Leitsatz (amtlich)

Wäre ohne Überzahlung eine andere Leistung aus öffentlichen Mitteln in etwa gleicher Höhe in Anspruch genommen worden, so muß der Versicherungsträger bei der Ermessensprüfung, ob er eine Rückforderung geltend macht (AVG § 80 S 1 = RVO § 1301 S 1), berücksichtigen, daß bei einer Rückforderung dem Empfänger eine Verbesserung seiner Einkommensverhältnisse versagt bliebe, die ihm vom Gesetzgeber, wenn auch in anderer Form und zu Lasten eines anderen Leistungsträgers, zugedacht ist.

 

Normenkette

AVG § 80 Fassung: 1965-06-09; RVO § 1301 Fassung: 1965-06-09; SGB 1 § 2 Fassung: 1975-12-11; BAföG

 

Verfahrensgang

LSG Hamburg (Entscheidung vom 07.06.1978; Aktenzeichen III ANBf 60/77)

SG Hamburg (Entscheidung vom 17.10.1977; Aktenzeichen 8 An 821/76)

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 7. Juni 1978 aufgehoben. Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

I.

Streitig ist die Rückforderung von 5.853,-- DM.

Die Beklagte gewährte dem Kläger Waisenrente für die Zeit ab Beginn seines Studiums im September 1969. Der Kläger vollendete im Januar 1972 sein 25. Lebensjahr, so daß der Rentenanspruch unter Berücksichtigung des 18monatigen Wehrdienstes Ende Juli 1973 entfiel. Gleichwohl zahlte die Beklagte die Waisenrente weiter, bis der Kläger im Februar 1976 das Ende seines Studiums anzeigte.

Daraufhin stellte die Beklagte im angefochtenen Bescheid fest, daß der Anspruch auf Waisenrente Ende Juli 1973 weggefallen sei - insoweit ist der Bescheid nunmehr bindend -, und daß der Beklagten dem Grunde nach ein Anspruch auf Rückzahlung der für die Zeit vom 1. August 1973 bis zum 29. Februar 1976 in Höhe von 5.853,-- DM überzahlten Waisenrente zustehe; da der Kläger z Zt lediglich Arbeitslosenhilfe (Alhi) beziehe, werde davon abgesehen, über die Feststellung der Erstattungspflicht hinaus den Überzahlungsbetrag sofort zurückzufordern (Bescheid vom 20. Juni 1976, Widerspruchsbescheid vom 4. November 1976).

Der Klage auf Aufhebung des die Erstattungspflicht feststellenden Bescheides hat das Sozialgericht (SG) stattgegeben (Urteil vom 17. Oktober 1977); das Landessozialgericht (LSG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 7. August 1978). Das LSG meint, den Versicherungsträger treffe zwar ein "Internes Verschulden in der verwaltungsmäßigen Handhabung", nicht aber ein Verschulden iS des § 80 Satz 2 Angestelltenversicherungsgesetz (AVG). Denn ein Verschulden im Sinne dieser Vorschrift setze voraus, daß durch das Verhalten des Versicherungsträgers bei dem Versicherten schuldhaft ein Vertrauenstatbestand geschaffen worden sei. Der Kläger habe aber einem Schreiben der Beklagten von September 1971 unschwer entnehmen können, daß ihm ab August 1973 keine Waisenrente mehr zustand. Auf die wirtschaftlichen Verhältnisse komme es nicht an, da die Beklagte deren Prüfung zulässigerweise zurückgestellt habe. Auch wenn der Beklagten ein Verschulden anzulasten wäre, sei die Rückforderung aufgrund der vorliegenden groben Fahrlässigkeit des Klägers gerechtfertigt.

Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt der Kläger Verletzung des § 80 AVG. Bei dem festgestellten Sachverhalt habe die Beklagte die Überzahlung verschuldet. Den Kläger treffe keine grobe Fahrlässigkeit. Die Weitergewährung der Waisenrente habe sich zwanglos durch eine Rechtsänderung, zB das Rentenreformgesetz 1972 (RRG), erklären lassen. Auch habe das LSG den Einwand des Klägers unerörtert gelassen, daß seine Mutter für ihn Leistungen bis zur Vollendung seines 27. Lebensjahres zuzüglich der Wehrdienstzeit erhalten habe.

