Entscheidungsstichwort (Thema)

Anforderung an Arbeitsstätte: Sichtverbindung nach außen. Rechtsverordnung. Verordnungsermächtigung. Außerkrafttreten der Verordnungsermächtigung. Bestimmtheit. Gesundheit. Gesundheitsschutz. Arbeitsräume. Ladenräume. Sichtverbindung nach außen. psychosomatische Zustände. psychisches Wohlbefinden. Fürsorge. Arbeitsschutz. Kontaktfenster. Arbeitsstätten-Richtlinien. Ausnahme. Abweichung. Soll-Vorschrift

 

Leitsatz (amtlich)

Eine gewerberechtliche Anordnung zur Herstellung einer Sichtverbindung aus einem Arbeitsraum nach außen kann ihre Rechtsgrundlage in § 139 i GewO i.V.m. § 7 Abs. 1 ArbStättV haben.

Die Arbeitsstättenverordnung ist auch nach Außerkrafttreten ihrer Ermächtigungsgrundlage anzuwendendes Recht. Der Verordnungsgeber brauchte sich bei Normierung von Arbeitsschutzvorschriften nicht an einem engen Verständnis des Begriffes der Gesundheit zu orientieren, sondern durfte auch psychische Zustände einbeziehen.

Die Arbeitsstätten-Richtlinie ASR 7/1 ist keine Rechtsnorm. Sie dient der Dokumentierung der allgemein anerkannten sicherheitstechnischen, arbeitsmedizinischen und hygienischen Regeln sowie der gesicherten arbeitswissenschaftlichen Erkenntnisse über Arbeitsstätten. Von ihr ist auszugehen, wenn und soweit keine Anhaltspunkte für Fehlbeurteilungen vorliegen.

 

Normenkette

GG Art. 2 Abs. 1, Art. 80 Abs. 1 S. 2; GewO § 139h Abs. 1, § 139i; HGB § 62 Abs. 1; ArbStättV § 3 Abs. 1-2, § 4 Abs. 1-2, § 7 Abs. 1

 

Verfahrensgang

Bayerischer VGH (Urteil vom 04.08.1995; Aktenzeichen 22 B 89.3444)

VG Ansbach (Entscheidung vom 20.07.1989; Aktenzeichen AN 4 K 88.992)

 

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 4. August 1995 wird zurückgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des Revisionsverfahrens.

 

Tatbestand

I.

Der Kläger wendet sich gegen eine Anordnung des Gewerbeaufsichtsamts, die Schaufenster seines Juweliergeschäfts in Nürnberg so umzugestalten, daß die Sichtverbindung aus dem Verkaufsraum ins Freie eine Gesamtfläche von einem Zehntel der Netto-Raumgrundfläche erreicht. Er errichtete das Geschäft mit bauaufsichtlicher Genehmigung, welche die Nebenbestimmung enthielt, Auflagen des Gewerbeaufsichtsamts zu beachten und einzuhalten, zu denen auch Anforderungen in bezug auf die Sichtverbindung nach außen gehörten. Die Bauzustandsbesichtigung nach abschließender Fertigstellung erbrachte keine Beanstandungen. Das Gewerbeaufsichtsamt rügte hingegen u. a. das Fehlen einer ausreichenden Sichtverbindung nach außen und forderte mit Bescheid vom 10. November 1986, die „undurchsichtigen Schaufensterinnenverblendungen so umzugestalten, daß über die vorhandenen Schaufenster zusätzliche Sichtverbindungsflächen von insgesamt 4,10 qm in das Freie” entstehen. Der Widerspruch des Klägers, mit dem hilfsweise eine Ausnahme beantragt wurde, blieb ohne Erfolg, weil die Sichtverbindung nach arbeitspsychologischen Grundsätzen zur Vermeidung eines „Klausureffekts” erforderlich sei; zugleich wurde die begehrte Ausnahme abgelehnt.

