Entscheidungsstichwort (Thema)

Rechtswidrigkeit von Folgebescheiden. Leistungen iS von § 44 Abs 5 BVG

 

Leitsatz (amtlich)

Soweit ein Anpassungsbescheid auf einem Fehler des Rentenbewilligungsbescheids aufbaut, wiederholt er diesen Fehler nicht und setzt deshalb auch keine neue Rücknahmefrist in Gang; es gibt keine "Theorie der konstitutiven Fehlerwiederholung".

 

Orientierungssatz

Rechtswidrigkeit von Folgebescheiden - Leistungen iS von § 44 Abs 5 BVG:

1. Die Rechtswidrigkeit von sogenannten Grundlagenbescheiden (Erstbescheiden, Ursprungsbescheiden) führt nicht zur Rechtswidrigkeit der darauf aufbauenden Folgebescheide. Das gilt jedenfalls dann, wenn die Rechtsänderung, die zum Folgebescheid führt, auf die berechnete Rente Bezug nimmt und keine Neuberechnung vorschreibt (vgl BSG vom 9.10.1986 4b RV 29/85 = SozR 1300 § 45 Nr 25).

2. Die Unterhaltshilfe nach dem Lastenausgleichsgesetz ist eine Versorgungsleistung iS des § 44 Abs 5 BVG.

 

Normenkette

SGB 10 § 45 Abs 3, § 48 Abs 3; BVG § 44 Abs 5; LAG § 261 Abs 1, § 267 Abs 1, § 279 Abs 1

 

Verfahrensgang

Bayerisches LSG (Entscheidung vom 12.05.1986; Aktenzeichen L 7 V 244/85)

SG Regensburg (Entscheidung vom 05.07.1985; Aktenzeichen S 10 V 166/84)

 

Tatbestand

Streitig ist die Rücknahme der Bewilligung einer wiederaufgelebten Witwenrente.

Nach dem Tode ihres zweiten Ehemannes im September 1964 hatte die Klägerin Witwenversorgung nach ihrem 1943 gefallenen ersten Ehemann beantragt und angegeben, Witwenrente aus der Arbeiterrentenversicherung ihres zweiten Ehemannes und Unterhaltshilfe nach dem Lastenausgleichsgesetz (LAG) zu erhalten. Mit Bescheid vom 13. August 1965 wurde ihr Witwenversorgung unter Anrechnung der Rente aus der Arbeiterrentenversicherung, nicht jedoch der Unterhaltshilfe nach dem LAG bewilligt. In der Folgezeit wurden die Leistungen verschiedentlich angepaßt, zuletzt mit Bescheiden vom 16. Februar 1982 auf monatlich 267,-- DM und vom 20. September 1983 auf monatlich 272,-- DM.

Mit Bescheid vom 13. März 1984 nahm das Versorgungsamt den Bescheid vom 20. September 1983 insoweit zurück, als bei der Berechnung der wiederaufgelebten Witwenrente nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) die Kriegsschadensrente nach dem LAG gemäß § 44 Abs 5 BVG unberücksichtigt geblieben war. Laufende Versorgungsbezüge ergaben sich danach nicht mehr. Zur Begründung wurde ausgeführt, daß der Bescheid vom 13. August 1965 und die folgenden Bescheide von Anfang an rechtswidrig seien, jedoch nach § 45 Sozialgesetzbuch - Verwaltungsverfahren - (SGB X) nicht zurückgenommen werden könnten. Der letzte Bescheid vom 20. September 1983 werde aber mit Wirkung für die Zukunft zurückgenommen, da die Frist des § 45 Abs 3 SGB X gewahrt sei und ein Vertrauensschutz insoweit nicht bestehe.

Das Sozialgericht (SG) hat mit Urteil vom 5. Juli 1985 den angefochtenen Bescheid vom 13. März 1984 aufgehoben, weil der Beklagte zu Unrecht das Vorliegen eines überwiegenden Interesses an der Rücknahme des Bescheides bejaht habe. Auf die Berufung des Beklagten hat das Bayerische Landessozialgericht (LSG) mit Urteil vom 12. Mai 1986 das Urteil des SG im Ergebnis bestätigt. Es hat die Rücknahme der Rentenbewilligung als rechtswidrig angesehen, weil die Frist des § 45 Abs 3 Satz 1 SGB X abgelaufen sei; nach § 48 Abs 3 SGB X sei der Beklagte aber berechtigt, die Leistung auf der mit Bescheid vom 16. Februar 1982 bewilligten Höhe von 267,-- DM "einzufrieren".

