Beteiligte

Kläger und Revisionsbeklagter

Beklagte und Revisionsklägerin

 

Tatbestand

I.

Der klagende Landschaftsverband (überörtlicher Sozialhilfeträger) begehrt von der beklagten Knappschaft Ersatz von Kosten, die er bei der Beschaffung eines elektrischen Zimmerfahrstuhls für den Sohn des bei der Beklagten versicherten Beigeladenen aufgewendet hat.

Der jetzt 30-jährige Sohn des Beigeladenen leidet an einer schweren, langsam fortschreitenden Muskelsystemerkrankung (Muskelschwund) sowie an starker Übergewichtigkeit; er ist hochgradig körperbehindert. Er kann u.a. weder stehen noch geben und ist auch nicht mehr in der Lage, einen handbetriebenen Krankenfahrstuhl fortzubewegen. Auch seine Arme sind von der Erkrankung stark betroffen, mit den Fingern kann er gerade noch ein Buch umblättern. Der Beigeladene und seine Ehefrau versorgen den Behinderten, obwohl beide an einer Gefügestörung der Wirbelsäule leiden und die Mutter an einem Dickdarmtumor operiert worden ist und einen künstlichen Darmausgang hat.

Nachdem die Beklagte dem Beigeladenen für seinen Sohn einen elektrischen Straßenfahrstuhl bewilligt hatte, beantragte dieser zusätzlich einen elektrischen Zimmerfahrstuhl, der seinem Sohn ärztlich verordnet worden war. Die Beklagte lehnte die Gewährung eines elektrischen Zimmerfahrstuhls ab (Schreiben vom 23. Februar 1976), weil damit das Maß des Notwendigen überschritten würde. Daraufhin beantragte der Beigeladene beim Kläger als Sozialhilfeträger einen elektrischen Zimmerfahrstuhl. Mit Schreiben vom 14. September 1976 wurde ihm dieser bewilligt. Am selben Tage forderte aber der Kläger die Beklagte auf, ihm die Kosten in Höhe von 3732,59 DM zu erstatten. Das lehnte die Beklagte mit der Begründung ab (Schreiben vom 22. Oktober 1976), der Behinderte sei vollständig auf die Hilfe von Pflegepersonen angewiesen; ein elektrischer Zimmerfahrstuhl erfülle somit nicht die Funktion eines Hilfsmittels, sondern erleichtere nur die pflegerische Betreuung. Der Behinderte sei darüber hinaus mit einem Schiebefahrstuhl zum Gebrauch in der Wohnung ausgestattet.

Das Sozialgericht (SG) Münster hat die Beklagte zur Zahlung von 3732,59 DM verurteilt (Urteil vom 31. August 1977). Dem Kläger stehe ein Ersatzanspruch nach § 109 Reichsknappschaftsgesetz (RKG) i.V.m. den §§ 531 ff. Reichsversicherungsordnung (RVO) gegen die Beklagte zu. Er habe den Sohn des Beigeladenen, der durch diesen bei der Beklagten familienversichert sei, durch die Gewährung eines elektrischen Zimmerfahrstuhls nach den §§ 39, 40 Bundessozialhilfegesetz (BSHG) unterstützt. Hierfür könne er Ersatz verlangen, weil der Beigeladene für seinen Sohn einen Anspruch auf Lieferung eines solchen Fahrstuhls nach § 182b RVO gegen die Beklagte habe. Ein Gerät sei immer dann ein Hilfsmittel im Sinne des § 182b RVO, wenn es geeignet und in der Lage sei, an die Stelle eines nicht oder nicht voll funktionsfähigen Körperorgans zu treten und dessen Funktion möglichst weitgehend zu übernehmen oder die Behinderung, die durch den Funktionsausfall dieses Körperorgans verursacht worden sei, auszugleichen. Diese Voraussetzungen seien hier erfüllt. Der Behinderte sei unstreitig nicht in der Lage, ohne fremde Hilfe einen Ortswechsel in der Wohnung vorzunehmen. Er könne keinen handbetriebenen Fahrstuhl fortbewegen und sei somit auf die Benutzung eines elektrischen Zimmerfahrstuhls angewiesen. Dieser sei somit ein Hilfsmittel i.S. des § 182b RVO, auch wenn er gleichzeitig die Pflege erleichtere. Die Ausstattung überschreite nicht das Maß des Notwendigen, da ein mechanischer Schiebefahrstuhl den Behinderten nicht in die Lage versetze, sich unabhängig von einer Pflegeperson in der Wohnung zu bewegen. Der Einwand der Beklagten, die Fortbewegung des Behinderten könne innerhalb der Wohnung durch Familienangehörige geleistet werden, könne zu keiner anderen Entscheidung führen.

