Entscheidungsstichwort (Thema)

Regelungsgehalt von Anpassungsbescheiden. grobe Fahrlässigkeit

 

Orientierungssatz

1. Anpassungsbescheide sind nicht rechtswidrig und erfüllen damit nicht die grundlegende Voraussetzung für eine Rücknahme nach § 45 Abs 1 SGB 10, wenn eine Rücknahme des rechtsverbindlichen und bestandskräftigen, aber rechtswidrigen Grundlagenbescheids nicht mehr möglich ist. Ihr Regelungsgehalt erschöpft sich in der jeweiligen Anpassung an die gesetzlich veränderten Beträge.

2. Die Verpflichtung, alle nach § 44 Abs 5 BVG anzurechnenden Einkünfte mitzuteilen, wird dann nicht grob fahrlässig verletzt, wenn die Witwe an dem Tag, am dem sie ihre Anträge auf Witwenrente nach ihrem zweiten Ehemann und wiederaufgelebte Witwenrente nach ihrem ersten Ehemann gestellt hat, dem Versicherungsamt gegenüber auf das Verfahren vor dem Versorgungsamt hingewiesen hat.

 

Normenkette

SGB 10 § 45 Abs 1; SGB 10 § 45 Abs 2 S 3 Nr 2; SGB 10 § 45 Abs 2 S 3 Nr 3; SGB 10 § 45 Abs 3 S 2 Nr 1; BVG § 44 Abs 5; SGB 10 § 31 S 1

 

Verfahrensgang

SG Würzburg (Entscheidung vom 30.03.1988; Aktenzeichen S 11 V 380/86)

 

Tatbestand

Die Klägerin erhält, nachdem ihr zweiter Ehemann verstorben ist, ab 1. März 1969 eine wiederaufgelebte Witwen-Grundrente nach ihrem 1946 an Schädigungsfolgen im Sinn des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) verstorbenen ersten Ehemann; Ansprüche aus der neuen Ehe sind nicht nach § 44 Abs 5 BVG angerechnet worden (Bescheid vom 29. Dezember 1969). Zu ihrem Antrag vom 24. Februar 1969 hatte die Klägerin die Frage verneint, ob sie eine Witwenrente oder sonstige Rente beziehe oder beantragt habe, insbesondere durch die Auflösung der neuen Ehe (Erklärung vom 19. März 1969). Eine Witwenrente aus der Rentenversicherung ihres zweiten Ehemannes wurde ihr auf einen Antrag ebenfalls vom 24. Februar 1969 von der Landesversicherungsanstalt (LVA) Oberfranken durch Bescheid vom 16. März 1969 gewährt. In diesem Antrag hatte sie auf ihren Antrag auf wiederaufgelebte Witwenrente nach dem BVG hingewiesen. 1977 wurde eine Ausgleichsrente abgelehnt (Bescheid vom 15. Juni 1977). Nachdem die Klägerin zu einem weiteren Neufeststellungsantrag im Mai 1985 mit dem Ziel der Erhöhung ihrer Bezüge wegen Wegfalls ihrer Pachteinnahmen zum ersten Mal die von der LVA gewährte Rente angegeben hatte, nahm das Versorgungsamt durch Bescheid vom 17. Dezember 1985 die ihr am 15. Juni 1976 und in den folgenden Jahren erteilten Anpassungsbescheide nach § 45 Sozialgesetzbuch - Verwaltungsverfahren - (SGB X) als rechtswidrig zurück, soweit die Witwenrente aus der Rentenversicherung des zweiten Ehemannes unberücksichtigt geblieben ist. Mit Bescheid vom 19. Dezember 1985 verpflichtete es die Klägerin zur Erstattung der ab 1. Juli 1976 zu Unrecht erbrachten Leistungen nach § 50 SGB X. Das Sozialgericht (SG) hat die angefochtenen Verwaltungsakte aufgehoben (Urteil vom 30. März 1988). Das Gericht hat die Begründung des Rücknahmebescheides als zutreffend bestätigt, daß die Klägerin durch Verschweigen der Rentenversicherungsrente in besonders schwerem Maße ihre Sorgfaltspflicht verletzt habe, so daß sie nach § 45 Abs 2 Satz 3 Nrn 2 und 3 SGB X keinen Vertrauensschutz genieße. Gleichwohl dürften sowohl der teilweise unrichtige Bescheid vom 29. Dezember 1969 wegen Fristversäumnis nach § 45 Abs 3 Satz 3 SGB X als der Ausgleichsrentenbescheid, der einen anderen Inhalt gehabt habe, als die Kette von Folgebescheiden aus den letzten zehn Jahren nicht zurückgenommen werden. In den Anpassungsbescheiden sei nicht nochmals über die Nichtanrechnung einer Rente aus der zweiten Ehe entschieden worden, sondern allein jeweils über eine Erhöhung des Rentenbetrages.

