Entscheidungsstichwort (Thema)

Arbeitsunfall. arbeitnehmerähnliche Tätigkeit. Gefälligkeitshandlungen. Verwandte. familiäre Prägung. Versicherungsschutz. Umstände des Einzelfalls

 

Orientierungssatz

1. Eine arbeitnehmerähnliche Tätigkeit ist nach der gefestigten Rechtsprechung des BSG gegeben, wenn eine ernstliche, dem anderen Unternehmen dienende Tätigkeit verrichtet wird, die dem wirklichen oder mutmaßlichen Willen des Unternehmers entspricht und ihrer Art nach auch von Personen verrichtet werden kann, die in einem dem allgemeinen Arbeitsmarkt zuzurechnenden Beschäftigungsverhältnis stehen; sie muß ferner unter solchen Umständen geleistet werden, daß sie einer Tätigkeit aufgrund eines Beschäftigungsverhältnisses ähnlich ist (vgl BSG vom 20.1.1987 2 RU 15/86 = SozR 2200 § 539 Nr 119).

2. Bei Gefälligkeitshandlungen, die unter Verwandten vorgenommen werden und von familiären Beziehungen zwischen Angehörigen geprägt sind, besteht kein Versicherungsschutz, wenn es sich lediglich um Gefälligkeitsdienste handelt, die ihr gesamtes Gepräge von den familiären Bindungen zwischen Angehörigen erhalten. Je enger eine Gemeinschaft ist, um so größer wird der Rahmen sein, innerhalb dessen bestimmte Tätigkeiten ihr Gepräge daraus erhalten (vgl BSG vom 26.10.1978 8 RU 14/78 = SozR 2200 § 539 Nr 49). Dabei sind die gesamten Umstände des jeweiligen Einzelfalles zu beachten, insbesondere Art, Umfang und Zeitdauer der verrichteten Tätigkeiten sowie die Stärke der tatsächlichen verwandtschaftlichen Beziehungen (vgl BSG vom 1.2.1979 2 RU 65/78 = SozR 2200 § 539 Nr 55).

 

Normenkette

RVO § 539 Abs 2

 

Verfahrensgang

LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 05.11.1987; Aktenzeichen L 10 U 2834/86)

SG Ulm (Entscheidung vom 14.11.1986; Aktenzeichen S 1 U 1145/86)

 

Tatbestand

Streitig ist, ob die Beklagte den Kläger wegen der Folgen des am 9. September 1985 erlittenen Unfalls zu entschädigen hat.

Der 1966 geborene Kläger war in den Jahren 1981 bis 1984 als Ferienaushilfe im Betrieb seines Vaters (E.   S.    , Metallwarenfabrik) gegen Entgelt nur noch gelegentlich und ohne Entlohnung im Betrieb seines Vaters aus; er wohnte weiterhin im Haushalt seiner Eltern. Am Abend des 9. Septembers 1985 führte der damals 19-jährige Kläger im väterlichen Betrieb eine Reparatur an der Exzenterpresse durch. Beim Ausprobieren geriet er mit beiden Händen in die Presse und zog sich hierbei schwere Amputations- und Quetschverletzungen an den Zeige-, Mittel- und Ringfingern zu. Sein Vater gab gegenüber der Beklagten zunächst an, es sei nicht genau feststellbar, an welchen Tagen ihm der Kläger im Jahre 1985 stundenweise zur Hand gegangen sei. Sein Sohn habe je nach Bedarf in ganz geringem Umfang mitgeholfen. In ergänzenden Schreiben teilte er mit, es habe sich um Gefälligkeitsleistungen gehandelt, die wöchentlich sieben bis acht Stunden umfaßt hätten, allerdings unregelmäßig. Ein Entgelt habe sein Sohn nicht erhalten, er habe ihm lediglich einen gebrauchten Pkw bezahlt.

