Leitsatz (amtlich)

1. Es gibt keine allgemeine Auslegungsregel, nach der ein Antrag auf Nachentrichtung freiwilliger Beiträge nach AnVNG Art 2 § 49a (= ArVNG Art 2 § 51a) im Zweifel zugleich als Nachentrichtungsantrag nach WGSVG § 10a anzusehen ist.

2. Zur Unterscheidung von tatsächlichen Feststellungen über Wortlaut und Inhalt einer Erklärung und ihrer auch vom Revisionsgericht nachprüfbaren - rechtlichen Würdigung.

 

Orientierungssatz

Nachentrichtungsantrag als gestaltende Willenserklärung - Anforderungen an ihre Eindeutigkeit - Berücksichtigung von Begleitumständen der Erklärung - Revisibilität einer Auslegungsregel Meistbegünstigungsgrundsatz bei Auslegung von Anträgen

 

Normenkette

AnVNG Art 2 § 49a Fassung: 1972-10-16; ArVNG Art 2 § 51a Fassung: 1972-10-16; WGSVG § 10a Fassung: 1975-04-28; BGB § 133 Fassung: 1896-06-18; SGG § 163 Fassung: 1953-09-03

 

Verfahrensgang

LSG Berlin (Entscheidung vom 14.12.1978; Aktenzeichen L 10 An 32/78)

SG Berlin (Entscheidung vom 27.06.1978; Aktenzeichen S 9 An 2156/77)

 

Tatbestand

I

Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger die Nachentrichtung von Beiträgen nach § 10a des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG) vom 22. Dezember 1970 (BGBl I 1846) idF des 18. Rentenanpassungsgesetzes vom 28. April 1975 (BGBl I 1018, berichtigt 1778) fristgerecht beantragt hat.

Der 1920 geborene Kläger hat Deutschland 1933 verlassen und ist jetzt israelischer Staatsangehöriger. Er ist rassisch Verfolgter und hat einen Ausbildungsschaden iSd § 116 des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG) erlitten.

Mit einem (am gleichen Tage bei der Beklagten eingegangenen) Schreiben vom 28. Dezember 1975 erklärte seine in B wohnhafte Schwester, sie stelle im Auftrag ihres in Israel lebenden Bruders "Antrag auf Nachentrichtung freiwilliger Beiträge nach Artikel 2, § 49a des AnVNG". Dieses Schreiben ist - auf bisher nicht geklärte Weise - wieder in die Hand des Klägers oder seines späteren Verfahrensbevollmächtigten gelangt und von diesem mit Schreiben vom 21. Oktober 1976 der Beklagten erneut eingereicht worden. In diesem Schreiben hat der Kläger sich bereit erklärt, 60 Beiträge der Klasse 100 für die Zeit von Januar 1969 bis Dezember 1973 nach Artikel 2 § 49a Abs 2 des Angestelltenversicherungs- Neuregelungsgesetzes (AnVNG) nachzuentrichten; außerdem hat er sich bereit erklärt, nach § 10a Abs 2 WGSVG 113 Beiträge der Klasse 600 für die Zeit von Januar 1936 bis Mai 1945 nachzuentrichten. Bisher hat der Kläger nur die vorgenannten 60 Monatsbeiträge gemäß Artikel 2 § 49a AnVNG nachentrichtet. Die Nachentrichtung von Beiträgen nach § 10a WGSVG lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 27 Mai 1977 und Widerspruchsbescheid vom 14. September 1977 mit der Begründung ab, der am 28. Dezember 1975 gestellte Antrag sei nur auf die Nachentrichtung von Beiträgen nach Artikel 2 § 49a AnVNG gerichtet gewesen; die Nachentrichtung gemäß § 10a WGSVG sei erstmals am 21. Oktober 1976 und damit verspätet beantragt worden.