Der Kläger beantragt,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 17. Oktober 1977 zurückzuweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision des Klägers zurückzuweisen.

Sie hält das Urteil in allen Punkten für zutreffend.

II.

Die Revision ist im Sinne einer Aufhebung des angefochtenen Urteils und einer Zurückverweisung der Sache an die Vorinstanz begründet. Das LSG hat zwar zutreffend angenommen, daß die Rückforderung nicht nach § 80 Satz 2 AVG idF des Rentenversicherungs-Änderungsgesetzes (RVÄndG) vom 9. Juni 1965 ausgeschlossen sei; die Feststellungen des LSG reichen jedoch nicht für die Beurteilung aus, ob die Beklagte das ihr in Satz 1 vorgenannter Vorschrift eingeräumte Ermessen fehlerfrei ausgeübt hat.

1) Nach Satz 2 der Vorschrift darf ein Versicherungsträger Leistungen nur zurückfordern, wenn ihn (1.) kein Verschulden an der Überzahlung trifft und (2.) nur, soweit der Leistungsempfänger bei Empfang wußte oder wissen mußte, daß ihm die Leistungen nicht oder nicht in der gewährten Höhe zustanden, und (3.) soweit die Rückforderung wegen der wirtschaftlichen Verhältnisse des Empfängers vertretbar ist.

Zur ersten Voraussetzung meint das LSG zu Unrecht, Verschulden iS dieser Vorschrift sei nur die Schaffung eines Vertrauenstatbestandes. Das Gesetz spricht, von einem Verschulden "an der Überzahlung" und nicht von einem "Vertrauenstatbestand". Erst die zweite Voraussetzung (die Kenntnis oder fahrlässige Unkenntnis des Empfängers von der Rechtswidrigkeit der Leistung) umfaßt die Frage, ob der Versicherungsträger einen Vertrauenstatbestand geschaffen hat. Es spricht nichts dafür, daß der Gesetzgeber auch bei der ersten Voraussetzung auf die Schaffung eines Vertrauenstatbestandes abstellen wollte.

Vielmehr ist bei Prüfung der ersten Voraussetzung der im Sozialrecht gebräuchliche Fahrlässigkeitsbegriff zugrunde zu legen (vgl BSG SozR 2200 § 1301 Nr 3; BSGE 23, 259). Ist eine Überzahlung darauf zurückzuführen, daß der zuständige Sachbearbeiter Dauer und Wegfall der Rente nicht überwacht hat, so fällt dem Versicherungsträger Fahrlässigkeit zur Last (BSG Urteil vom 31. Oktober 1978 - 4 RJ 115/77 -). Aufgrund der vom LSG zum "internen Verschulden in der verwaltungsmäßigen Handhabung" getroffenen Feststellungen muß daher ein Verschulden der Beklagten an der Überzahlung bejaht werden.

2) Bei Fahrlässigkeit des Versicherungsträgers ist eine Rückforderung jedoch nicht schlechthin ausgeschlossen, wie das LSG in der Hilfsbegründung zutreffend ausgeführt hat. Es entspricht gefestigter Rechtsprechung, daß § 80 Satz 2 AVG auch bei leichter Fahrlässigkeit des Versicherungsträgers die Rückforderung jedenfalls dann nicht ausschließt, wenn, dem Empfänger Vorsatz oder grobe Fahrlässigkeit anzulasten ist (BSG Urteil vom 31. Oktober 1978 - 4 RJ 115/77 - mwN).

Das LSG hat zum Verschulden des Klägers festgestellt, dieser habe aufgrund des Schreibens der Beklagten vom September 1971 gewußt, daß er ab August 1973 nicht mehr waisenrentenberechtigt sei. Bei dieser Sachlage hat das LSG die weitere Annahme der Waisenrente ohne Rückfrage zutreffend - wie zuvor schon das SG - als fahrlässig angesehen. Der Kläger wendet zu Unrecht ein, der Versicherte sei nicht Kontrolleur der Verwaltung. Ist einem Versicherten der Wegfall einer Leistung zu einem bestimmten Termin aufgrund vorangegangener Belehrung ohne weiteres erkennbar, so muß er bei Weiterzahlung auch ohne oder bei erfüllter Anzeigepflicht den Versicherungsträger hierauf hinweisen.