Mit Bescheid vom 26. Juni 1986 lehnte es die Beklagte ab, den Kläger wegen der Unfallfolgen zu entschädigen. Der Kläger habe zu seinem Vater in keinem Arbeits-, Dienst- oder Lehrverhältnis gestanden (§ 539 Abs 1 Nr 1 der Reichsversicherungsordnung -RVO-). Auch die Voraussetzungen des § 539 Abs 2 RVO seien nicht erfüllt, da die unfallbringende Tätigkeit durch das familiäre Gemeinschaftsverhältnis geprägt und somit nicht arbeitnehmerähnlich gewesen sei.

Das Sozialgericht (SG) Ulm hat diesen Bescheid aufgehoben und die Beklagte verurteilt, den Kläger für die Folgen des Arbeitsunfalls vom 9. September 1985 zu entschädigen. Das Vater-Sohn-Verhältnis könne den Unfallversicherungsschutz im vorliegenden Fall nicht ausschließen, weil es sich um eine qualifizierte Mitarbeit gehandelt habe, die in erster Linie dem Unternehmen zugute gekommen sei (Urteil vom 14. November 1986). Das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg hat die Berufung der Beklagten mit Urteil vom 5. November 1987 zurückgewiesen und zur Begründung ausgeführt, die unfallbringende Tätigkeit des Klägers sei als arbeitnehmerähnliche zu qualifizieren und habe ihr Gepräge nicht wesentlich durch die Vater-Sohn-Beziehung erhalten. Hierfür spreche entscheidend der Umfang, aber auch die besondere Fachkenntnisse erfordernde Qualität der Hilfeleistung. Der Kläger sei gemäß § 1619 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) zwar zur familiären Mithilfe verpflichtet gewesen, doch komme dieser Verpflichtung im Hinblick auf die Bedeutung, welche den vom Kläger im Betrieb des Vaters verrichteten Maschinenreparaturen und Wartungsarbeiten, für die sonst ein anderer Arbeitnehmer hätte beauftragt werden müssen, keine entscheidende Bedeutung zu. Nicht entscheidend sei, ob der Kläger nach Aufnahme seines Ausbildungsverhältnisses noch durchschnittlich sieben bis acht Stunden in der Woche mitgearbeitet habe, oder ob dieser Wert zu hoch angesetzt sei. Die Ansicht der Beklagten, in einem familiären Gemeinschaftsverhältnis übernähmen die einzelnen Mitglieder dieser Gemeinschaft mehr oder weniger selbstverständlich die ihren Kenntnissen und Fähigkeiten entsprechenden Aufgaben, führe zu dem der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) widersprechenden Ergebnis, daß Arbeitsleistungen von Verwandten ohne Rücksicht auf Art, Umfang und Zeitdauer der verrichteten Tätigkeit generell aus dem Schutzbereich des § 539 Abs 2 RVO herausfielen.

Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des § 539 Abs 2 RVO, da das LSG die rechtliche Bedeutung der familiär geprägten Gefälligkeitshandlung verkannt habe. Dies ergäbe sich insbesondere aus den Urteilen des BSG vom 30. Januar 1985 (SozR 2200 § 539 Nr 108) und vom 30. Juli 1987 (- 2 RU 17/86 -), in denen das familiäre Gepräge von Gefälligkeitshandlungen zum Ausschluß des Versicherungsschutzes geführt habe, ob wohl es sich um qualifizierte Tätigkeiten von nicht unerheblichem Umfang gehandelt habe. Zudem verstoße das Urteil des LSG gegen die §§ 103, 106 und 128 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG), da das LSG die Umstände der unfallbringenden Tätigkeit näher hätte aufklären müssen. Hierzu hätte es im Hinblick auf die unklaren und teilweise widersprüchlichen Angaben des Vaters im Verwaltungsverfahren Veranlassung gehabt. Dabei hätte sich schon nach dem Akteninhalt herausgestellt, daß die vom Kläger verrichtete Reparaturarbeit tatsächlich nur einen ganz geringfügigen zeitlichen Umfang gehabt habe (es habe lediglich ein Schlauchstück abgedichtet werden sollen, was ein ausgebildeter Arbeitnehmer mit wenigen Handgriffen erledigt hätte). Auch hätte das LSG unter Beachtung seiner Sachaufklärungspflicht klären müssen, welchen Umfang die übrigen Tätigkeiten des Klägers im Jahre 1985 gehabt haben. Eine ausreichende Beweisaufnahme hätte ergeben, daß es sich nur um spontane, ganz geringfügige Gefälligkeitsleitungen im väterlichen Betrieb gehandelt habe, die aus der familiären Beziehung heraus geprägt gewesen seien.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 5. November 1987 sowie das Urteil des Sozialgerichts Ulm vom 14. November 1986 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision der Beklagten zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten hat insofern Erfolg, als das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist. Für eine Entscheidung über den Entschädigungsanspruch des Klägers hat das LSG keine ausreichenden Tatsachen festgestellt.