Der Beklagte rügt mit der - vom SG zugelassenen - Sprungrevision eine Verletzung des § 45 SGB X. Die nach § 56 BVG ergangenen Anpassungsbescheide hätten die einkommensabhängige Leistung - hier die Grundrente nach § 44 Abs 2 BVG - jeweils neu berechnet und damit eigenständig geregelt und einen Vorbehalt bezüglich der Einkommensverhältnisse enthalten. Da sich mithin der Fehler des ersten Bescheides jeweils in einer neuen Entscheidung fortgesetzt habe (konstitutive Fehlerwiederholung), sei erneut die Zehnjahresfrist des § 45 Abs 3 Satz 3 SGB X in Lauf gesetzt worden.

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des SG aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie bezieht sich auf die tragende Begründung des angefochtenen Urteils.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Beklagten ist nicht begründet. Das SG hat mit Recht der Klage stattgegeben.

Der Beklagte durfte 1985 die seit 1976 gegenüber der Klägerin erlassenen Bescheide nicht nach § 45 SGB X (vom 18. August 1980 - BGBl I 1469 -) zurücknehmen, soweit in ihnen die Witwenrente aus der Rentenversicherung des zweiten Ehemannes abweichend von § 44 Abs 5 BVG nicht auf die Witwengrundrente (§ 44 Abs 2, § 38 Abs 1 Satz 1 iVm § 1 Abs 1 bis 3 Satz 1, Abs 5 Satz 1 und § 40 BVG) angerechnet worden ist. Diese Verwaltungsakte waren nicht rechtswidrig und erfüllen damit nicht die grundlegende Voraussetzung für eine Rücknahme nach § 45 Abs 1 SGB X (BSG SozR 1300 § 45 Nr 37). Rechtswidrig könnte allein die regelnde Entscheidung (§ 31 Satz 1 SGB X) in diesen Bescheiden sein. Ihr Regelungsgehalt erschöpfte sich indes in der jeweiligen Anpassung der seit 1969 gewährten Grundrente an die gesetzlich veränderten Beträge (§ 56 BVG iVm § 62 Abs 1 BVG aF, ab 1. Januar 1981: § 48 Abs 1 SGB X). Dagegen wurde über die Gewährung der Grundrente ohne eine Anrechnung der Witwenrente aus der Rentenversicherung des zweiten Ehemannes nach § 44 Abs 5 BVG nicht jeweils neu entschieden. Insoweit hatten sich nach dem erst im Dezember 1969 ergangenen Bescheid die maßgebenden Verhältnisse nicht nachträglich wesentlich geändert mit der Folge, daß der Rentenbetrag neu festgestellt werden dürfte (BSGE 63, 254, 257 = SozR 3642 § 9 Nr 2; BSGE 63, 266, 267 ff = SozR 3642 § 9 Nr 3; SozR 1300 § 45 Nr 37).