Die daraufhin erhobene Anfechtungsklage wurde abgewiesen. Der Verwaltungsgerichtshof hat die Berufung nach Einholung einer Stellungnahme des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung durch Urteil vom 4. August 1995 zurückgewiesen. Für das Berufungsgericht waren dabei folgende Erwägungen maßgebend:

Die angegriffene Anordnung sei rechtmäßig. Nach § 62 Abs. 1 HGB sei der Prinzipal gehalten, Geschäftsräume so einzurichten, daß der Handlungsgehilfe gegen eine Gefährdung seiner Gesundheit, soweit die Natur des Betriebs es gestattet, geschützt ist. Gemäß § 139 h Abs. 1 GewO könne der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung mit Zustimmung des Bundesrats durch Rechtsverordnung Regelungen darüber treffen, welchen Anforderungen unter anderem Laden- und Arbeitsräume sowie deren Einrichtung zur Durchführung der in § 62 Abs. 1 HGB enthaltenen Grundsätze zu genügen haben. Dies sei durch die Arbeitsstättenverordnung geschehen. § 7 Abs. 1 dieser Verordnung fordere eine Sichtverbindung nach außen, deren Einzelheiten in der Arbeitsstätten-Richtlinie ASR 7/1 bestimmt seien. Dieses Regelwerk unterliege in formeller Hinsicht keinen Bedenken, sei insbesondere genügend mit der Fachwelt abgestimmt worden. Es habe auch inhaltlich in § 62 Abs. 1 HGB eine gesetzmäßige Grundlage. Angesichts der vorhandenen Varianten der Beschreibung des Schutzgutes Gesundheit, die von der Beschränkung auf bloße körperliche Unversehrtheit in biologisch-physiologischer Hinsicht über die Einbeziehung des geistig-seelischen Bereiches, also des psychischen Wohlbefindens, bis zur Erstreckung auf vollständiges soziales Wohlbefinden im Sinne der Definition der Welt-Gesundheits-Organisation reichten, sei die Ermächtigung des § 139 h Abs. 1 GewO als Auftrag zur Präzisierung eines in hohem Maß unbestimmten Rechtsbegriffs zu verstehen, der einen Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsauftrag enthalte und zugleich Raum für Abwägung und Ausgleich konkurrierender Interessen gebe. Die Forderung einer Sichtverbindung nach außen halte sich innerhalb des so eröffneten Spielraums. Daß eine regelmäßige, länger andauernde „Klausur” in Räumen ohne Sichtverbindung nach außen über psychosomatische Zusammenhänge grundsätzlich zu körperlichen Beeinträchtigungen führen könne, sei ein naheliegender Verdacht; Plausibilität und Vertretbarkeit dieser Einschätzung des Normgebers erschienen selbst im hier zu entscheidenden (Grenz-)Fall nicht erschüttert. Angesichts dessen sei gegen das Regelwerk auch verfassungsrechtlich nichts einzuwenden.

Eine besondere Ausstattungsqualität der Arbeitsstätte des Klägers könne eine Ausnahme von dem Erfordernis der Sichtverbindung nicht rechtfertigen, da sie keinen Ausgleich für die fehlende Sichtverbindung darstelle.

Der Kläger macht zur Begründung der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision, mit der er seinen Aufhebungsantrag weiter verfolgt, im wesentlichen geltend: Das vom Verwaltungsgerichtshof herangezogene Regelwerk sei von der Ermächtigungsgrundlage des § 139 h Abs. 1 GewO i.V.m. § 62 Abs. 1 HGB nicht gedeckt. Die in Rede stehende Arbeitsstätten-Richtlinie sei nicht mit der Fachwelt abgestimmt und deshalb bereits formell rechtswidrig. Zudem seien die Anforderungen nicht nach den allgemein anerkannten arbeitsmedizinischen oder sonstigen gesicherten arbeitswissenschaftlichen Erkenntnissen im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 ArbStättV gedeckt. Die Forderung einer Sichtverbindung nach außen diene nicht der Abwehr einer Gefahrenlage im Sinne des § 62 Abs. 1 HGB. Die Abwehr bloßer Belästigungen, d. h. von Störungen des körperlichen oder seelischen Wohlbefindens, die nicht mit einem Schaden für die Gesundheit von Arbeitnehmern verbunden seien, liege außerhalb des Schutzzwecks der genannten Bestimmungen.