Nach § 548 Abs 1 RVO ist Arbeitsunfall ein Unfall, den ein Versicherter bei einer der in den §§ 539, 540 und 543 bis 545 RVO genannten Tätigkeiten erleidet. Da im vorliegenden Fall keine Anhaltspunkte für das Bestehen eines abhängigen Beschäftigungsverhältnisses iS von § 539 Abs 1 Nr 1 RVO gegeben sind, konnte - wie das LSG zutreffend erkannt hat - ein Arbeitsunfall nur vorgelegen haben, wenn der Kläger wie ein nach Abs 1 Nr 1 Versicherter tätig geworden ist (§ 539 Abs 2 RVO). Ob die Voraussetzungen dieser Vorschrift jedoch gegeben sind, läßt sich nach den bisher getroffenen Feststellungen des LSG nicht sagen.

Eine arbeitnehmerähnliche Tätigkeit ist nach der gefestigten Rechtsprechung des BSG gegeben, wenn eine ernstliche, dem anderen Unternehmen dienende Tätigkeit verrichtet wird, die dem wirklichen oder mutmaßlichen Willen des Unternehmers entspricht und ihrer Art nach auch von Personen verrichtet werden kann, die in einem dem allgemeinen Arbeitsmarkt zuzurechnenden Beschäftigungsverhältnis stehen; sie muß ferner unter solchen Umständen geleistet werden, daß sie einer Tätigkeit aufgrund eines Beschäftigungsverhältnisses ähnlich ist (vgl BSGE 5, 168, 174; 31, 275, 277; BSG SozR 2200 § 539 Nr 119; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 10. Aufl, S 476 c mwN). Insoweit hat das LSG zutreffend ausgeführt, daß der Kläger eine dem Unternehmen seines Vaters zu dienen bestimmte und auch dem erklärten Willen seines Vaters entsprechende arbeitnehmerähnliche Tätigkeit verrichtet hat. Der Versicherungsschutz des Klägers ist auch nicht - wovon das LSG ebenfalls mit Recht ausgegangen ist - allein deshalb ausgeschlossen, weil der Kläger seinem Vater geholfen hat. Der Senat hat in ständiger Rechtsprechung entschieden, daß bei Tätigkeiten, die denen aufgrund eines Beschäftigungsverhältnisses ähnlich sind, der Versicherungsschutz ebensowenig wie im Rahmen eines Beschäftigungsverhältnisses deshalb ausgeschlossen ist, weil der Tätigwerdende ein Verwandter des Unternehmers ist (BSG SozR 2200 § 539 Nrn 32, 33, 43, 49, 55, 108; BSG Urteil vom 30. Juli 1987 - 2 RU 17/86 -, HV-INFO 1987, 1636). Danach steht dem Versicherungsschutz insbesondere nicht entgegen, daß unter Verwandten die Bereitschaft zu Freundschafts- und Gefälligkeitsleistungen größer ist und deshalb die Tätigkeit, die sonst aufgrund eines Beschäftigungsverhältnisses oder jedenfalls gegen Entgelt verrichtet wird, hier als Freundschafts- oder Gefälligkeitsdienst erbracht wird.

