Beteiligte

Kläger und Revisionsbeklagter

Beklagte und Revisionsklägerin

 

Tatbestand

I.

Die Beteiligen streiten um den Ersatz der Kosten eines Faltfahrstuhles für einen Behinderten.

Der Vater des 1934 geborenen F… K… (K.) ist bei der Beklagten gegen Krankheit versichert. Der gehunfähige und schwachsinnige K. ist seit vielen Jahren in der Pflegeanstalt H… untergebracht. Die Anstalt beantragte im September 1974, für K. einen Fahrstuhl anzuschaffen, und berief sich dazu auf eine ärztliche Verordnung, wonach ein Krankenstraßenwagen wegen Gehunfähigkeit bei Athetosis duplex notwendig sei. Die Beklagte lehnte den Antrag mit Schreiben vom 18. Oktober 1974 ab. Der Kläger übernahm daraufhin, und zwar im Mai 1975, die Anschaffung eines Straßenfaltfahrstuhles für K. zum Preis von 1.912,71 DM. Die Ersatzforderung lehnte die Beklagte ab.

Der Kläger hat am 26. August 1975 vor dem Sozialgericht (SG) Stuttgart Klage erhoben und von der Beklagten den Ersatz seiner Aufwendungen gefordert. Das SG hat die Beklagte am 25. Mai 1976 verurteilt, dem Kläger die Kosten des Faltfahrstuhles in Höhe des nach den bis zum 1. Oktober 1974 geltenden Satzungsbestimmungen zu gewährenden Zuschusses für Hilfsmittel zu zahlen, im übrigen hat es die Klage abgewiesen. Das SG hat die Auffassung vertreten, daß die Beklagte nach den Bestimmungen ihrer Satzung Ersatz bis zum Höchstbetrag von 1.500,-- DM als Mehrleistung zu erbringen habe.

Gegen das Urteil haben sich beide Beteilige mit der Berufung gewandt. Die Beklagte hat sich weiterhin für nicht leistungspflichtig gehalten, der Kläger hat die Auffassung vertreten, daß sein Ersatzanspruch in vollem Umfang begründet sei. Das Landessozialgericht (LSG) hat den Anspruch des Klägers bejaht, weil K. ein unterhaltsberechtigtes Kind des Versicherten gewesen sei und die Beklagte für dieses im Wege der Familienhilfe im gleichen Umfang wie für den Versicherten selbst habe eintreten müssen. Die Verpflichtung entfalle nicht deshalb, weil K. im Herbst 1974 bereits 40 Jahre alt gewesen sei, K. sei vielmehr wegen seiner Behinderung außerstande gewesen, sich selbst zu unterhalten, und demzufolge habe er die Voraussetzungen des § 205 Abs. 3 Satz 4 der Reichsversicherungsordnung (RVO) erfüllt. Die Leistungspflicht der Beklagten richte sich nach dem seit dem 1. Oktober 1974 geltenden Recht, weil der Fahrstuhl erst 1975 angeschafft worden sei. Danach komme nicht die Zahlung eines Zuschusses, sondern nur eine Sachleistungsverpflichtung der Beklagten in Betracht. Der Fahrstuhl sei schließlich auch als Hilfsmittel im Sinne des § 182b Satz 1 RVO anzusehen, weil er dazu diene, die Gehunfähigkeit des K. wenigstens zum Teil auszugleichen. Die Notwendigkeit, K. mit einem solchen Hilfsmittel auszustatten, folge aus dessen mehrfacher Behinderung. Nur mit Hilfe des Fahrstuhles sei es möglich, K. wenigstens in bescheidenem Umfange die Teilnahme an einfachsten Arbeiten und an Gruppengesprächen zu ermöglichen.

