeiters (Prämien auf Zeitbasis und leistungsgebundene und produktionsabhängige Prämien), wobei für die Prämiengrundlagen auf "Richtlinien" verwiesen wurde, die als Anlage III Bestandteil der Vereinbarung sein sollten. Die bei der Beklagten geltenden "Allgemeinen Bezahlungsrichtlinien" wurden mehrfach geändert. Zuletzt fand die Version vom 01.01.1989 Anwendung, vgl. Bl. 255 ff. d.A. Darin wird u.a. auf den geltenden LRTV, nicht aber auf die Betriebsvereinbarung vom 31.05.1967 Bezug genommen, in Teil II finden sich unter Ziffer 11. nähere Regelungen zur Ausgestaltung des Prämienlohns.

Der Kläger war im analytischen Entgeltsystem als Universalkraft im Drehbereich in die Tarifgruppe 26 mit der Bewertungsstufe 0 eingruppiert und erhielt zuletzt, bis zum 31.01.2018, ein Bruttomonatsentgelt in Höhe von 3.894,24 €. Die Eingruppierung erfolgte anhand der Bewertungskriterien...

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