Das Sozialgericht (SG) hat mit Urteil vom 27. Juni 1978 die Beklagte unter Aufhebung der angefochtenen Bescheide verpflichtet, die beantragte Beitragsnachentrichtung nach § 10a WGSVG zuzulassen. Die Berufung der Beklagten ist ohne Erfolg geblieben; das Landessozialgericht (LSG) hat zur Begründung seines Urteils vom 14. Dezember 1978 ausgeführt, es sei zu unterstellen, daß ein Antragsteller, sofern er keinen gegenteiligen Willen zum Ausdruck gebracht habe, zur Beitragsnachentrichtung nach allen in Betracht kommenden Vorschriften, für die die Ausschlußfrist galt und deren Sachvoraussetzungen er erfüllte, habe zugelassen werden wollen. Im Falle des Klägers könne die ausschließliche Bezeichnung der Vorschrift des Artikels 2 § 49a AnVNG in der Antragsschrift vom 28. Dezember 1975 nicht ohne weiteres als Beschränkung des Antrages auf die in dieser Vorschrift geregelte Nachentrichtung gewertet werden; vielmehr sei der Antrag dahin zu verstehen, daß eine Nachentrichtung "im Sinne der Kombination Artikel 2 § 49a Abs 2 AnVNG / § 10a Abs 2 WGSVG als günstigste" gewollt gewesen und der rechtsunkundigen Schwester des Klägers nur die Fassung dieses Antrages "verunglückt" sei.

Hiergegen richtet sich die - vom LSG zugelassene - Revision der Beklagten. Ihrer Ansicht nach kann hier in der zu Artikel 2 § 49a AnVNG abgegebenen Bereiterklärung vom 28. Dezember 1975 nicht auch eine Bereiterklärung zur Nachentrichtung gemäß § 10a WGSVG gesehen werden.

Die Beklagte beantragt, das Urteil des LSG Berlin vom 14. Dezember 1978 und das Urteil des SG Berlin vom 27. Juni 1978 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision ist begründet. Das angefochtene Urteil ist aufzuheben, und der Rechtsstreit ist zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen, weil das LSG von einer unzutreffenden Auslegungsregel ausgegangen ist und seine tatsächlichen Feststellungen nicht für eine abschließende Entscheidung darüber ausreichen, ob die Schwester des Klägers - als seine (bevollmächtigte oder zunächst vollmachtlose) Vertreterin - mit ihrem Schreiben vom 28. Dezember 1975 auch die Nachentrichtung von Beiträgen nach § 10a WGSVG für ihn beantragt hat.

Wie der erkennende Senat in ständiger Rechtsprechung entschieden hat (vgl Urteil vom 13. September 1979 - 12 RK 60/78 -, zur Veröffentlichung bestimmt), ist ein Nachentrichtungsantrag gemäß Art 2 § 49a AnVNG eine einseitige empfangsbedürftige Willenserklärung zur Gestaltung des Versicherungsverhältnisses, die vor Ablauf der Antragsfrist in so deutlicher Form vorliegen muß, daß sie eine Bestimmung des objektiven Erklärungsinhalts zuläßt. Dieser Grundsatz gilt auch für eine Beitragsnachentrichtung nach § 10a WGSVG, da sie die gleiche Gestaltungswirkung wie die Nachentrichtung nach Art 2 § 49a AnVNG hat.

Ist ein Nachentrichtungsantrag, wie er gestellt ist, nicht in jeder Hinsicht eindeutig, so kann und muß er - unter Anwendung der auch für das öffentliche Recht geltenden Grundsätze des § 133 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) - ausgelegt werden (zur Anwendbarkeit des § 133 BGB im öffentlichen Recht, insbesondere auf Willenserklärungen gegenüber Behörden, vgl Palandt, BGB 39. Auflage, § 133 Anm 7). Dabei ist regelmäßig ein den tatsächlichen Inhalt der Erklärung feststellender und ein sie rechtlich würdigender Vorgang zu unterscheiden (Kuchinke, Anm zu BAG AP Nr 30 zu § 133 BGB). Die - vom Revisionsgericht nachprüfbare - Würdigung der rechtlichen Bedeutung einer Willenserklärung setzt die - grundsätzlich bindende (§ 163 SGG) - tatrichterliche Feststellung voraus, was der Erklärende sprachlich (mündlich oder schriftlich) erklärt hat (Erklärungswortlaut) und was er mit seiner Erklärung wirklich gewollt hat (Erklärungsinhalt); dabei sind alle - auch die außerhalb der sprachlichen Erklärung liegenden - Umstände zu berücksichtigen, sofern sie gegenüber dem Empfänger der Erklärung in irgendeiner Weise Ausdruck gefunden haben (vgl Palandt aaO Anm 1 und 4; BSG SozR 1500 § 163 Nr 2; BSGE 43, 37, 39; BAG AP Nr 30, 33 und 34 zu § 133 BGB; Buchholz BVerwG 310 Nr 5 zu § 137 VwGO).

