Mit heute veröffentlichtem Beschluss hat der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts mehrere Verfassungsbeschwerden zurückgewiesen, die sich gegen Vorschriften des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) über die Pflicht zum Auf- und Nachweis einer Masernimpfung sowie über die bei Ausbleiben des Nachweises eintretende Folgen richten, wie etwa das Verbot, Kinder in bestimmten Einrichtungen zu betreuen. Die Zurückweisung erfolgt allerdings mit der Maßgabe einer verfassungskonformen Auslegung, die an die zur Durchführung der Masernimpfung im Inland verfügbaren Impfstoffe anknüpft. Stehen – wie derzeit in Deutschland – ausschließlich Kombinationsimpfstoffe zur Verfügung, ist § 20 Abs. 8 Satz 3 IfSG verfassungskonform so zu verstehen, dass die Pflicht, eine Masernimpfung auf- und nachzuweisen, nur dann gilt, wenn es sich um Kombinationsimpfstoffe handelt, die keine weiteren Impfstoffkomponenten enthalten als die gegen Masern, Mumps, Röteln oder Windpocken.

Die Beschwerdeführenden sind jeweils gemeinsam sorgeberechtigte Eltern sowie ihre minderjährigen Kinder, die kommunale Kindertagesstätten besuchen oder von einer Tagesmutter mit Erlaubnis zur Kindertagespflege nach § 43 Achtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VIII) betreut werden sollten. Sie wenden sich im Wesentlichen gegen die Bestimmungen des Infektionsschutzgesetzes, die eine solche Betreuung lediglich dann gestatten, wenn die betroffenen Kinder gegen Masern geimpft sind und diese Impfung auch nachgewiesen wird.

Die angegriffenen Vorschriften berühren sowohl das die Gesundheitssorge für ihre Kinder umfassende Grundrecht der beschwerdeführenden Eltern aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 des Grundgesetzes (GG) als auch und vor allem das durch Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG gewährleistete Grundrecht der beschwerdeführenden Kinder auf körperliche Unversehrtheit. Beide Grundrechtspositionen sind hier in spezifischer Weise miteinander verknüpft. Sowohl die Eingriffe in das Elternrecht als auch die in die körperliche Unversehrtheit sind unter Berücksichtigung der verfassungskonformen Auslegung verfassungsrechtlich gerechtfertigt. Ohne Verstoß gegen Verfassungsrecht hat der Gesetzgeber dem Schutz durch eine Maserninfektion gefährdeter Menschen den Vorrang vor den Interessen der beschwerdeführenden Kinder und Eltern eingeräumt.

Sachverhalt:

1. Nach § 20 Abs. 8 Satz 1 Nr. 1 IfSG müssen unter anderem Personen, die in einer Gemeinschaftseinrichtung im Sinne von § 33 Nr. 1 und 2 IfSG (zum Beispiel Kindertageseinrichtung oder erlaubnispflichtige Kindertagespflege) betreut werden, einen ausreichenden Impfschutz gegen Masern oder eine Immunität gegen Masern aufweisen. Die Pflicht, einen solchen Impfschutz aufzuweisen, gilt auch, wenn ausschließlich Kombinationsimpfstoffe zur Verfügung stehen, die auch Impfstoffkomponenten gegen andere Krankheiten enthalten (§ 20 Abs. 8 Satz 3 IfSG).

Kinder, die in solchen Gemeinschaftseinrichtungen betreut werden sollen, müssen der Einrichtungsleitung vor Beginn ihrer Betreuung einen Nachweis darüber vorlegen, dass ein ausreichender Impfschutz oder eine Immunität gegen Masern besteht oder sie aufgrund einer medizinischen Kontraindikation nicht geimpft werden können (§ 20 Abs. 9 Satz 1 IfSG). Wird für Kinder ab der Vollendung des ersten Lebensjahres kein derartiger Nachweis vorgelegt, dürfen sie nicht in Gemeinschaftseinrichtungen betreut werden (§ 20 Abs. 9 Satz 6 IfSG). Nach § 20 Abs. 13 IfSG haben bei Minderjährigen deren Sorgeberechtigte für die Einhaltung der Verpflichtung zu sorgen.

2. Die minderjährigen Beschwerdeführenden sind nicht gegen Masern geimpft und verfügen über keine Immunität. Medizinische Kontraindikationen zu einer Masernimpfung bestehen bei ihnen nicht.

Die Verfassungsbeschwerden richten sich jeweils gegen die gesetzlichen Vorschriften des Infektionsschutzgesetzes (§ 20 Abs. 8 Satz 1 bis 3, Abs. 9 Satz 1 und 6, Abs. 12 Satz 1 und 3, Abs. 13 Satz 1 IfSG) über die Pflicht zum Auf- und Nachweis einer Masernimpfung sowie das bei Ausbleiben des Nachweises geltende Betreuungsverbot in bestimmten Einrichtungen. Die Beschwerdeführenden sehen in der Pflicht zur Herbeiführung und zum Nachweis der Masernimpfung unter anderem unverhältnismäßige Eingriffe in das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) der minderjährigen Beschwerdeführenden, insbesondere wegen der Pflicht, sich nicht nur gegen Masern impfen zu lassen, sondern aufgrund der Nichtverfügbarkeit von Monoimpfstoffen auch gegen andere Krankheiten. Zugleich werde in unverhältnismäßiger Weise in das Elternrecht (Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG) eingegriffen.

Wesentliche Erwägungen des Senats:

Die zulässigen Verfassungsbeschwerden haben keinen Erfolg.

I. 1. a) Die beanstandeten Regelungen des Infektionsschutzgesetzes greifen in mehrfacher Hinsicht jedenfalls zielgerichtet mittelbar in das Grundrecht der beschwerdeführenden Eltern aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG ein. Entscheiden sich die Eltern in Wahrnehmung ihrer durch Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG geschützten Gesundheitssorge gegen eine Impfung ihres ...

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