Mit der Revision rügt der Beklagte die Verletzung des § 45 SGB X. Nach seiner Auffassung ist bei der Anwendung dieser Vorschrift danach zu unterscheiden, ob sich der die Rechtswidrigkeit begründende tatsächliche oder rechtliche Mangel in Folgebescheiden fortsetze oder nicht. Bei rechtswidrigen Entscheidungen über die Grundlagen sei allein die erste Entscheidung maßgebend. Bei Fehlerwiederholungen sei die Frist für jeden der rechtswidrigen Folgebescheide gesondert zu prüfen. Das gelte insbesondere für Bescheide, welche die Feststellung der Höhe einkommensabhängiger Leistungen zum Gegenstand haben und denen fortlaufend ein unrichtiger Einkommensansatz zugrunde liege. Dabei werde die Rechtsbeziehung - wenn auch fehlerhaft - immer wieder neu geregelt. Dies führe dazu, daß dann, wenn der letzte Fehler noch in der Zweijahresfrist des §45 SGB X liege, wenigstens mit Wirkung für die Zukunft der Verwaltungsakt zurückgenommen werden könne.

Der Beklagte beantragt,

die Urteile des Bayerischen Landessozialgerichts vom 12. Mai 1986 und des Sozialgerichts Regensburg vom 5. Juli 1985 zu ändern und die Klage abzuweisen, hilfsweise, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Bayerische Landessozialgericht zurückzuverweisen.

Die Klägerin hat keinen Antrag gestellt.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Beklagten ist nicht begründet.

Zutreffend hat das LSG entschieden, daß der angefochtene Bescheid vom 13. März 1984 rechtswidrig ist. Es besteht keine Rechtsgrundlage dafür, den Bescheid vom 20. September 1983 aufzuheben, in dem zuletzt der der Klägerin zustehende Zahlbetrag festgesetzt wurde, der ihr nach dem BVG in Verbindung mit dem letzten Anpassungsgesetz-KOV zusteht.

Der Beklagte kann sich nicht auf § 45 SGB X berufen, wonach rechtswidrige begünstigende Verwaltungsakte unter bestimmten Voraussetzungen grundsätzlich binnen zweier Jahre zurückgenommen werden können. Denn der Bescheid vom 20. September 1983 ist nicht rechtswidrig.

Die Meinung des Beklagten, dieser Bescheid sei deshalb rechtswidrig, weil schon der ursprüngliche Rentenbewilligungsbescheid vom 13. August 1965 rechtswidrig sei, trifft nicht zu.

Richtig ist allerdings, daß der Rentenbewilligungsbescheid vom 13. August 1965 rechtswidrig ist. § 44 Abs 5 BVG ist verletzt. Der Beklagte hätte nach dieser Vorschrift schon damals nicht nur die Witwenrente aus der Arbeiterrentenversicherung, die die Klägerin nach ihrem zweiten Ehemann bezog, sondern auch die Unterhaltshilfe nach dem Lastenausgleichsgesetz anrechnen müssen. Denn diese Leistung ist ebenfalls aus der zweiten Ehe hergeleitet und ist eine Versorgungsleistung iS des § 44 Abs 5 BVG. Zu der entsprechenden Vorschrift des § 1291 Abs 2 RVO hat dies der 11. Senat des BSG bereits entschieden (Urteil vom 17. Januar 1973 - 11 RV 149/72 -, SGb 1973, 174). Auch für das BVG gilt der Grundsatz, daß die wiederaufgelebte Rente nur Versorgungslücken aus der zweiten Ehe schließen soll. Der Anspruch auf die wiederaufgelebte Rente ist nachrangig gegenüber allen Ansprüchen aus der ersten Ehe. Die Nachrangregelung des § 44 Abs 5 BVG setzt sich auch gegenüber §§ 267, 279 LAG durch.

Die Meinung des Beklagten, diese Rechtswidrigkeit erfasse auch die späteren Rentenerhöhungsbescheide, beruht auf der Vorstellung, bei jeder Rentenerhöhung sei die Rente hinsichtlich aller Berechnungsfaktoren erneut zu prüfen, und über den gesamten Rentenanspruch sei erneut zu entscheiden. In jedem neuen Bescheid, meint der Beklagte, in dem ein früherer Fehler nicht erkannt worden sei, werde derselbe Fehler wieder gemacht. Der neue Bescheid leide also darunter, daß der alte Fehler wiederholt werde. Deshalb sei dieser neue Bescheid ebenso rechtswidrig wie der Rentenbewilligungsbescheid.