Gegen das Urteil richtet sich die zugelassene Revision der Beklagten. Sie stellt nicht in Abrede, daß ein Krankenfahrstuhl als Hilfsmittel anzusehen sein könnte, meint aber, daß sie infolge der besonderen Umstände des vorliegenden Falles nicht leistungspflichtig sei. Die Anschaffung des Faltfahrstuhles führe infolge der Behinderung des K. nicht zu einem unmittelbaren praktischen Nutzen, und deshalb stehe das Wirtschaftlichkeitsgebot des § 182 Abs. 2 RVO der Forderung des Klägers entgegen. Die Beklagte rügt weiter, das LSG sei im angefochtenen Urteil davon ausgegangen, K. sei ein unterhaltsberechtigtes Kind des Versicherten. Das LSG habe für diese Annahme jedoch weder im Verlaufe des Verfahrens Ermittlungen angestellt noch in den Gründen des Urteils dazu irgendwelche tatsächlichen Feststellungen getroffen. Von der Voraussetzung der Unterhaltsberechtigung des K. hänge aber, selbst nach Auffassung des LSG, die Begründung des Ersatzanspruches ab. Schließlich habe das LSG eine Vorschrift seiner Entscheidung zugrunde gelegt, die zur fraglichen Zeit noch gar nicht gegolten habe. Es sei von § 205 Abs. 3 Satz 4 RVO in der Fassung ausgegangen, die diese Vorschrift erst seit dem 1. Juli 1975 besitze, der streitige Anspruch sei jedoch früher entstanden. Im fraglichen Zeitpunkt sei der Familienhilfeanspruch von der Satzung der Beklagten abhängig gewesen.

Die Beklagte beantragt,die Urteile des Sozialgerichts Stuttgart - S 10 KR 1770/75 - vom 25. Mai 1976 und des Landessozialgerichts Baden-Württemberg - L 4 KR 1101/76 - vom 8. September 1978 aufzuheben und die Klage des L… W…-H… auf Anerkennung der Leistungspflicht der A… O…-B… als unbegründet abzuweisen,hilfsweise,den Rechtsstreit an das Landessozialgericht zurückzuverweisen, da die für die Realisierung eines Ersatzanspruchs nach § 1531 RVO maßgebliche Voraussetzung - Anspruch auf Familienhilfe nach § 205 Abs. 1 RVO - nicht festgestellt wurde.

Der Kläger beantragt,die Revision zurückzuweisen.

Er stützt sich auf das angefochtene Urteil. Der Faltfahrstuhl sei ein Hilfsmittel im Sinne des § 182b RVO, weil er geeignet sei, eine körperliche Behinderung auszugleichen. Auch die Tatsache, daß er von einer Hilfsperson geschoben werden müsse, bringe die Eigenschaft als Hilfsmittel nicht zum Wegfall. Der Fahrstuhl sei schließlich notwendig, weil der ohnehin enge Freiheitsraum des Behinderten dadurch wenigstens in einem geringen Maße erweitert werde. Für K. bestehe ein Anspruch auf Familienhilfe, denn er sei seinem Vater gegenüber unterhaltsberechtigt gewesen. Diesem hätte ab 1. Januar 1975 ein Anspruch auf Kindergeld für K. zugestanden, und das Kindergeld sei auch an das Kreissozialamt B… ausgezahlt worden, das im Auftrag des Klägers die Heimunterbringungskosten für K. trage.

 

Entscheidungsgründe

II.

Die Revision ist im Sinne einer Zurückverweisung des Rechtsstreits an das LSG begründet. Der Senat vermag nicht in der Sache selbst zu entscheiden, weil es an tatsächlichen Feststellungen fehlt, die das Revisionsgericht nicht selbst zu treffen vermag.

Gegenstand des Rechtsstreits ist ein Ersatzanspruch des Klägers gegen die Beklagte. Unterstützt ein Träger der Sozialhilfe nach gesetzlicher Pflicht einen Hilfsbedürftigen für eine Zeit, für die er einen Anspruch nach der RVO hat, so kann er von der Krankenkasse Ersatz beanspruchen. Das gleiche gilt, wenn Angehörige des Berechtigten unterstützt werden für Ansprüche, die dem Berechtigten mit Rücksicht auf diesen Angehörigen zustehen (§ 1531 RVO). Der Ersatzanspruch erstreckt sich auf die dem Hilfsbedürftigen gewährten Leistungen, soweit sie den Leistungen der Krankenkasse entsprechen (§§ 1532, 1533 Nr. 3 RVO). Der nach diesen Vorschriften entstehende Ersatzanspruch ist ein selbständiger Anspruch des Sozialhilfeträgers, wenn er auch darauf beruht, daß dem Hilfsbedürftigen ein Leistungsanspruch nach der RVO zugestanden haben muß. Der Ersatzanspruch des Klägers entsteht (vgl. § 40 Abs. 1 des Sozialgesetzbuches, Allgemeiner Teil - SGB I -) dadurch, daß der Kläger die Kosten für die Anschaffung des Faltfahrstuhles aufgewendet, d.h. an den Herstellerbetrieb angewiesen hat (vgl. BSG, Urteil vom 22. März 1974 - 3 RK 47/72 - BKK 1974, 146, 147; Urteil vom 29. September 1976 - 3 RK 76/74 - BKK 1977, 160, 161). Der Zeitpunkt der Anspruchsentstehung ist maßgebend dafür, welche Rechtsvorschrift auf diesen Anspruch Anwendung zu finden hat. Da der Kläger den streitigen Betrag von 1.912, 71 DM im Mai 1975 aufgebracht hat, kommt es darauf an, ob die Beklagte nach den zu diesem Zeitpunkt geltenden Rechtsnormen verpflichtet gewesen war, K. im Wege der Familienhilfe mit einem Faltfahrstuhl auszustatten.