Der Kläger rügt, das Berufungsgericht habe gegen den Untersuchungsgrundsatz des § 86 Abs. 1 VwGO verstoßen, weil es die Arbeitsstätte nicht in Augenschein genommen oder durch Sachverständige habe begutachten lassen. Nur durch Beweiserhebung hätte aufgeklärt werden können, ob durch das Zusammenwirken von Spiegeln, Vitrinen, Uhren und Schmuck eine herausgehobene Atmosphäre und damit eine „ebenso wirksame Maßnahme” getroffen worden sei, die eine Ausnahme von dem Erfordernis der Sichtverbindung rechtfertige.

Das beklagte Land tritt der Revision entgegen.

Der Oberbundesanwalt verteidigt das angefochtene Urteil.

 

Entscheidungsgründe

II.

Der Senat kann ohne mündliche Verhandlung entscheiden, weil die Beteiligten hiermit einverstanden sind (§ 101 Abs. 2 VwGO).

Die zulässige Revision ist nicht begründet. Das Berufungsurteil beruht nicht auf einer Verletzung von Bundesrecht.

1. Die Klage ist zulässig. Namentlich besteht trotz der aufgrund der Baugenehmigung möglicherweise bestehenden inhaltsgleichen Pflicht zur Schaffung einer Sichtverbindung ein Rechtsschutzinteresse daran, sich gegen den eine ebensolche Maßnahme fordernden Verwaltungsakt der Gewerbeaufsichtsbehörde zu wenden.

2. Das Berufungsgericht hat die Klage zu Recht als unbegründet abgewiesen. Die angefochtenen Bescheide sind rechtmäßig.

a) Rechtsgrundlage der gewerberechtlichen Anordnung ist § 139 i GewO. Danach kann die zuständige Behörde im Einzelfall die erforderlichen Maßnahmen zur Durchführung der durch Rechtsverordnung nach § 139 h GewO auferlegten Pflichten anordnen.

b) Die Rechts Verordnung, deren Durchsetzung die angefochtene Verfügung dienen soll, ist die Verordnung über Arbeitsstätten (ArbeitsstättenverordnungArbStättV) vom 20. März 1975 (BGBl I S. 729), geändert durch Verordnung vom 1. August 1983 (BGBl I S. 1057). Nach § 3 Abs. 1 Nr. 1 ArbStättV hat der Arbeitgeber unter anderem die Arbeitsstätte nach der Arbeitsstättenverordnung, den sonst geltenden Arbeitsschutz- und Unfallverhütungsvorschriften und nach den allgemein anerkannten sicherheitstechnischen, arbeitsmedizinischen und hygienischen Regeln sowie den sonstigen gesicherten arbeitswissenschaftlichen Erkenntnissen einzurichten und zu betreiben. Nach § 3 Abs. 2 ArbStättV stellt der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung unter Hinzuziehung der fachlich beteiligten Kreise einschließlich der Spitzenorganisationen der Arbeitnehmer und Arbeitgeber Arbeitsstätten-Richtlinien auf und gibt diese im Benehmen mit den für den Arbeitsschutz zuständigen obersten Landesbehörden im Bundesarbeitsblatt, Fachteil Arbeitsschutz, bekannt. Die Regeln und Erkenntnisse nach Abs. 1 sind insbesondere aus diesen Arbeitsstätten-Richtlinien zu entnehmen.

