Leitsatz (amtlich)

1. Zu hoch berechnete Sozialleistungen können erst dann von der Erhöhung durch ein Anpassungsgesetz ausgespart werden, wenn durch Verwaltungsakt wirksam festgestellt ist, daß die ursprüngliche Leistungsbewilligung rechtswidrig ist.

2. Ein vor dieser Feststellung ergangener Anpassungsbescheid, bei dem die Aussparungsvorschrift des § 48 Abs 3 SGB 10 nicht beachtet worden ist, bleibt rechtmäßig.

 

Orientierungssatz

§ 48 Abs 3 SGB 10 erlaubt eine gegenüber der Rücknahme nach § 45 SGB 10 weniger weitgehende, aber doch einschneidende Beseitigung der Bestandskraft. In diesem Umfang ist die Feststellung der Rechtswidrigkeit nach § 48 Abs 3 SGB 10 ebenso rechtsgestaltend wie die Rücknahme nach § 45 SGB 10.

 

Normenkette

SGB 10 § 48 Abs 3, § 45 Abs 3

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 18.09.1986; Aktenzeichen L 6 V 151/85)

SG Aachen (Entscheidung vom 07.12.1984; Aktenzeichen S 12 V 196/83)

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob Anpassungsbescheide, die einen nicht mehr korrigierbaren fehlerhaft berechneten Berufsschadensausgleich betreffen, gemäß § 45 Sozialgesetzbuch - Verwaltungsverfahren (SGB X) zurückgenommen werden können, weil die Versorgungsverwaltung die Abschmelzungsregelung des § 48 Abs 3 SGB X nicht angewandt hat.

Der Kläger, der seit Dezember 1965 Knappschaftsrente wegen Erwerbsunfähigkeit bezieht, erhält von der Versorgungsverwaltung neben der Grundrente nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) auch Berufsschadensausgleich (Bescheid vom 12. Januar 1967). Trotz seiner Angaben berücksichtigte das Versorgungsamt bei der Leistungsberechnung den Bezug verbilligter Hausbrandkohlen aufgrund der früheren Tätigkeit des Klägers im Bergbau nicht. Die Leistungen wurden laufend angepaßt, zuletzt mit Bescheid vom 4. Dezember 1981 ab 1. Januar 1982 auf 534,- DM (372,- DM Grundrente zzgl. 162,- DM Berufsschadensausgleich) und mit Bescheid vom 6. Juni 1983 ab 1. Juli 1983 auf 613,- DM (388,- DM Grundrente zzgl. 225,- DM Berufsschadensausgleich).

Nach einer Auskunft der früheren Arbeitgeberin zum Bezug von Hausbrandkohlen nahm das Versorgungsamt die Bescheide vom 4. Dezember 1981 und 6. Juni 1983 mit Wirkung ab 1. Dezember 1983 zurück (Bescheid vom 19. April 1984). Es stellte dabei fest, daß der Verwaltungsakt vom 7. Dezember 1978 - bei dem es sich nach Auffassung des Versorgungsamtes um den maßgeblichen sog. Grundlagenbescheid handelte - und die nachfolgende Verwaltungsakte rechtswidrig iS des § 45 Abs 1 SGB X seien, soweit sie die von dem Kläger bezogenen Kohlen trotz inzwischen eingetretener Lohnsteuerpflicht bei der Berechnung des Berufsschadensausgleichs weiterhin nicht berücksichtigten. Diese Verwaltungsakte könnten jedoch wegen Ablaufs der Frist nach § 45 Abs 3 Satz 1 SGB X nicht zurückgenommen werden. Die Bescheide vom 4. Dezember 1981 und 6. Juni 1983 seien hingegen zusätzlich rechtswidrig, weil mit ihnen bei der Festsetzung der Gesamtversorgungsbezüge des Klägers die Vorschrift des § 48 Abs 3 SGB X nicht beachtet worden sei. Ab 1. Dezember 1983 stehe dem Kläger an Berufsschadensausgleich lediglich ein Betrag von 194,- DM zu. Die in Höhe von 186,- DM danach eingetretene Überzahlung forderte das Versorgungsamt zurück.