Der Umfang der Leistungspflicht der Beklagten bestimmt sich mithin nach § 182b RVO. Das LSG hat zutreffend seine Entscheidung auf diese Vorschrift gestützt. Danach besteht ein Anspruch auf Ausstattung mit Hilfsmitteln, die erforderlich sind, um einer drohenden Behinderung vorzubeugen, den Erfolg der Heilbehandlung zu sichern oder eine körperliche Behinderung auszugleichen. Ein Faltfahrstuhl ist geeignet, bei einem Gehunfähigen diese körperliche Behinderung wenigstens zum Teil auszugleichen. Dem steht nicht entgegen, daß der Fahrstuhl zwar nicht das Gehen selbst ermöglicht, denn zur Erfüllung der Hilfsmitteleigenschaft genügt es, wenn der als Hilfsmittel dienende Gegenstand geeignet ist, die natürlichen Funktionen des ausgefallenen Körperorgans zu ersetzen oder zu ergänzen (vgl. BSGE 37, 138, 139; 39, 275; 42, 229, 231; Krauskopf/Schroeder-Printzen, Soziale Krankenversicherung, 2. Auflage, Stand Dezember 1979, § 182 Anm. 3.2.5; Gesamtkommentar/Heinze, § 182b Anm. 4). Ist bei einem Versicherten durch eine Bewegungseinschränkung oder einen völligen Bewegungsausfall der Beine eine Gehunfähigkeit eingetreten, so ist unter den Begriff des Funktionsausfalls nicht nur - abstrakt - die Bewegungsmöglichkeit der unteren Extremitäten zu verstehen, sondern die natürliche Funktion der Beine besteht darin, dem Menschen die Fortbewegung zu ermöglichen. Daß der Krankenfahrstuhl diese Funktion wenigstens teilweise ersetzt, steht außer Zweifel; er erfüllt demgemäß die Voraussetzungen, die der Senat in ständiger Rechtsprechung an ein Hilfsmittel gestellt hat. Das Bundessozialgericht (BSG) hat auch in mehreren Entscheidungen die Hilfsmitteleigenschaft eines Fahrstuhls im Falle der Gehbehinderung ausdrücklich bestätigt (vgl. BSG, Urteil vom 18. Mai 1978 - 3 RK 10/76 - KVRS 2240/26; Urteil vom 24. August 1978 - 5 RKn 19/77 - SozR 2200 Nr. 9 zu § 182b RVO; Urteil vom 2. August 1979 - 11 RK 7/78 -). Ob der Fahrstuhl durch eigene Kraft des Behinderten zu bewegen ist oder durch eine Hilfsperson oder mittels eines mechanischen Antriebes, ist für die Frage der Hilfsmitteleigenschaft unerheblich. Dazu sind vielmehr die Grundsätze des § 182 Abs. 2 RVO heranzuziehen. In diesem Zusammenhang kann es nicht zweifelhaft sein, daß für einen Behinderten, der weder in der Lage ist, den Fahrstuhl selbst zu bewegen noch dazu imstande ist, eine Mechanik zu bedienen, als geeignetes Hilfsmittel lediglich ein Fahrstuhl in Betracht kommen kann, der durch andere Personen bewegt wird.