Über den Betrag der Witwengrundrente ohne Anrechnung der Witwenrente aus der Rentenversicherung war nur einmal 1969 entschieden worden. Dieser Betrag war und ist - auch bei jeder Anpassung - als rechtsverbindlich hinzunehmen (§ 77 Sozialgerichtsgesetz - SGG -), bis die Regelung zurückgenommen ist. Eine Rücknahme der rechtsverbindlichen und bestandskräftigen, aber rechtswidrigen Entscheidung nach § 41 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (KOVVfG) vom 2. Mai 1955 (BGBl I 202) oder ab 1981 nach § 45 SGB X ist bisher unterblieben. Selbst wenn mit dem Beklagten und dem SG davon auszugehen wäre, daß die Klägerin durch grob fahrlässiges Verschweigen ihrer Rente aus der zweiten Ehe die Unrichtigkeit herbeigeführt oder daß sie infolge grober Fahrlässigkeit die Rechtswidrigkeit nicht gekannt habe, so kann der Grundlagenbescheid dennoch seit 1979 wegen Ablaufs der zehnjährigen Ausschlußfrist nicht mehr zurückgenommen werden (§ 45 Abs 3 Satz 3 Nr 1 iVm Abs 2 Satz 3 Nrn 2 und 3 SGB X). Denn der Beklagte hat die 1969 vorgenommene Regelung der Witwenrente ohne Anrechnung nach § 44 Abs 5 BVG nicht wegen Erwirkens durch eine arglistige Täuschung zurückgenommen, was auch noch nach Ablauf der Zehnjahresfrist, die auf Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit beschränkt ist (§ 45 Abs 3 Satz 3 iVm Abs 2 Satz 3 Nrn 2 und 3 SGB X), zulässig sein könnte (§ 45 Abs 1 und 2 Satz 1 und 3 Nr 1).

Die Revisionsbegründung, wonach die Rechtsprechung des Senats, die eine "konstitutive Folgenwiederholung" ausschließt, hier nicht einschlägig sei, trifft nicht zu. Zutreffend weist der Beklagte allerdings darauf hin, daß in den vorgenannten vom Senat entschiedenen Fällen der Verwaltung die Einkünfte bekannt waren, über deren Anrechenbarkeit gestritten wurde. Im vorliegenden Fall war jedoch die Witwenrente aus der zweiten Ehe unbekannt; über eine Anrechnung ist somit nicht entschieden worden.

Dabei wird aber übersehen, daß sich der Vertrauensschutz, dem die Bestandskraft dient, grundsätzlich auf den Leistungsbetrag bezieht. Der Leistungsbetrag ist nach bestimmten Fristen gegen jegliche Korrektur anfänglicher Fehler nach unten geschützt. Es ist nicht nur die Berichtigung von Entscheidungen zu unterlassen, die der Bindung fähig sind. Zu unterlassen ist die Berichtigung von Fehlern jeglicher Art, durch die sich die Leistung über den rechtmäßigen Betrag hinaus erhöht, etwa auch von Rechenfehlern, wenn sie nicht offensichtlich sind. Die Nichtanrechnung der Witwenrente aus der zweiten Ehe ist ein solcher Fehler, durch den die wiederaufgelebte Witwenrente zu hoch festgelegt worden ist. Die Anrechnung kann nicht nachgeholt werden, weil die Nichtanrechnung ein Fehler war, der bei der ersten Berechnung der wiederaufgelebten Witwenrente gemacht worden ist. Dabei ist über alle "Versorgungs-, Renten- oder Unterhaltsansprüche, die sich aus der neuen Ehe herleiten" (§ 44 Abs 5 Satz 1 BVG) entschieden worden. Inhaltlich bezog sich das Antragsformular und somit auch die Bewilligungsentscheidung auf alle Ansprüche aus der zweiten Ehe. Die Fragestellung war lediglich derart undeutlich, daß das schwebende Verfahren beim Rentenversicherungsträger - anders als das schwebende Verfahren beim Versorgungsamt - nicht angegeben worden ist. Es besteht deshalb kein Anlaß anzunehmen, daß über die Anrechenbarkeit von Ansprüchen aus der zweiten Ehe nach 1969 noch einmal oder, wie der Beklagte meint, wiederholt entschieden worden ist. Denn es ist von einer grundsätzlich sich der Gesetzesbindung verpflichtet fühlenden Verwaltungspraxis auszugehen; die Verwaltung will prinzipiell das Gesetz richtig anwenden. Demgemäß regelten die Anpassungsbescheide jeweils ausdrücklich allein die Entwicklung der Witwenrente entsprechend der gesetzlichen Erhöhung (§ 40 BVG). Da die Anpassungsbescheide ohne Änderung des Grundlagenbescheids rechtmäßig sind, kommt es nicht darauf an, ob der Klägerin unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an der Rücknahme Vertrauensschutz zuzubilligen wäre. Denn eine solche Abwägung findet nur bei rechtswidrigen Verwaltungsakten statt.