Das Sozialgericht (SG) hat der Klage mit der Begründung stattgegeben, der Bezug von verbilligtem Hausbrand sei nicht als Einkommen zu berücksichtigen (Urteil vom 7. Dezember 1984). Im Berufungsverfahren haben die Beteiligten nach Teilvergleich vom 18. September 1986 den Streitgegenstand auf die Frage beschränkt, ob der Beklagte den verbilligten Hausbrandbezug für die Zeit vom 1. Dezember 1983 bis zum 30. Juni 1984 bei der Berechnung des Berufsschadensausgleichs als Einkommen anrechnen durfte. Insoweit hat das Landessozialgericht (LSG) der Berufung des Beklagten im wesentlichen stattgegeben (Urteil vom 18. September 1986) und zur Begründung ausgeführt: Der Anpassungsbescheid vom 6. Juni 1983 sei iS des § 45 Abs 1 SGB X rechtswidrig, weil der Beklagte bei der Berechnung der Versorgungsbezüge für die Zeit ab 1. Juli 1983 die Abschmelzungsregelung des § 48 Abs 3 SGB X außer Betracht gelassen habe. Die "Einfrierung" könne nachgeholt werden. Der Beklagte habe zu Recht und auch der Höhe nach zutreffend den verbilligten Hausbrandbezug als Einkommen angerechnet. Der Kläger sei aufgrund des Anhörungsschreibens von Oktober 1983 bösgläubig geworden, so daß er sich von diesem Zeitpunkt an nicht auf Vertrauensschutz berufen könne.

Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt der Kläger eine Verletzung der §§ 45, 48 Abs 3 SGB X. Die Anpassungsbescheide seien rechtmäßig gewesen; selbst wenn sie rechtswidrig gewesen sein sollten, stehe ihrer Rücknahme das Vertrauen in den Bestand der Leistungsfeststellung entgegen.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des LSG vom 18. September 1986 zu ändern und die Berufung gegen das Urteil des SG Aachen vom 7. Dezember 1984 zurückzuweisen.

Der Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers hat Erfolg. Das LSG hätte die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des SG im wesentlichen zurückweisen müssen. Der Beklagte durfte die Anpassungsbescheide vom 4. Dezember 1981 und 6. Juni 1983 nicht zurücknehmen. Insoweit hat das SG den angefochtenen Bescheid vom 19. April 1984 zutreffend aufgehoben. Von Bestand bleibt lediglich die Feststellung, daß die unterlassene Berücksichtigung des bezogenen Hausbrands als Einkommen bei der Festsetzung des Berufsschadensausgleichs rechtswidrig war.

Die Rentenanpassungsbescheide von 1981 und 1983 konnten durch den angefochtenen Bescheid vom 19. April 1984 nicht zurückgenommen werden, obwohl die Zweijahresfrist des § 45 Abs 3 Satz 1 SGB X eingehalten worden ist. Denn es fehlt schon die erste Voraussetzung der Rücknahme: Die Anpassungsbescheide sind nicht rechtswidrig.

Eine Rechtswidrigkeit dieser Anpassungsbescheide ergibt sich weder aus der Rechtswidrigkeit des Bewilligungsbescheides noch daraus, daß die Verwaltung 1981 und 1983 unbewußt gegen das Gesetz verstoßen hat, indem sie entgegen der Aussparungsvorschrift des § 48 Abs 3 SGB X den Berufsschadensausgleich angepaßt hat. Zutreffend ist allerdings, daß schon der Rentenbewilligungsbescheid von 1967 insoweit rechtswidrig war, als er zum Ausdruck bringt, daß der Wert der Hausbrandkohle nicht zum derzeitigen Einkommen im Sinne des Rechts des Berufsschadensausgleichs gehört. Da der Wert der Hausbrandkohle von Rechts wegen zum derzeitigen Einkommen zählt (BSG SozR 3100 § 30 Nr 14 sowie Urteile vom 24. März 1976 - 9 RV 102/75 - und vom 7. Oktober 1976 - 9 RV 198/75 -), ist über einen Berechnungsfaktor des Berufsschadensausgleichs zugunsten des Klägers rechtswidrig entschieden worden. Die rechtswidrige Entscheidung über diesen Berechnungsfaktor führte zur Rechtswidrigkeit des Bewilligungsbescheides, nicht aber auch der späteren Anpassungsbescheide, jedenfalls nicht der von 1981 und 1983.

Die rechtswidrige Entscheidung über den Berechnungsfaktor wirkte sich zwar auch bei allen Anpassungen der nächsten Jahre zugunsten des Klägers aus. Die Anpassungsbescheide sind aber nicht wegen dieser Auswirkung als rechtswidrig zu beurteilen. Das wäre nur dann vertretbar, wenn bei jeder Anpassung erneut über die Berechnungsfaktoren des Berufsschadensausgleichs zu entscheiden gewesen wäre. Das ist aber nicht der Fall.