Nach § 7 Abs. 1 ArbStättV müssen unter anderem Arbeitsräume grundsätzlich eine Sichtverbindung nach außen haben. Zu den Arbeitsräumen gehören auch Verkaufsräume, wie aus der Ausnahme in § 7 Abs. 1 Nr. 2 ArbStättV abzuleiten ist.

aa) § 139 h GewO und damit die Ermächtigungsgrundlage für die Arbeitsstättenverordnung ist durch das Gesetz zur Umsetzung der EG-Rahmenrichtlinie Arbeitsschutz und weiterer Arbeitsschutz-Richtlinien vom 7. August 1996 (BGBl I S. 1246) aufgehoben worden. Der Wegfall der Verordnungsermächtigung läßt die Wirksamkeit der auf ihrer Grundlage erlassenen Verordnung jedoch grundsätzlich, und so auch hier, unberührt (BVerfGE 14, 245 ≪249≫; 78, 179 ≪198≫), da nichts dafür spricht, daß die Arbeitsstättenverordnung mit der neuen Gesetzeslage unvereinbar ist oder allein keine sinnvolle Regelung darstellt (vgl. zu solchen Ausnahmen Urteil vom 6. Oktober 1989 – BVerwG 4 C 11.86 – Buchholz 406.11 § 144 BBauG Nr. 1 = NJW 1990, 849 = GewArch 1990, 35; BVerwGE 59, 195 ≪197≫). Art. 4 des Gesetzes vom 7. August 1996 mit der dadurch bewirkten Aufhebung des § 139 h GewO ist erst im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens auf Empfehlung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung eingefügt worden, da die Vorschrift überflüssig geworden sei (BTDrucks 13/4756, 13/4854). Eine vollständige Rechtsbereinigung mit dem Ziel der Ablösung der Arbeitsschutzregelungen in der Gewerbeordnung wurde nicht durchgeführt (BTDrucks 13/4854; BRDrucks 427/96). Zu der vom Bundesrat im Gesetzgebungsverfahren beantragten geringfügigen Änderung der Arbeitsstättenverordnung (BRDrucks 881/95) ist eine Prüfung in Aussicht gestellt worden (BTDrucks 13/4337, S. 14; BTDrucks 13/4854, S. 5). Sonach bestehen keine Anhaltspunkte dafür, daß die Aufhebung des § 139 h GewO Auswirkungen auf den Fortbestand der Arbeitsstättenverordnung haben sollte.