Das Vorbringen der Beklagten zur Frage einer Verletzung des Wirtschaftlichkeitsgebotes ist bereits vom LSG im angefochtenen Urteil zutreffend behandelt worden. Auch wenn es K. infolge seines Schwachsinns nur in einem bescheidenen Umfang möglich ist, am Gemeinschaftsleben der Pflegeanstalt teilzunehmen, und der Krankenfahrstuhl, wie das LSG feststellt, nur dazu dient, K. bei Gruppenspaziergängen mitzufahren und an eine Arbeitsstelle für die Verrichtung einfachster Arbeiten zu bringen, so sind für K. diese geringfügigen Einsatzgelegenheiten des Fahrstuhls doch im wesentlichen die einzige Möglichkeit, überhaupt am Gemeinschaftsleben und an Arbeit teilzunehmen. Sollte die geringe Einsatzfähigkeit des Hilfsmittels als Begründung dafür dienen, die Notwendigkeit des Gerätes zu verneinen, so hieße das, den Behinderten mit zunehmendem Umfange ihrer Behinderung die Hilfsmittel der gesetzlichen Krankenversicherung zu versagen und die doppelt Behinderten - wie K. - in aller Regel davon auszuschließen. Ist ein Hilfsmittel geeignet, eine Behinderung auszugleichen, so kann die damit zu bejahende Erforderlichkeit des Hilfsmittels nicht wiederum deshalb verneint werden, weil es keinen Einfluß auf eine weitere zusätzlich bestehende Behinderung hat. Das LSG ist somit zu Recht davon ausgegangen, daß der Faltfahrstuhl als Hilfsmittel für K. anzusehen ist.

Aus den dargelegten Erwägungen folgt jedoch noch nicht die Begründung des Ersatzanspruchs des Klägers. Denn selbst wenn bei K. alle Umstände vorliegen, die die Ausstattung mit einem Faltfahrstuhl erforderlich machen, ist die Beklagte zur Ersatzleistung für das vom Kläger beschaffte Hilfsmittel nur dann verpflichtet, wenn sie im Wege der Familienhilfe für K. hätte eintreten müssen. Das LSG hat den Familienhilfeanspruch deshalb als gegeben angesehen, weil für Kinder, die wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung außerstande sind, sich selbst zu unterhalten, der Anspruch ohne Altersgrenze bestehe. Diese Regelung des § 205 Abs. 3 Satz 4 RVO ist indes, wie die Beklagte zu Recht rügt, im vorliegenden Fall nicht anwendbar. Der Satz ist der Vorschrift erst durch das Gesetz über die Krankenversicherung der Studenten (KVSG) vom 24. Juni 1975 (BGBl. I, 1536) mit Wirkung vom 1. Oktober 1975 zugleich mit den ihm vorangehenden beiden Sätzen angefügt worden (vgl. § 1 Nr. 11 KVSG). Allerdings hatte zuvor bereits das Gesetz über die Sozialversicherung Behinderter vom 7. Mai 1975 (BGBl. I, 1061) eine Regelung für behinderte Kinder gebracht, die mit Wirkung zum 1. Juli 1975 in Kraft getreten war. Da jedoch der Ersatzanspruch des Klägers, wie bereits dargelegt , im Mai 1975 entstanden ist, kann für ihn nur die zu jenem Zeitpunkt geltende gesetzliche Regelung zur Anwendung kommen. Nach § 205 Abs. 3 Satz 2 RVO in der bis zum 30. Juni 1975 geltenden Fassung konnte aber die Krankenkasse durch Satzungsrecht bestimmen, daß für Kinder über einer bestimmten Altersgrenze ein Anspruch nicht bestehe. Es bedarf mithin im vorliegenden Rechtsstreit einer Prüfung der Satzungsbestimmungen der Beklagten, die der Revision entzogen sind, weil ihr Geltungsbereich sich nicht über den Bezirk des Berufungsgerichts hinaus erstreckt (vgl. § 162 Sozialgerichtsgesetz - SGG -). Sofern diesen Bestimmungen - übereinstimmend mit der Regelung des § 205 RVO - eine Unterhaltsberechtigung des K. und eine Unterhaltsverpflichtung seines Vaters als Voraussetzung für die Gewährung von Familienhilfe fordern sollte, bedarf es noch tatsächlicher Feststellungen, um diese Rechtsfolge entscheiden zu können. Zu Recht rügt die Beklagte das Fehlen derartiger Feststellungen im angefochtenen Urteil. Da das Revisionsgericht sie nicht selbst treffen kann, war der Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen. Sollte die Frage der Unterhaltsverpflichtung allein von der Zahlung von Kindergeld an den Vater des K. abhängen, wird das LSG dabei die vom Senat - in der Entscheidung vom 29. Januar 1980 - 3 RK 101/78 - entwickelten Grundsätze zu beachten haben.

 

Fundstellen

Haufe-Index 518607

BSGE, 68

Breith. 1981, 562

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