Die Beklagte hat die in dem angefochtenen Urteil zugelassene Sprungrevision eingelegt und der Revisionsschrift eine fotokopierte Abschrift der Sitzungsniederschrift vom 31. August 1977 beigefügt, aus der sich ergibt, daß sich der Kläger mit der Einlegung der Sprungrevision einverstanden erklärt hat. Die Beklagte ist der Auffassung, daß die Ausstattung mit einem elektrischen Zimmerfahrstuhl über den Rahmen des § 182 Abs. 2 RVO hinausgehe. Die Krankenkasse sei ferner bei bestimmten Hilfsmitteln dann nicht zu einer Gewährung verpflichtet, wenn es dem Behinderten möglich sei, seine Behinderung durch die an sich zumutbare Hilfe mit ihm zusammenwohnender Angehöriger auszugleichen (BSG, Urteil vom 13. Februar 1975 - 3 RK 35/74 -). Im Vergleich zu anderen pflegerischen Verrichtungen, die eines erheblichen Kraftaufwandes bedürften, sei es relativ leicht, den Behinderten im Fahrstuhl zu schieben.

Die Beklagte beantragt,das Urteil des SG aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,die Revision zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Der Beigeladene ist im Revisionsverfahren nicht vertreten.

 

Entscheidungsgründe

II.

Die zugelassene Revision der Beklagten ist nicht begründet.

Nach § 161 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) steht den Beteiligten gegen das Urteil eines SG die Revision zu, wenn - u.a. - der Gegner schriftlich zustimmt. Die am 31. August 1977 von dem Bevollmächtigten des Klägers vor dem SG mündlich abgegebene und in der Sitzungsniederschrift protokollierte Erklärung, er sei mit der Einlegung der Sprungrevision durch die Beklagte einverstanden, ist ausreichend. Die Zustimmungserklärung kann auch zur Niederschrift des SG vor der Verkündung des sozialgerichtlichen Urteils abgegeben werden (vgl. BSG in SozR Nr. 14 zu § 161 SGG; SozR 1500 § 161 Nr. 5). Auch reicht es aus, wenn die Abschrift dieser Niederschrift in Fotokopie der Revisionsschrift beigefügt wird (SozR Nr. 17 zu § 161 SGG).

Es handelt sich um eine Angelegenheit der Knappschaftsversicherung im Sinne des § 40 Satz 2 SGG, für die der 5. Senat zuständig ist. Die Klägerin macht Ansprüche nach dem RKG geltend. Daran ändert sich auch nichts dadurch, daß die in Betracht kommenden Vorschriften des RKG auf die allgemeinen Vorschriften der RVO verweisen.

Der Kläger hat gegen die Beklagte, wie das SG zutreffend entschieden hat, einen Ersatzanspruch in Höhe von 3732,59 DM, die er zur Beschaffung eines elektrischen Zimmerfahrstuhls für das familienhilfeberechtigte Kind des Beigeladenen aufgewendet hat. Nach § 109 RKG i.V.m. § 1531 RVO kann ein Träger der Sozialhilfe, der nach gesetzlicher Pflicht einen Hilfsbedürftigen für eine Zeit, für die er einen Anspruch aufgrund der RVO hatte oder noch hat, bis zur Höhe dieses Anspruchs nach den §§ 1532 - 1537 RVO Ersatz verlangen. Das gleiche gilt, wenn Angehörige des Berechtigten unterstützt werden für Ansprüche, die dem Berechtigten mit Rücksicht auf diese Angehörigen zustehen.

Der Kläger hat als überörtlicher Träger der Sozialhilfe den Sohn des Beigeladenen im Rahmen der Eingliederungshilfe - (vgl. §§ 39 und 40 BSHG), also nach gesetzlicher Pflicht, unterstützt, indem er ihm einen elektrischen Zimmerfahrstuhl beschafft hat. Entgegen der Ansicht der Beklagten hatte auch der Beigeladene gegen diese nach § 20 RKG i.V.m. den §§ 182 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. c, 182b und 205 Abs. 1 Satz 1 RVO für seinen behinderten Sohn einen Anspruch auf Gewährung eines derartigen Zimmerfahrstuhls. Der Beigeladene hat nach § 20 RKG i.V.m. § 182b RVO und nach § 48 der Satzung der Beklagten für seinen Sohn einen Anspruch auf Ausstattung mit Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die erforderlich sind, um einer bedrohenden Behinderung vorzubeugen, den Erfolg der Heilbehandlung zu sichern, oder - was hier allein in Betracht kommt - eine körperliche Behinderung auszugleichen. Dem Leistungsbereich der gesetzlichen Krankenversicherung sind allerdings nur solche Hilfsmittel zuzuordnen, die die Folgen eines regelwidrigen Körperzustandes in medizinischer Hinsicht bessern, beheben oder beseitigen. Sie müssen dazu dienen, die natürlichen Funktionen eines nicht oder nicht voll funktionsfähigen Körperorgans zu ersetzen oder zu ergänzen. So sind nach der Rechtsprechung des BSG solche Geräte Hilfsmittel, die unmittelbar das Hören, das Gehen, das Greifen, das Sitzen oder Sehen ermöglichen, ersetzen oder erleichtern (vgl. BSG, Urteil vom 15. Februar 1978 - 3 RK 36/76 -).