bb) Nach Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG müssen Inhalt, Zweck und Ausmaß einer Verordnungsermächtigung im Gesetz bestimmt werden. Diesen Anforderungen genügte § 139 h GewO (Urteil vom 29. April 1983 – BVerwG 1 C 167.79 – Buchholz 406.55 ArbStättV Nr. 2 = GewArch 1983, 339). Die Vorschrift bestimmte den zulässigen Regelungsgehalt einer Verordnung, nämlich Anforderungen, denen Laden-, Arbeits- und Lagerräume und deren Einrichtungen sowie die Maschinen und Gerätschaften zu genügen haben. Der Zweck der Ermächtigung ergab sich aus der Bezugnahme auf § 62 Abs. 1 HGB, dessen Durchführung die Vorschriften der Verordnung zu dienen haben. Nach § 62 Abs. 1 HGB ist der Prinzipal verpflichtet, die Geschäftsräume und die für den Geschäftsbetrieb bestimmten Vorrichtungen und Gerätschaften so einzurichten und zu unterhalten, auch den Geschäftsbetrieb und die Arbeitszeit so zu regeln, daß der Handlungsgehilfe gegen eine Gefährdung seiner Gesundheit, soweit die Natur des Betriebs es gestattet, geschützt und die Aufrechterhaltung der guten Sitten und des Anstandes gesichert ist. Soweit hier von Interesse, müssen die Anforderungen danach dem Schutz der Handlungsgehilfen gegen eine Gefährdung ihrer Gesundheit dienen. Damit ist zugleich das Ausmaß der erteilten Ermächtigung umschrieben. Die in § 62 Abs. 1 HGB verwandten Begriffe sind zwar teilweise unscharf, jedoch auslegungsfähig (vgl. zur Berücksichtigung allgemeiner Auslegungsgrundsätze bei Verordnungsermächtigungen BVerfGE 8, 274 ≪307≫; 85, 97 ≪105≫; Beschluß vom 15. Dezember 1994 – BVerwG 1 B 190.94 – Buchholz 451.41 § 18 GastG Nr. 8 = GewArch 1995, 155). Der Begriff der Gesundheit ist nicht allgemeingültig definiert. Wird jedoch berücksichtigt, daß § 62 Abs. 1 HGB die Fürsorgepflicht des Prinzipals betrifft (vgl. Baumbach/Hopt, HGB, 29. Aufl., § 62 Rn. 1; Schlegelberger/Schröder, HGB, 5. Aufl., § 62 Rn. 1), spricht nichts dafür, den Begriff eng zu verstehen. Vielmehr darf er im vorliegenden Normzusammenhang unter Berücksichtigung des Gedankens der Fürsorge jedenfalls nicht auf rein körperliche Funktionen reduziert werden. Er umfaßt auch die durch Arbeitsbedingungen beeinflußbaren psychischen Befindlichkeiten, insbesondere psychosomatische Zustände. Dies wird auch durch den Gesichtspunkt gerechtfertigt, daß nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 56, 54 ≪74≫) das in Art. 2 Abs. 2 GG genannte Rechtsgut der körperlichen Unversehrtheit solche nichtkörperlichen Einwirkungen einschließt, die ihrer Wirkung nach körperlichen Eingriffen gleichzusetzen sind; dazu gehören jedenfalls auch solche, die das Befinden einer Person in einer Weise verändern, die der Zufügung von Schmerzen entspricht. Der demgegenüber noch weitere Begriff der Gesundheit erstreckt sich danach jedenfalls im Bereich gesetzlich geregelter Fürsorge zum Schutz von Arbeitnehmern auf das psychische Wohlbefinden insoweit, als es durch die Gestaltung der Arbeitsverhältnisse und -bedingungen betroffen werden kann.

cc) Die Arbeitsstättenverordnung ist mit Zustimmung des Bundesrates als Rechtsverordnung des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung formell einwandfrei erlassen worden.

Die Forderung einer Sichtverbindung nach außen für Arbeitsräume gemäß § 7 Abs. 1 Satz 1 ArbStättV ist von der Ermächtigungsgrundlage des § 139 h Abs. 1 GewO gedeckt. Es ist nicht zu beanstanden, daß zum Zwecke der Durchführung der in § 62 Abs. 1 HGB enthaltenen Grundsätze eine solche Sichtverbindung gefordert wird. Diese dient zwar nicht der Versorgung mit Tageslicht, die bereits bauordnungsrechtlich geregelt ist (BRDrucks 684/1/74, Nr. 10). Aber auch ohne Rücksicht auf den Gesichtspunkt der Versorgung mit Tageslicht kann die Sichtverbindung nach außen entgegen der Ansicht von Landmann/Rohmer/Meyer (GewO, Bd. 2, § 7 ArbStättV Rn. 1) im Interesse der Vermeidung einer Gefährdung der Gesundheit der Arbeitnehmer durch psychische Belastungen normativ gefordert werden. Der Verordnungsgeber muß sich nicht an einem engen Verständnis des Begriffes der Gesundheit orientieren, sondern darf mangels gegenteiliger Anhaltspunkte im Gesetz seine Bestimmungen an einem Gesundheitsbegriff ausrichten, der das psychische Wohlbefinden der Arbeitnehmer einschließt. Dem entspricht im übrigen die neuere Entwicklung des Arbeitsschutzrechts. Nach § 2 Abs. 1 des Gesetzes über die Durchführung von Maßnahmen des Arbeitsschutzes zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes der Beschäftigten bei der Arbeit (ArbeitsschutzgesetzArbSchG), das als Art. 1 des bereits erwähnten Gesetzes zur Umsetzung der EG-Rahmenrichtlinie Arbeitsschutz und weiterer Arbeitsschutz-Richtlinien vom 7. August 1996 erlassen worden ist, sind Maßnahmen des Arbeitsschutzes unter anderem auch Maßnahmen zur Verhütung von arbeitsbedingten Gesundheitsgefahren einschließlich Maßnahmen der menschengerechten Gestaltung der Arbeit. Auch diese Neuregelung spricht für ein am Fürsorgegedanken ausgerichtetes weites Verständnis des Begriffes der Gesundheit. In Ansehung der dargestellten Weite der Verordnungsermächtigung und unter Berücksichtigung des Umstandes, daß der Gesetzgeber den Begriff als „rechtspolitisches Steuerungselement” (vgl. Jung, Das Recht auf Gesundheit, 1982, S. 3) verwendet, liegt die grundsätzliche Forderung einer Sichtverbindung nach außen im Rahmen der dem Verordnungsgeber erteilten Ermächtigung. Fenster haben neben ihrer Beleuchtungs- und Belüftungsfunktion mit ihrer Kontaktfunktion auch „psycho-physische” Bedeutung (vgl. OVG Münster, Urteil vom 30. Juni 1983 – OVG 11 A 2491/82 – BRS 40 Nr. 110; auch Gemeinsamer Runderlaß des Innenministers und des Ministers für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen vom 2. Oktober 1973 „Kontaktfenster für Arbeitsräume” ≪MBl NW S. 1727≫).

