Entscheidungsstichwort (Thema)

Vorlage zur Vorabentscheidung. Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen. Europäischer Haftbefehl. Begriff ‚vollstreckende Justizbehörde’. Grundsatz der Spezialität. Ausnahme. Verfolgung wegen einer ‚anderen Handlung’ als derjenigen, die der Übergabe zugrunde liegt. Zustimmung der vollstreckenden Justizbehörde. Zustimmung der Staatsanwaltschaft des Vollstreckungsmitgliedstaats

 

Normenkette

Rahmenbeschluss 2002/584/JI Art. 6 Abs. 2, Art. 27 Abs. 2, 3 Buchst. g, Abs. 4

 

Beteiligte

Openbaar Ministerie

AZ

 

Tenor

1. Bei dem Begriff „vollstreckende Justizbehörde” in Art. 6 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 geänderten Fassung handelt es sich um einen autonomen Begriff des Unionsrechts, der dahin auszulegen ist, dass er sich auf die Behörden eines Mitgliedstaats erstreckt, die, ohne notwendigerweise Richter oder Gerichte zu sein, in diesem Mitgliedstaat an der Strafrechtspflege mitwirken, bei der Ausübung ihrer der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls innewohnenden Aufgaben unabhängig handeln und ihre Aufgaben im Rahmen eines Verfahrens ausüben, das den Anforderungen an einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz genügt.

2. Art. 6 Abs. 2 und Art. 27 Abs. 3 Buchst. g und Abs. 4 des Rahmenbeschlusses 2002/584 in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299 geänderten Fassung sind dahin auszulegen, dass es sich bei dem Staatsanwalt eines Mitgliedstaats, der zwar an der Rechtspflege mitwirkt, aber im Rahmen der Ausübung seiner Entscheidungsbefugnis eine Einzelweisung seitens der Exekutive erhalten kann, nicht um eine „vollstreckende Justizbehörde” im Sinne dieser Bestimmungen handelt.

 

Tatbestand

In der Rechtssache

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Hof van beroep te Brussel (Appellationshof Brüssel, Belgien) mit Entscheidung vom 26. Juni 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 4. Juli 2019, in dem Strafverfahren gegen

AZ,

Beteiligte:

Openbaar Ministerie,

YU,

ZV,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, der Vizepräsidentin R. Silva de Lapuerta, der Kammerpräsidenten J.-C. Bonichot, M. Vilaras, E. Regan und N. Piçarra, des Richters E. Juhász, der Richterin C. Toader, der Richter M. Safjan, D. Šváby, S. Rodin und F. Biltgen, der Richterin K. Jürimäe (Berichterstatterin) sowie der Richter C. Lycourgos und P. G. Xuereb,

Generalanwalt: M. Campos Sánchez-Bordona,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

  • von AZ, vertreten durch F. Thiebaut und M. Souidi, advocaten,
  • des Openbaar Ministerie, vertreten durch J. Van Gaever,
  • der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller, M. Hellmann, E. Lankenau und A. Berg als Bevollmächtigte,
  • der spanischen Regierung, vertreten durch L. Aguilera Ruiz als Bevollmächtigten,
  • der ungarischen Regierung, vertreten durch M. Z. Fehér, G. Koós und M. M. Tátrai als Bevollmächtigte,
  • der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman und J. Langer als Bevollmächtigte,
  • der Europäischen Kommission, vertreten durch S. Grünheid und R. Troosters als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 25. Juni 2020

folgendes

Urteil

 

Entscheidungsgründe

Rz. 1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 6 Abs. 2 sowie der Art. 14, 19 und 27 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. 2002, L 190, S. 1) in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 (ABl. 2009, L 81, S. 24) geänderten Fassung (im Folgenden: Rahmenbeschluss 2002/584).

Rz. 2

Es ergeht im Rahmen eines Strafverfahrens, das in Belgien gegen AZ, einen belgischen Staatsangehörigen, eingeleitet wurde, der der Urkundenfälschung, der Verwendung gefälschter Urkunden und des Betrugs beschuldigt wird und von den niederländischen Behörden in Vollstreckung Europäischer Haftbefehle den belgischen Behörden übergeben wurde.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Rz. 3

In den Erwägungsgründen 5, 7 und 8 des Rahmenbeschlusses 2002/584 heißt es:

„(5) Aus dem der Union gesetzten Ziel, sich zu einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu entwickeln, ergibt sich die Abschaffung der Auslieferung zwischen Mitgliedstaaten und deren Ersetzung durch ein System der Übergabe zwischen Justizbehörden. Die Einführung eines neuen, vereinfachten Systems der Übergabe von Personen, die einer Straftat verdächtigt werden oder wegen einer Straftat verurteilt worden sind, für die Zwecke der strafrechtlichen Verfolgung oder der Vollstreckung strafrechtlicher Urteile ermöglicht zudem die Beseitigung der Komplexität und der Verzögerungsrisiken, die den derzeitigen Auslieferungsverfahren innewohnen. Die bislang von klassis...

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