Wie das SG unangegriffen festgestellt hat, ist der Versicherte nicht in der Lage, zu gehen oder zu stehen; er kann nicht ohne fremde Hilfe einen Ortswechsel in der Wohnung vornehmen. Da er darüber hinaus sich auch nicht in einem handbetriebenen Fahrstuhl fortbewegen kann, kann er sich ohne fremde Hilfe nur mit Hilfe eines elektrischen Zimmerfahrstuhls in der Wohnung bewegen. Damit ist für ihn der elektrische Zimmerfahrstuhl ein Hilfsmittel i.S. des § 182b RVO, weil er das Gehen ersetzt.

Die Ausstattung des Behinderten mit einem elektrischen Zimmerfahrstuhl verstößt auch nicht gegen das Gebot des § 182 Abs. 2 RVO, der im Rahmen des § 182b RVO Anwendung findet. Er überschreitet nicht das Maß des Notwendigen. Der Versicherte hat Anspruch auf die Krankenpflege, die geeignet ist, der Art und Schwere seiner Krankheit entsprechend das Ziel der Krankenpflege am wirtschaftlichsten herbeizuführen. Im vorliegenden Fall erfüllt nur ein elektrischer Zimmerfahrstuhl diese Voraussetzungen, weil nur dieser Fahrstuhl den Behinderten in die Lage versetzt, sich ohne fremde Hilfe in der Wohnung zu bewegen. Es ist allerdings richtig, daß im vorliegenden Fall auch ein elektrischer Zimmerfahrstuhl bei Anlegung eines allgemeinen Maßstabes den Freiheitsraum und die Selbständigkeit des Behinderten nur geringfügig erweitert, jedoch kann bei besonders starken Behinderungen kein allgemeiner Maßstab angewendet werden. Bei einer so starken Behinderung wie sie beim Sohn des Beigeladenen vorliegt, stellt die Möglichkeit, aus eigener Kraft den Standort in der Wohnung verändern zu können, bereits eine erhebliche Ausdehnung des Freiheitsraumes und der Selbständigkeit des Behinderten dar. Er kann z.B. einer Sonneneinstrahlung oder Zugluft ausweichen, in einem anderen Raum, an ein Fenster oder an eine Tür fahren, um dort etwas zu sehen oder sich bemerkbar zu machen und dergl. mehr. Für einen derartig stark Behinderten ist auch die damit verbundene objektiv geringfügige Verkleinerung der Abhängigkeit von Pflegepersonen von großer subjektiver Bedeutung. Deshalb kann die Leistungspflicht der Beklagten auch nicht dadurch entfallen, daß die Eltern den Sohn innerhalb der Wohnung mit dem vorhandenen Fahrstuhl hin- und herschieben können. Abgesehen davon, daß die Eltern nicht immer in der Wohnung sind und daß beide Elternteile an einer Gefügestörung der Wirbelsäule leiden und die Mutter auch noch aus anderen gesundheitlichen Gründen körperlich stark beeinträchtigt ist, soll durch den Anspruch auf Ausstattung mit Hilfsmitteln i.S. des § 182b RVO dem Behinderten eine möglichst große Selbständigkeit und Unabhängigkeit vom Pflegepersonal gegeben werden. Dieses Ziel hat bei Pflichtleistungen der Krankenkasse Vorrang vor Erwägungen über die zumutbare Hilfe von Familienangehörigen. Insofern besteht auch keine Abweichung vom Urteil des 3. Senats des BSG vom 13. Februar 1975 (SozR 2200 § 187 Nr. 3), das bei einer "Kannleistung" einer Krankenkasse i.S. des § 187 Nr. 3 RVO a.F. in einem Nebensatz auch auf eine "an sich zumutbare Hilfe der Familienangehörigen" hinweist. Wenn der elektrische Zimmerfahrstuhl die körperliche Behinderung in einem für den Behinderten bedeutsamen Maße ausgleicht, steht es der Anwendung des § 182b RVO auch nicht entgegen, daß dieses Hilfsmittel gleichzeitig die Pflege erleichtert. Naturgemäß hat jedes Hilfsmittel, welches eine körperliche Behinderung ausgleicht, auch die Wirkung einer Pflegeerleichterung.

Demnach steht dem Kläger ein Ersatzanspruch in Höhe von 3732,59 DM gegen die Beklagte zu, so daß der Revision der Beklagten gegen das Urteil des SG der Erfolg versagt bleiben mußte.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI518717

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