c) Die Arbeitsstättenverordnung trifft keine Bestimmung über das notwendige Flächenmaß der Sichtverbindung. Insoweit greift die Arbeitsstätten-Richtlinie ASR 7/1 ein, der die in der Verordnung nicht geregelten technischen Einzelheiten entnommen werden dürfen.

aa) § 7 Abs. 1 ArbStättV enthält keine abschließende Regelung, sondern ist für Ergänzungen durch die auf der Grundlage des § 3 ArbStättV erlassenen Arbeitsstätten-Richtlinien offen. Schon in der Begründung zum Entwurf der Arbeitsstättenverordnung (BRDrucks 684/74) wird erwähnt, daß die Anforderungen nach § 3 ArbStättV unter anderem dann zu gelten haben, wenn die in §§ 5 ff. ArbStättV aufgestellten Anforderungen in Form von Grundsätzen formuliert sind. So liegt es auch hier, da § 7 Abs. 1 ArbStättV nur die grundsätzliche Forderung nach einer Sichtverbindung nach außen aufstellt.

bb) § 3 Abs. 2 ArbStättV betrifft den Erlaß der Arbeitsstätten-Richtlinien. Diese gehören nicht zu dem aus Vorschriften der Gewerbeordnung, des Handelsgesetzbuches und der Arbeitsstättenverordnung bestehenden Normgefüge. Nach § 3 Abs. 2 Satz 2 ArbStättV sind aus ihnen vielmehr die allgemein anerkannten sicherheitstechnischen, arbeitsmedizinischen und hygienischen Regeln sowie gesicherten arbeitswissenschaftlichen Erkenntnisse über Arbeitsstätten im Sinne des § 3 Abs. 1 ArbStättV zu entnehmen. Sie haben damit die Funktion, diese Regeln und Erkenntnisse darzustellen und zu dokumentieren, um damit für die Arbeitgeber und die Arbeitnehmer sowie die zuständigen Behörden die sonst häufig nur unter Schwierigkeiten zu ermittelnden Regeln und Erkenntnisse greifbar zu machen. Sie bewirken allerdings nicht, daß die in ihnen aufgenommenen Regeln und Erkenntnisse als allgemein anerkannt bzw. wissenschaftlich gesichert gelten und deshalb nach § 3 Abs. 1 ArbStättV zu beachten sind. Vielmehr ist bei ihrer Anwendung stets zu fragen, ob die in einer Arbeitsstätten-Richtlinie niedergelegten Anforderungen den Regeln und Erkenntnissen im Sinne des § 3 Abs. 1 ArbStättV entsprechen. Wenn sie auch keine Rechtsnormen sind, dürfen sie gleichwohl – vergleichbar anderen Richtlinien, die sachverständige Erfahrungen zum Ausdruck bringen (vgl. z. B. BVerwGE 99, 249 ≪252≫) – als dokumentierte allgemein anerkannte Regeln oder gesicherte arbeitswissenschaftliche Erkenntnisse angesehen werden, wenn und soweit kein Anhalt für eine Fehlbeurteilung vorliegt.