Die Vorschriften, die die Erhöhung des Berufsschadensausgleichs vorschreiben (§ 30 Abs 5 BVG iVm den jeweiligen Anpassungsgesetzen), verlangten jedenfalls für die Anpassungen der Jahre 1981 und 1983 keine neue Berechnung des Berufsschadensausgleichs, sondern nahmen Bezug auf die durchgeführte Berechnung. Sie setzten einen Verwaltungsakt mit Dauerwirkung voraus. Die 1967 getroffene Entscheidung über die Frage der Anrechnung des Werts der Hausbrandkohle ist ein solcher Verwaltungsakt. Die Frage der Anrechnung war nicht Gegenstand der späteren Entscheidungen über die Rentenerhöhung; eine Entscheidung über die Nichtanrechnung wurde darin nicht getroffen, sie war vielmehr die Grundlage der späteren Entscheidungen über die Rentenerhöhung.

Daß die Rechtswidrigkeit solcher Grundlagenbescheide nicht zur Rechtswidrigkeit der Folgebescheide führen kann, entspricht anerkannten Grundsätzen des allgemeinen Verwaltungsrechts. Fraglich kann nur sein, ob anläßlich des Verwaltungsverfahrens über einen Folgebescheid ein Grundlagenbescheid zurückgenommen werden kann (vgl Erichsen/Knoke, NVwZ 1983, 183, 190 ff; J. Ipsen, Die Verwaltung, 1984, 169, 186 ff).

Solange ein rechtswidriger Grundlagenbescheid wirksam ist, ist er grundsätzlich von allen Behörden, vor allem auch von der erlassenden Behörde zu beachten (vgl Kopp, Verwaltungsverfahrensgesetz, 7. Aufl, Nr 27 vor § 35; zur verfahrensübergreifenden Bindungswirkung vgl J. Ipsen aaO S 186). Er ist nur dann unbeachtlich, wenn er vor oder spätestens zusammen mit dem Folgebescheid zurückgenommen wird. Nur dann fehlt dem Folgebescheid die Grundlage, so daß er nicht zu erlassen ist. Einem Folgebescheid, der in der Zeit erlassen worden ist, in der der Grundlagenbescheid wirksam war, kann in der Regel auch nicht nachträglich die Grundlage dadurch entzogen werden, daß der Grundlagenbescheid als rechtswidrig zurückgenommen wird. Das ist allenfalls in den Fällen denkbar, in denen der Grundlagenbescheid mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen wird.

Auch im Sozialrecht gilt im Grundsatz nichts anderes.

Schon vor Inkrafttreten des SGB X war unbestritten, daß ein bindender rechtswidriger Grundlagenbescheid (etwa ein Rentenbewilligungsbescheid) nicht allein durch seine Rechtswidrigkeit einen Folgebescheid (etwa einen Anpassungsbescheid) rechtswidrig machen kann. Auch hier war nur fraglich, ob anläßlich des Anpassungsverfahrens von einem rechtswidrigen Rentenbewilligungsbescheid abgewichen werden könne (BSG 26, 266). Die Besonderheit des Sozialrechts bestand nur darin, daß vor dem Inkrafttreten des Sozialgesetzbuchs X ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt nur in Ausnahmefällen zurückgenommen werden konnte (vgl § 77 SGG iVm dem inzwischen aufgehobenen § 1744 RVO und dem ebenfalls aufgehobenen § 41 VerwVfG-KOV).

Die Aufhebung rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakte ist nun auch im Sozialrecht ebenso wie im Verwaltungsverfahren der allgemeinen Verwaltung (§ 48 VwVfG) möglich, allerdings nur innerhalb bestimmter Fristen, regelmäßig nur auch die Möglichkeit gegeben, daß sich die Sozialverwaltung von rechtswidrigen Grundlagenbescheiden ebenso löst wie im Verfahrensrecht der allgemeinen Verwaltung. Die Rücknahme kann aber - ebenso wie im Verfahrensrecht der allgemeinen Verwaltung - regelmäßig nur mit Wirkung für die Zukunft erfolgen. Deshalb können regelmäßig Erhöhungen auch nur in Zukunft unterlassen werden. Folgebescheide, die bereits vor Rücknahme des Grundlagenbescheids erlassen waren, sind allein wegen Veränderung der rechtlichen Verhältnisse - eine solche Änderung ist die Rücknahme des Grundlagenbescheids - nach § 48 Abs 1 SGB X aufzuheben.