Das LSG hat angenommen, daß derjenige, der vor Ablauf des 31. Dezember 1975 einen Antrag auf Zulassung zur Beitragsnachentrichtung gestellt und keinen gegenteiligen Willen zum Ausdruck gebracht habe, zur Beitragsnachentrichtung nach allen für ihn in Betracht kommenden Vorschriften habe zugelassen werden wollen. Damit hat das LSG seiner Entscheidung eine Auslegungsregel zugrunde gelegt, die vom Revisionsgericht auf ihre Richtigkeit zu prüfen ist (BSG aaO; BGH LM Nr 5 zu § 550 ZPO; BAGE 4, 360, 365; BAG AP Nr 30 zu § 133 BGB; BVerwG aaO).

Die vom LSG angewendete Auslegungsregel hält der Senat, jedenfalls in der ihr vom LSG gegebenen allgemeinen Form, nicht für zutreffend. Das BSG hat zwar für verschiedene Bereiche des Leistungsrechts entschieden, daß der Versicherte, der aufgrund eines bestimmten Sachverhalts ein Leistungsbegehren an einen Sozialversicherungsträger richtet, im Zweifel alle Ansprüche geltend macht, die ihm aus diesem Sachverhalt zustehen (BSGE 36, 120, 121 für Anträge gegenüber Krankenkassen auf Krankenhilfe; BSGE 44, 164, 167 und Urteile vom 19. Juni 1979 - 7 RAr 77/78 - und vom 15. November 1979 - 7 RAr 75/78 - zur Auslegung eines Antrages auf Alg als Antrag auf Alhi und umgekehrt; BSG Urteil vom 10. Oktober 1979 - 3 RK 25/79 - zu einem Antrag auf Reha-Leistungen, der als Rentenantrag angesehen wurde). Allen diesen Fällen ist gemeinsam, daß aufgrund eines bestimmten Sachverhalts zwar nicht die beantragte, jedoch eine andere, alternativ oder subsidiär zu gewährende Leistung in Betracht kommt, auf die sich der gestellte Antrag im Zweifel hilfsweise erstrecken soll. Nicht voll entsprechend aber ähnlich lag ein vom BVerwG (BVerwGE 16, 198, 204) entschiedener Fall, in dem dieses einen vor dem Inkrafttreten der anspruchsbegründenden Norm gestellten Versorgungsantrag als wirksam und als auf die gesamte zustehende Versorgung gerichtet angesehen hat. Das BSG hat die angeführte, auf dem Grundsatz der Meistbegünstigung beruhende Auslegungsregel dagegen nicht angewendet, wenn der Antragsteller mehrere Gestaltungsmöglichkeiten hat, unter denen er frei entscheiden kann, aus einem allgemein gehaltenen Antrag jedoch nicht feststellbar ist, auf welche der zur Verfügung stehenden Möglichkeiten er sich beziehen soll (so BSG SozR 4460 § 21 Nr 1 für einen Antrag auf Förderung von Bildungsmaßnahmen, wenn der Bildungsgang verschiedene Gestaltungsmöglichkeiten bietet; vgl ferner BSG SozR Nr 12 zu § 1248 Reichsversicherungsordnung (RVO), wonach ein Antrag auf BU-Rente nicht als Eventualantrag auf vorgezogenes Altersruhegeld anzusehen ist).

