Entscheidungsstichwort (Thema)
Wirksamkeit einer Betriebsvereinbarung bei Fehlen eines Beschlusses des Betriebsrats
Leitsatz (amtlich)
Einer Betriebsvereinbarung, die mangels des erforderlichen Beschlusses des Betriebsrats nicht wirksam zustande gekommen ist, fehlt es an ihrer normativen Wirkung i.S.d. § 77 Abs. 4 BetrVG. Sie ist rechtlich unwirksam. Es mag sein, dass sich der Arbeitgeber im Hinblick auf konkrete Maßnahmen, die er in Vollziehung einer solchen Betriebsvereinbarung ergriffen hat, mit schutzwürdigem Vertrauen rechtfertigen kann und sich nicht deren mitbestimmungsrechtliche Unwirksamkeit vorwerfen lassen muss. Das gilt jedoch nur im Hinblick auf konkrete Mitbestimmungsfragen, wie etwa der Beteiligung im Rahmen von Kündigungen nach §§ 102, 103 BetrVG oder allgemeinen personellen Maßnahmen i.S.d. § 99 BetrVG. Es bedeutet nicht, dass der Rechtsschein der Betriebsvereinbarung rechtliche Wirkung i.S.d. § 77 Abs. 4 BetrVG verleihen könnte.
Normenkette
BetrVG § 26 Abs. 2, § 77 Abs. 4 S. 1
Verfahrensgang
ArbG Wesel (Entscheidung vom 06.09.2017; Aktenzeichen 5 BV 41/16) |
Tenor
Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Arbeitsgerichts Wesel vom 06.09.2017 - 5 BV 41/16 - abgeändert:
Es wird festgestellt, dass die Betriebsvereinbarung 01/2015 vom 12.12.2014 keine Rechtswirkung entfaltet.
Die Rechtsbeschwerde wird zugelassen.
Gründe
I.
Die Beteiligten streiten darüber, ob eine am 12.12.2014 vom Vorsitzenden des Antragstellers (im Folgenden: Betriebsrat) und dem damaligen Geschäftsführer der Antragsgegnerin (im Folgenden: Arbeitgeberin) unterzeichnete Betriebsvereinbarung wirksam ist.
Ende des Jahres 2014 trat der damalige Geschäftsführer der Arbeitgeberin an den aus drei Personen bestehenden Betriebsrat und die Belegschaft mit dem Wunsch heran, verschiedene bis dato geltende Betriebsvereinbarungen zwecks Sicherung des Standortes durch eine neue Betriebsvereinbarung zu ändern. Bei im Detail streitigen Darstellungen der weiteren Abläufe ist es im Kern unstreitig, dass der Geschäftsführer der Belegschaft einen Entwurf präsentierte, über dessen Inhalt die gesamte Belegschaft abstimmte. Nachdem der Vorschlag in einer ersten und zweiten Abstimmung von der Belegschaft abgelehnt worden war, kam es am 11.12.2014 zu einer neuerlichen namentlichen Abstimmung, bei der sich die Mehrheit dafür aussprach, den Entwurf zu akzeptieren.
Hieraufhin unterzeichneten der Vorsitzende des Betriebsrats und der Geschäftsführer unter dem 12.12.2014 die "Betriebsvereinbarung 01/2015 zur Neuregelung der Betriebsvereinbarungen" (im Folgenden BV). Ebenfalls am 12.12.2014 verfasste und veröffentlichte der Betriebsratsvorsitzende den folgenden "Aushang Nr. 18/2014":
Abstimmung Betriebsvereinbarung
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen!!!
Die erneute Abstimmung über die neue
Betriebsvereinbarung am 11.12.14 wurde mit überragender
Mehrheit angenommen und akzeptiert.
Die neue Betriebsvereinbarung gilt somit ab dem
01.01.2015.
Der Aushang wurde von allen Betriebsratsmitgliedern unterzeichnet.
Im Februar 2015 äußerte der Betriebsrat gegenüber der Arbeitgeberin und der Belegschaft Bedenken hinsichtlich der Wirksamkeit der BV. Hierauf reagierte die Arbeitgeberin mit folgendem "Aushang Nr. 02/2015":
Liebe Mitarbeiterinnen, liebe Mitarbeiter,
die Mitteilung des Betriebsrats vom 12.02.2015 veranlasst uns dazu, folgende Punkte klarzustellen:
-Die Geschäftsleitung geht weiter davon aus, dass die Betriebsvereinbarung vom 12.12.2014 unverändert Bestand hat. Sämtliche Betriebsratsmitglieder haben der Betriebsvereinbarung am 12.12.2014 ausdrücklich zugestimmt. Außerdem wurde die Betriebsvereinbarung nach einer Abstimmung in der Belegschaft mit "überragender Mehrheit angenommen" (vgl. Aushang Nr. 18/2014).
- Wir wollen und können nicht akzeptieren, dass sich der Betriebsrat auf einmal von der Betriebsvereinbarung lossagen will.
- Von einem "schwerwiegenden Verfahrensfehler" ist uns übrigens nichts bekannt. Überzeugend ist dieser Einwand sowieso nicht, denn der Betriebsrat könnte einen solchen Verfahrensfehler ohne Weiteres jederzeit wieder korrigieren.
Wir hoffen im Interesse unseres Unternehmens, dass wir möglichst bald wieder zu einer verlässlichen und vertrauensvollen Zusammenarbeit zurückfinden!
Mit freundlichen Grüßen
Zwischenzeitlich hat der Betriebsrat die BV ordentlich und fristgerecht zum 31.12.2017 gekündigt.
Mit dem am 30.09.2016 eingeleiteten Beschlussverfahren strebt der Betriebsrat die Feststellung an, dass die BV keine Rechtswirkungen entfaltet. Er hält sie für unwirksam, weil sie seinerzeit vom Vorsitzenden unterzeichnet worden sei, ohne dass der Betriebsrat zuvor einen entsprechenden Beschluss gefasst habe. Eine spätere Genehmigung habe es nicht gegeben. Die Arbeitgeberin könne sich auch nicht auf einen vom Betriebsrat gesetzten Rechtsschein berufen. Nach der dritten Abstimmung habe der Vorsitzende den Geschäftsführer aufgesucht und seine Bedenken an der Rechtsmäßigkeit des Zustandekommens der Betriebsvereinbarung durch "Urabstimmung" mitgeteilt. Diese...