Können aber nach Ablauf der Frist des § 45 Abs 3 die rechtlichen Verhältnisse für den Folgebescheid nicht mehr durch Rücknahme des Grundlagenbescheids geändert werden, so bleiben auch die erlassenen Folgebescheide unaufhebbar. Eine Änderung der Rechtslage durch Aufhebung des Grundlagenbescheids ist nicht mehr möglich. Möglich bleibt nur noch, von der besonderen Befugnis der Sozialverwaltung nach § 48 Abs 3 SGB X Gebrauch zu machen und eine Änderung der Rechtslage durch die Feststellung der Rechtswidrigkeit des Grundlagenbescheides herbeizuführen.

Unterläßt die Verwaltung die Rücknahme eines rechtswidrigen Verwaltungsakts in einem Zeitraum, in dem dies noch möglich gewesen wäre - nämlich innerhalb der Fristen des § 45 Abs 3 SGB X - und paßt sie folgerichtig die Leistungen auf der bisherigen Basis an, ist die Anpassung rechtmäßig. Sie wird nicht durch die möglich gewesene, aber unterlassene Rücknahme des Ursprungsbescheides rechtswidrig. Das Versäumte kann auch nicht teilweise nachgeholt werden, indem eine in den Fristen des § 45 Abs 3 SGB X liegende Anpassung zurückgenommen wird. Das ist unbestritten.

Ebensowenig wie die unterlassene Rücknahme eines Verwaltungsakts nach § 45 SGB X kann aber auch die unterlassene Abschmelzung nach § 48 Abs 3 SGB X die Rechtswidrigkeit des Anpassungsbescheides begründen. Das folgt schon daraus, daß der "kleinere" Fehler nicht zu der "größeren" Unrechtsfolge führen kann. Dem läßt sich nicht entgegenhalten, daß die Abschmelzung gegenüber der Rücknahme kein bloßes Weniger, sondern ein anderes Rechtsinstitut sei, weil es die Bestandskraft des Ursprungsbescheides nicht berühre, sondern sogar respektiere. Das ist nämlich nicht der Fall. Auch der Bescheid, der eine Abschmelzung durchführt, setzt die Feststellung voraus, daß der Ursprungsbescheid rechtswidrig ist. Schon damit wird in die Bestandskraft eingegriffen. Eingegriffen wird insoweit, als der frühere Bescheid entgegen seinem Inhalt keine Basis mehr hergibt, um künftige Leistungsverbesserungen darauf aufzubauen. § 48 Abs 3 SGB X erlaubt eine gegenüber der Rücknahme nach § 45 SGB X weniger weitgehende, aber doch einschneidende Beseitigung der Bestandskraft. In diesem Umfang ist die Feststellung der Rechtswidrigkeit nach § 48 Abs 3 SGB X ebenso rechtsgestaltend wie die Rücknahme nach § 45 SGB X.

Dies kann aber im Interesse der Rechtssicherheit und des Rechtsschutzes ebenfalls nur hingenommen werden, wenn die Rechtswidrigkeit des früheren Verwaltungsaktes durch anfechtbaren Verwaltungsakt festgestellt wird. Solange diese Feststellung nicht getroffen wird, bleiben der Ursprungsbescheid und die darauf aufbauenden Anpassungsbescheide rechtmäßig. Wegen der konstitutiven Wirkung der Feststellung kommt eine Rückwirkung nicht in Betracht; sie gilt vielmehr nur für die Zukunft und nur zum Zwecke einer Abschmelzung.

Nicht entscheidend ist dabei, ob die Feststellung in der Form eines selbständigen Bescheides oder als (auch selbständig anfechtbarer) Teil eines Bescheides über die Abschmelzung getroffen wird (vgl dazu auch Kunze, DAngVers 1986, 326 ff).

Der Beklagte durfte deshalb die im Streit befindlichen Anpassungsbescheide nicht zurücknehmen und hat dem Kläger den Berufsschadensausgleich für die Zeit vom 1. Dezember 1983 bis zum 30. Juni 1984 in der mit Bescheid vom 6. Juni 1983 zuerkannten Höhe weiterzugewähren. Soweit in dem angefochtenen Bescheid vom 19. April 1984 allerdings die Feststellung enthalten ist, daß der Ursprungsbescheid mit der Nichtberücksichtigung des Hausbrandbezugs rechtswidrig war, bleibt sie bestehen, weil sie zutreffend ist. Im Hinblick auf eine künftige Leistungsabschmelzung bleibt die Feststellung von Bedeutung. Die auf vollständige Aufhebung der angefochtenen Bescheide gerichtete Klage war insoweit abzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

BSGE, 266

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