cc) Das Verfahren zum Erlaß der Arbeitsstätten-Richtlinien ist in § 3 Abs. 1 Satz 1 ArbStättV geregelt. Die Ermächtigung zum Erlaß der Rechtsverordnung schließt zwar nicht ausdrücklich die Ermächtigung zur Regelung des Verfahrens zum Erlaß der Richtlinien ein. Dies war aber auch nicht erforderlich, da die Arbeitsstätten-Richtlinien, wie ausgeführt, keinen normativen Charakter haben, sondern ihre Bedeutung im Bereich des Tatsächlichen erlangen. Die Rüge der Revision, die Arbeitsstätten-Richtlinie sei verfahrensfehlerhaft zustande gekommen, geht fehl. Das folgt schon daraus, daß die Arbeitsstätten-Richtlinie ASR 7/1 im April 1976 vor Erlaß der auch das Verfahren regelnden Arbeitsstättenverordnung in Kraft getreten ist. Dies ist unbedenklich, weil eine die Anwendung eines Regelwerks erleichternde Richtlinie die Umsetzung der normativen Bestimmungen bereits von deren Inkrafttreten an ermöglichen soll. Überdies ist zu der Rüge der Revision zu bemerken, daß die Hinzuziehung der fachlich beteiligten Kreise im Sinne des § 3 Abs. 2 ArbStättV eine schwache Form der Mitwirkung ist, die nicht mit einem Benehmen, Einvernehmen oder einer Zustimmung gleichzustellen ist. Sie soll dazu dienen, der zuständigen Stelle das Fachwissen der beteiligten Kreise zugänglich zu machen. Entspricht eine solche Richtlinie ohne normative Verbindlichkeit tatsächlich dem Stand des Fachwissens, scheitert ihre Anwendbarkeit nicht schon an einer möglicherweise unvollständigen Hinzuziehung der fachlich beteiligten Kreise (vgl. auch BVerwGE 59, 48 ≪52≫).

dd) Das Maß der Sichtverbindung ergibt sich aus Nr. 2.4 der ASR 7/1. Es besteht kein Anhaltspunkt dafür, daß die daraus folgenden Anforderungen nicht als allgemein anerkannte Regel oder sonstige gesicherte arbeitswissenschaftliche Erkenntnis im Sinne des § 3 Abs. 1 ArbStättV angesehen werden könnten. Vielmehr erscheint es plausibel, daß die Kontaktfläche zur Erzielung des mit ihr verfolgten Zwecks eine bestimmte Mindestgröße aufweist, wobei sich die für den Erlaß der Richtlinie zuständige Stelle an dem bauordnungsrechtlich geregelten Maß für notwendige Fenster orientieren durfte. Insoweit sind Anhaltspunkte für eine Fehlbewertung nicht ersichtlich, insbesondere auch von dem Kläger nicht substantiiert dargelegt worden. Deshalb muß es mit der Anwendung der Richtlinie sein Bewenden haben, deren Erlaß gerade den Zweck verfolgt, Auseinandersetzungen über die Anforderungen des § 3 Abs. 1 ArbStättV zu vermeiden.

d) Die Möglichkeit einer Ausnahme oder einer Abweichung von der danach zu fordernden Sichtverbindung hat das Berufungsgericht zu Recht verneint.