Diese Vorstellung - die der Beklagte "Theorie der konstitutiven Fehlerwiederholung" nennt - widerspricht anerkannten Grundsätzen des allgemeinen Verwaltungsrechts. Die Rechtswidrigkeit von sogenannten Grundlagenbescheiden (Erstbescheiden, Ursprungsbescheiden) führt nicht zur Rechtswidrigkeit der darauf aufbauenden Folgebescheide (vgl Urteile des 4. Senats vom 9. Oktober 1986, SozR 1300 § 45 Nr 25; des 7. Senats vom 13. Mai 1987, BSGE 61, 286; des erkennenden Senats vom 22. Juni 1988 - 9/9a RV 46/86 -). Das gilt jedenfalls dann, wenn, wie hier, die Rechtsänderung, die zum Folgebescheid führt, auf die berechnete Rente Bezug nimmt und keine Neuberechnung vorschreibt. Der Beklagte hat dies in dem umstrittenen Anpassungsbescheid vom 20. September 1983 dadurch selbst deutlich gemacht, daß er in den Gründen ausgeführt hat, dieser Bescheid sei nur eine Ergänzung des Bescheids vom 13. August 1965. Die im Regelfall beschränkte Überprüfung von Verwaltungsakten mit Dauerwirkung macht auch der Wortlaut des § 48 Abs 1 SGB X - "insoweit" - deutlich.

Würde es der Verwaltung erlaubt sein, im Rahmen der mehr oder weniger regelmäßigen Leistungsanpassungen den Grund des Anspruchs und die übrigen Bemessungsfaktoren immer wieder neu (bestätigend oder ändernd) zu regeln, würden die Zeitschranken des § 45 Abs 3 SGB X für die Rücknahme von Verwaltungsakten weitgehend ihre Bedeutung verlieren. Wenn die Auffassung des Beklagten richtig wäre, würde sich der Anwendungsbereich des § 45 Abs 3 im wesentlichen auf die Fälle beschränken, in denen nach der erstmaligen Leistungsbewilligung keine weiteren Anpassungen erfolgen. Damit würde das nur durch einen einmaligen fehlerhaften Bescheid begründete Vertrauen stärker geschützt als das Vertrauen, das durch laufende Anpassungsbescheide, die den Fehler des Ursprungsbescheides übernehmen und fortsetzen, wiederholt gestärkt worden ist.

Mit dem Bescheid vom 13. August 1965 ist bindend (§ 77 Sozialgerichtsgesetz -SGG-) auch darüber entschieden worden, daß die Leistungen nach dem LAG bei der wiederaufgelebten Witwenversorgung nicht berücksichtigt werden. Daß das Versorgungsamt insoweit eine Regelung getroffen hat, ergibt sich aus den Angaben der Klägerin über ihre Einkommensverhältnisse und der Berechnung der Versorgungsbezüge in dem darauf ergangenen Bescheid. Zwar ist darin nur ausgeführt, daß auf die wiederaufgelebte Witwenrente die Witwenrente aus der Arbeiterrentenversicherung nach dem zweiten Ehemann anzurechnen sei. Im Umkehrschluß folgt daraus aber zwingend, daß die von der Klägerin angegebenen Leistungen nach dem LAG nicht anzurechnen seien (zur Auslegung von Verwaltungsakten vgl BSGE 48, 56 = SozR 2200 § 368a Nr 5).

Da die Frage der Anrechnung der LAG-Leistung nicht anläßlich der Rentenerhöhung 1983 erneut geprüft und entschieden werden durfte und auch nicht entschieden worden ist, ist der Bescheid vom 20. September 1983 rechtmäßig und nicht aufhebbar.

Der Beklagte könnte allerdings nach § 48 Abs 3 SGB X die Feststellung treffen, daß der Bescheid vom 13. August 1965 - der Grundbescheid - rechtswidrig ist und von Rentenerhöhungen ausgespart wird. Das LSG ist im Ergebnis ebenfalls dieser Meinung und hat dies dadurch zum Ausdruck gebracht, daß es den angefochtenen Bescheid nicht "aufgehoben" sondern "abgeändert" hat. Es hat den Beklagten zur Weiterzahlung des nach § 48 Abs 3 SGB X bestandsgeschützten Betrages verurteilt. Hierbei hat das LSG allerdings gemeint, es könne schon der Betrag ausgespart werden, der durch den Anpassungsbescheid vom 20. September 1983 hinzugetreten war. Diese Ansicht trifft, wie der Senat in dem oben angeführten Urteil vom 22. Juni 1988 ebenfalls entschieden hat, nicht zu. Da die Klägerin indessen keine Revision eingelegt hat, konnte das angefochtene Urteil auch insoweit nicht geändert werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1647244

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