Der Senat hat in den zitierten Urteilen aber auch stets betont, daß bei Gefälligkeitshandlungen, die unter Verwandten vorgenommen werden und von familiären Beziehungen zwischen Angehörigen geprägt sind, ebensowenig Versicherungsschutz besteht wie beispielsweise bei Verrichtungen aufgrund mitgliedschaftlicher, gesellschaftlicher oder körperschaftlicher Verpflichtung (vgl insbesondere BSG SozR 2200 § 539 Nrn 43, 55, 108; Brackmann aaO S 475 v). Diese Voraussetzung ist bei Verwandten erfüllt, wenn es sich lediglich um Gefälligkeitsdienste handelt, die ihr gesamtes Gepräge von den familiären Bindungen zwischen Angehörigen erhalten. Je enger eine Gemeinschaft ist, um so größer wird der Rahmen sein, innerhalb dessen bestimmte Tätigkeiten ihr Gepräge daraus erhalten (BSG aaO Nr 49). Dabei sind die gesamten Umstände des jeweiligen Einzelfalles zu beachten, insbesondere Art, Umfang und Zeitdauer der verrichteten Tätigkeiten sowie die Stärke der tatsächlichen verwandtschaftlichen Beziehungen (BSG aaO Nr 55). So hat der Senat in seinem insoweit jüngsten zu § 539 Abs 2 RVO ergangenen Urteil vom 30. Juli 1987 (HV-INFO 1987, 1636) die Hilfe beim Holzfällen und Brennholzzubereiten von 3 1/2 bis 4 Tagen im Jahr nach Art umd Umfang noch als eine von dem Verwandtschaftsverhältnis unter Brüdern geprägte Tätigkeit angesehen, obwohl der Hilfeleistende nicht im Haushalt seines Bruders lebte.

Ausgehend von dieser Rechtsprechung hätte das LSG die näheren Umstände der zum Unfall führenden Tätigkeit eingehend prüfen müssen. Zu Recht rügt die Revision insoweit, daß sich das LSG in erster Linie auf den "Umfang" der Arbeitsleistung gestützt hat, ohne jedoch der Frage nachzugehen, welchen Umfang die gelegentlichen Reparatur- und Wartungsarbeiten sowie die Reparatur am 9. September 1985 tatsächlich hatte. So erscheint es schon im Hinblick auf den Inhalt der Unfallakten der Beklagten, auf welchen sich das LSG in erster Linie bezieht, zweifelhaft, ob es sich bei der Reparatur der Exzenterpresse um eine umfangreiche, technisch anspruchsvolle Arbeitsleistung gehandelt hat. Denn es sollten lediglich Schlauchverbindungen an der beweglichen Abschirmung abgedichtet werden; zudem ereignete sich der Unfall bereits ca 25 Minuten nach Arbeitsbeginn beim Ausprobieren der Presse (vgl Bl 1, 2, 58, 71 der Unfallakte). Vor allem aber hätte das LSG nicht offenlassen dürfen, wie häufig und mit welchem Zeitaufwand der Kläger seit Beginn seiner Lehrlingsausbildung noch im väterlichen Betrieb ausgeholfen hatte. Angesichts der widersprüchlichen Angaben des Vaters, der die Frage Nr 5 des Fragenkatalogs - ganz geringfügige, spontane Aushilfe? - zunächst bejahte, die Frage nach dem übrigen Arbeitseinsatz - wieviel Stunden wöchentlich/monatlich? - nicht beantworten konnte, schließlich aber - nach Erhalt eines Aufklärungsschreiben der Beklagten - sieben bis acht Stunden wöchentlich angab, hätte sich das LSG vielmehr gedrängt fühlen müssen, den Umfang der Gefälligkeitsleistungen aufzuklären. Hierzu hätte es sich angeboten, den Kläger selbst zu hören und dessen Vater als Zeugen anzuhören. Für eine weitere Aufklärung des Sachverhalts bestand um so mehr Veranlassung, als der Kläger zum Unfallzeitpunkt erst 19 Jahre alt war und noch im Haushalt seiner Eltern lebte, also eine besonders enge familiäre Bindung bestand.

Nach Zurückverweisung der Sache wird das LSG die notwendigen Feststellungen nachzuholen haben. Es hat auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1666624

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