aa) Eine Ausnahme nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 bis 3 ArbStättV kommt nicht in Betracht, weil die dafür bestehenden Voraussetzungen nicht vorliegen. Insbesondere ist nicht erkennbar, daß betriebstechnische Gründe im Sinne der Nr. 1 eine Sichtverbindung nicht zulassen.

bb) Eine Ausnahme unter dem Gesichtspunkt, daß die ASR 7/1 in ihrer Nr. 2.4 als „Soll-Bestimmung” konzipiert ist, kommt ebenfalls nicht in Betracht. Bei Anwendung der Soll-Bestimmung muß das „bautechnisch Mögliche” im Sinne der Nr. 2.4 Abs. 1 Satz 1 ASR 7/1 leitend sein. Daß die Herstellung einer Sichtverbindung bautechnisch nicht möglich ist, ist nicht erkennbar, insbesondere nicht vom Berufungsgericht festgestellt. Es fehlt deshalb an der für eine Abweichung vom Regelfall erforderlichen atypischen Situation. Eine solche liegt namentlich nicht in der vom Kläger angeführten herausgehobenen Ausgestaltung der Geschäftsräume. Ob der „Soll-Charakter” der Richtlinie überhaupt eine Unterschreitung des erforderlichen Flächenmaßes um mehr als 50 v.H. zulassen könnte, kann daher auf sich beruhen.

cc) Eine Ausnahme nach § 4 Abs. 1 ArbStättV setzte in Ermangelung von Anhaltspunkten für eine unverhältnismäßige Härte jedenfalls ebenso wie eine Abweichung nach § 4 Abs. 2 ArbStättV voraus, daß der Arbeitgeber eine andere, ebenso wirksame Maßnahme trifft (§ 4 Abs. 1 Nr. 1, § 4 Abs. 2 ArbStättV). Das mit der Arbeitsstättenverordnung und der Arbeitsstätten-Richtlinie verfolgte Ziel müßte also auf eine andere Weise als durch eine von innen nach außen durchsichtige Fläche von weiteren 4,10 qm erreicht sein, ohne daß die Wirksamkeit des Arbeitsschutzes verringert wäre. Der Senat teilt die Auffassung des Verwaltungsgerichtshofs, daß die herausgehobene Atmosphäre der Geschäftsräume des Klägers keinen Ausgleich für die fehlende Sichtverbindung darstellen kann. Dies hat das Berufungsgericht im einzelnen ausgeführt. Der Senat nimmt hierauf Bezug.

3. Die Verfahrensrügen sind unbegründet.

a) Nach der in diesem Zusammenhang allein maßgeblichen materiellrechtlichen Auffassung des Berufungsgerichts war die Einnahme des Augenscheines nicht erforderlich. Für das Vorliegen einer „ebenso wirksamen Maßnahme” im Sinne des § 4 Abs. 1 und 2 ArbStättV kam es nach der Ansicht des Berufungsgerichts, die der Senat teilt, nicht auf die herausgehobene Atmosphäre an. Dazu brauchte deshalb der Augenschein nicht eingenommen zu werden.

b) Auch die Rüge, der Verwaltungsgerichtshof habe zu Unrecht eine Begutachtung durch Sachverständige unterlassen, geht fehl. Der Beklagte hat die in der Revisionsbegründung angeführten Sachverständigen dazu benannt, daß die Arbeitsstätten-Richtlinie ASR 7/1 mit § 62 HGB vereinbar sei. Das ist eine Rechtsfrage, zu der Beweis durch Sachverständige nicht zu erheben war. Daß dem Berufungsgericht zu Fragen tatsächlicher Art die erforderliche Sachkunde gefehlt hätte, legt die Revision nicht entsprechend § 139 Abs. 3 Satz 4 VwGO dar.

4. Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.

 

Unterschriften

Meyer, Gielen, Mallmann, Hahn, Groepper

 

Fundstellen

Haufe-Index 543763

AP, 0

DÖV 1997, 739

DVBl. 1997, 965

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