An dem, was die Klägerin jeweils als Entscheidungsinhalt der Anpassungsbescheide gegen sich gelten lassen muß, ändert sich nichts durch ihre fortbestehende, ständig durch Belehrungen in den Bescheiden erneuerte Verpflichtung, alle nach § 44 Abs 5 BVG anzurechnenden Einkünfte mitzuteilen. Denn diese Verpflichtung hat sie jedenfalls nicht grob fahrlässig verletzt. Sie hat immerhin an dem Tag, an dem sie ihre Anträge auf Witwenrente nach ihrem zweiten Ehemann und wiederaufgelebte Witwenrente nach ihrem ersten Ehemann gestellt hat, dem Versicherungsamt gegenüber auf das Verfahren vor dem Versorgungsamt hingewiesen. Sie konnte der Meinung sein, ihre Pflicht erfüllt zu haben. Sie konnte auch der Meinung sein, daß beide Behörden - Versicherungsamt und Versorgungsamt - zusammenwirkten, so daß über eine etwaige Anrechnung zutreffend negativ entschieden sei. Die Verwaltung hatte zudem, auch aus der Sicht der Klägerin, keine Veranlassung, bei jeder Anpassung seit 1976 und im Zusammenhang mit ihr neu über eine Anrechnung oder Nichtanrechnung von Ansprüchen aus der zweiten Ehe zu befinden; denn sie befragte nicht jedesmal vorher die Klägerin gezielt nach solchen Einkünften. Schließlich enthielten die Anpassungsbescheide keinen Widerrufsvorbehalt bezüglich der Nichtanrechnung nach § 44 Abs 5 BVG, der zur Rücknahme berechtigen könnte (jetzt § 45 Abs 3 Satz 3 Nr 2 iVm § 32 Abs 2 Nr 3 SGB X).

Auch die Ablehnung einer Ausgleichsrente innerhalb der Zehnjahresfrist enthielt keine neue - rechtswidrige - Entscheidung darüber, daß die Witwenrente aus der Rentenversicherung nicht angerechnet werde. Sie entschied über eine Berücksichtigung anderer Einkünfte der Klägerin nach § 41 iVm § 33 BVG, hätte jedoch nach § 14 Abs 3 und 4 der Verordnung zur Durchführung des § 33 BVG vom 1. Juli 1975 (BGBl I 1769) die Witwenrente aus der zweiten Ehe nicht nochmals einbeziehen dürfen. Daß die Verwaltung diese Rechtslage beachtete, ist ebenfalls zu unterstellen.

Wenn eine lange Rentengewährung ohne wiederholte Einkommensüberprüfungen und darauf beruhende Entscheidungen dazu führen kann, daß ein unrichtiger Verwaltungsakt nicht mehr zurückgenommen werden kann, so folgt dies aus der Neuregelung in § 45 SGB X, die von § 41 KOVVfG abweicht. Als Ausweg verbleibt der Verwaltung eine "Abschmelzung" oder "Einfrierung" nach § 48 Abs 3 SGB X (vgl dazu Urteil des Senats vom 24. November 1988 - 9/9a RV 36/87 -). Sie wäre auch anläßlich der jährlichen Anpassungen zulässig (st Rspr des Senats, zuletzt im Urteil vom 4. Juli 1989 - 9 RV 27/88 -).

In eine solche Entscheidung, von der die Verwaltung bisher abgesehen hat, kann die vorgenommene Rücknahme der seit 1976 erlassenen Bescheide nicht nach § 43 SGB X umgedeutet werden; denn der Grundlagenbescheid von 1969 ist nicht in die Rücknahmeerklärung einbezogen worden, seine Rechtswidrigkeit müßte aber zuvor festgestellt werden (BSGE 63, 266, 269). Daran fehlt es bisher.

Mit der Rechtswidrigkeit der angefochtenen Rücknahmeentscheidung entfällt auch die Rechtsgrundlage für den auf § 50 SGB X gestützten Rückforderungsbescheid.

Die Kostenentscheidung entspricht § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1649269

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