Entgegen der vom LSG vertretenen Ansicht kann ein unklar gefaßter Nachentrichtungsantrag Leistungsanträgen, die die Rechtsprechung auf alle in Frage kommenden Leistungen bezogen hat, nicht gleichgestellt werden. Der Gesetzgeber hat den Verfolgten im WGSVG und - unabhängig von ihrer Verfolgung - im AnVNG (ArVNG), Möglichkeiten einer Nachentrichtung von Beiträgen zur Rentenversicherung eröffnet, die sich auf verschiedene Nachentrichtungszeiträume beziehen. Da diese zusammengerechnet vier Jahrzehnte betragen können, erforderte die volle Ausschöpfung aller Nachentrichtungsmöglichkeiten oft die Aufbringung erheblicher Mittel. Der nach dem WGSVG und dem AnVNG (ArVNG) Nachentrichtungsberechtigte und -willige mußte sich deshalb darüber klar und schlüssig werden, in welchem Umfange er unter Berücksichtigung seiner überschaubaren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse von den verschiedenen Nachentrichtungsmöglichkeiten Gebrauch machen wollte. Unter diesen Umständen kann nicht von einer allgemeinen Auslegungsregel ausgegangen werden, nach der ein zur Nachentrichtung sowohl nach § 10a WGSVG als auch nach Art 2 § 49a AnVNG Berechtigter mit einem - hier noch dazu kurz vor Ablauf der Antragsfrist formlos gestellten - Antrag, sofern er nicht einen gegenteiligen Willen zum Ausdruck brachte, alle sich ihm bietenden Nachentrichtungsmöglichkeiten ausschöpfen wollte, so daß ein Nachentrichtungsantrag nach Art 2 § 49a AnVNG im Zweifel zugleich als Antrag nach § 10a WGSVG anzusehen war. Vielmehr bedarf es auch in einem solchen Falle der Auslegung des jeweils gestellten Antrages.

Den von der Bevollmächtigten des Klägers am 28. Dezember 1975 gestellten Antrag kann der Senat nicht selbst auslegen, weil das LSG - entsprechend seinem (unrichtigen) rechtlichen Ausgangspunkt - den Erklärungsinhalt nicht ausreichend festgestellt hat. Außer dem bisher nicht ermittelten Willen der Schwester des Klägers, die seinerzeit die Erklärung für ihn abgegeben hat, können hier als mitzuberücksichtigende Begleitumstände der Erklärung von Bedeutung sein, daß die Schwester des Klägers mit der Rechtslage, wie es scheint, nicht hinreichend vertraut war, ferner, daß sie ausdrücklich darauf hingewiesen hatte, daß ihr Bruder in I lebe. Auch die vom LSG betonte Interessenlage (vgl hierzu BVerwGE 16, 198, 204) kann ein Kriterium für die Auslegung des Antrages vom 28. Dezember 1975 sein, wobei hier allerdings der unterschiedliche Regelungsgehalt des WGSVG und des AnVNG Zurückhaltung bei der Berücksichtigung gerade dieses Umstandes gebietet. Schließlich kann der Umstand, daß die Antragsschrift vom 28. Dezember 1975 zwischenzeitlich wieder an den Kläger oder an seine Bevollmächtigten zurückgelangt war, ein Hinweis darauf sein, daß die Beklagte selbst den Antrag für ergänzungsfähig und -bedürftig gehalten hatte. Insoweit ist zu berücksichtigen, daß die Konkretisierung von Anträgen ohnehin häufig noch nicht abschließend mit der Antragstellung, sondern erst in einem anschließendem Verfahren erfolgen kann, weil dazu eine hinreichende Information des Versicherten und eine Anpassung seiner Wünsche an die rechtlichen Möglichkeiten erforderlich ist.

Die Entscheidung über die Kosten bleibt der das Verfahren abschließenden Entscheidung vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1656832

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