Soweit das LSG diese Fahrlässigkeit - anders als das SG - als grob gewertet hat, ist das angefochtene Urteil im Revisionsverfahren nur beschränkt nachprüfbar (vgl hierzu BSG Urteil vom 28. November 1978 - 4 RJ 130/77 - mwN) und läßt insoweit Rechtsfehler nicht erkennen.

Das LSG hat insbesondere den Unterschied zwischen leichter und grober Fahrlässigkeit nicht verkannt, wie schon sein Hinweis auf die einschlägige Entscheidung des BSG (BSGE 35, 108, 112) zeigt. Es hat bei der Beurteilung des Verschuldens weder gegen Rechtsvorschriften, noch gegen allgemein anerkannte Bewertungsmaßstäbe, noch gegen Denkgesetze verstoßen. Die Möglichkeit einer zwischenzeitlichen Gesetzesänderung ist in der Abwägung ausdrücklich genannt. Die Weiterzahlung des Kinderzuschlages wird im Tatbestand mitgeteilt. Im übrigen hat der Kläger auch nicht geltend gemacht, daß er sich wegen des Kinderzuschlags in einem Rechtsirrtum befunden habe; er hat vielmehr einen solchen Rechtsirrtum nur als möglich bezeichnet. Nach seiner Einlassung vor dem SG war er sich bei Wegfall des Anspruchs der im September 1971 erhaltenen Belehrung nicht mehr bewußt und hat deshalb keine weiteren Überlegungen angestellt. Wenn das LSG dies als grob fahrlässig ansah, so ist diese Schlußfolgerung jedenfalls nicht "handgreiflich falsch".

Soweit der Kläger mit der Revision erstmalig geltend macht, die Beklagte habe auch nach August 1973 noch Lebensbescheinigungen eingefordert, kann er damit in der Revisionsinstanz nicht gehört werden.

3) Da die Beklagte im angefochtenen Bescheid von der Einziehung der Rückforderung abgesehen hat, hat das LSG die wirtschaftlichen Verhältnisse zu Recht ungeprüft gelassen (vgl BSG SozR Nr 2200 § 1301 Nr 1).

Die Rückforderung war somit nicht nach § 80 Satz 2 AVG ausgeschlossen, sondern stand nach Satz 1 der Vorschrift im Ermessen der Beklagten.

4) Das angefochtene Urteil läßt jedoch nicht erkennen, ob die Beklagte ihr Ermessen fehlerfrei ausgeübt hat. Es ist nicht ersichtlich, ob die Beklagte genügend Raum für Fälle läßt, in denen Sinn und Zweck der Ermächtigung es nahe legen, von der Rückforderung abzusehen, und ob die Beklagte alle für die Ermessensausübung bedeutsamen Umstände berücksichtigt hat (vgl Urteil des erkennenden Senats vom 31. Januar 1979 - 11 RA 30/78 -). Der Kläger hat geltend gemacht, bei rechtzeitiger Einstellung der Waisenrente würde er in nahezu gleicher Höhe Leistungen nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG) erhalten haben. Sollte das zutreffen, so könnte bereits das allein die Rückforderung als ermessensfehlerhaft erscheinen lassen. Wäre ohne Überzahlung eine andere Leistung aus öffentlichen Mitteln etwa in gleicher Höhe in Anspruch genommen worden, die nunmehr wegen Versäumung der Antragsfrist nicht mehr in Anspruch genommen werden kann, so hätte eine Rückforderung zur Folge, daß dem Empfänger eine Verbesserung seiner Einkommensverhältnisse versagt bleibt, die ihm vom Gesetzgeber, wenn auch in anderer Form und zu Lasten eines anderen Leistungsträgers, zugedacht ist. Dies zu bedenken, ist die Beklagte schon nach dem Grundgedanken des § 2 Abs 2 Sozialgesetzbuch 1 gehalten.

Das LSG wird hierzu und zu sonstigen von der Beklagten berücksichtigten Ermessensgründen - auch soweit diese zulässigerweise nachgeschoben werden (vgl hierzu Urteil des Senats vom 15. März 1979 - 11 RA 34/78 -) - Feststellungen zu treffen haben.

Die Kostenentscheidung bleibt dem LSG vorbehalten.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1655030

BSGE, 190

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