Beteiligte

Kläger und Revisionskläger

Beklagte und Revisionsbeklagte

 

Tatbestand

I.

Die Beteiligten streiten um den Kostenersatz für ein Blattwendegerät.

Der 1929 geborene R… W… (W.) ist als Rentner bei der Beklagten pflichtversichert. Er leidet an einer Multiplen Sklerose, die zu einer weitgehenden Lähmung der Gliedmaßen geführt hat. Im Dezember 1977 hatte die Lähmung an den Händen ein Ausmaß erreicht, daß W. nicht mehr in der Lage war, selbst die Blätter eines Buches um zuwenden. Er beantragte bei der Beklagten die Beschaffung eines elektro-pneumatischen Lesegerätes (Blattwendegerät) unter Hinweis auf eine Bescheinigung des praktischen Arztes Dr. S…, der die Notwendigkeit eines solchen Gerätes bestätigt hatte. Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 16. Dezember 1977 die Beschaffung eines Blattwendegerätes ab, weil dafür keine medizinische Notwendigkeit bestehe. Der Kläger schaffte daraufhin ein Blattwendegerät zum Preise von 3.319,68 M an, stellte es dem Hilfsbedürftigen W. zur Verfügung und machte gegen die Beklagte einen Ersatzanspruch geltend. Die Beklagte lehnte den Anspruch ab, da das Gerät kein Hilfsmittel im Sinne des § 182b der Reichsversicherungsordnung (RVO) sei, sondern eine Maßnahme zur Eingliederungshilfe darstelle.

Der Kläger hat mit der Klage vor dem Sozialgericht (SG) Stuttgart seinen Ersatzanspruch weiterverfolgt. Das SG hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 24. August 1978): Die Krankenkasse habe nur solche Leistungen zu gewähren, die im medizinischen Bereich lägen. W. benötige das Blattwendegerät nicht für seine alltäglichen Grundbedürfnisse, es gleiche vielmehr seine Behinderung auf gesellschaftlichem oder privatem Gebiet aus. Deshalb sei die Beklagte nicht leistungspflichtig.

Die Berufung des Klägers gegen diese Entscheidung hat das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg, mit Urteil vom 20. Juli 1979 zurückgewiesen. Das Berufungsgericht hat die Auffassung vertreten, daß das Gerät zwar geeignet sei, die Lähmung der Hände wenigstens in geringem Umfange auszugleichen, dennoch führe es nicht zum medizinischen Ausgleich seiner körperlichen Behinderung, sondern ausschließlich dazu, die im privaten Bereich liegenden Benachteiligungsfolgen zu mildern. Der Zweck des Blattwendegerätes bestehe darin, W. ein Lesen ohne fremde Hilfe zu ermöglichen. Dadurch trete jedoch nur eine geringe Ausdehnung seines Freiheitsraumes und seiner Selbständigkeit ein.

Gegen dieses Urteil richtet sich die zugelassene Revision des Klägers. Er rügt eine Verletzung des § 182b RVO. Das Blattwendegerät diene dazu, die mangelnde Bewegungsfähigkeit der Hände, wenn auch nur in einem begrenzten Umfange, zu ersetzen. Das genüge aber bereits, um die Hilfsmitteleigenschaft des Gerätes zu bejahen. Es treffe zwar zu, daß der Freiheitsraum des Behinderten objektiv nur geringfügig erweitert werde, entscheidend sei aber, daß durch das Gerät in subjektiver Hinsicht eine wesentliche Ausdehnung seiner Selbständigkeit möglich werde. Ein an Armen und Beinen gelähmter Behinderter sei ständig auf fremde Hilfe angewiesen, und das Lesen und Fernsehen seien die einzigen ihm verbleibenden Möglichkeiten der Teilnahme an der Umwelt.

Der Kläger beantragt,das angefochtene Urteil sowie das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 24.8.1978 - S 10 Kr 1392/78 - aufzuheben und die Beklagte zum Ersatz der Kosten eines Blattwendegerätes in Höhe von 3.319,68 M zu verurteilen.

Die Beklagte beantragt,die Revision zurückzuweisen.

Sie hält die Vorentscheidungen für zutreffend, räumt allerdings ein, daß das Blattwendegerät geeignet sei, eine ausgefallene Körperfunktion - nämlich das Greifen - wenigstens teilweise, jedoch unmittelbar zu ersetzen.

 

Entscheidungsgründe

II.

Die Revision des Klägers ist begründet. Ihm steht ein Ersatzanspruch gegen die Beklagte zu.

Der Ersatzanspruch des Klägers, der als Sozialhilfeträger den hilfsbedürftigen W. durch die Beschaffung eines Blattwendegerätes unterstützt hat, ist nach § 1531 Satz 1 i.V.m. § 1532 und § 1533 Nr. 2 RVO begründet, wenn W. ein Anspruch nach der RVO gegen die Beklagte auf Lieferung des Gerätes zustand. Als Rechtsgrundlage für einen solchen Anspruch kommt § 182 Abs. 1 Nr. 1 Buchst c i.V.m. § 182b RVO in Betracht. Danach hat ein Versicherter Anspruch auf Ausstattung mit Hilfsmitteln, die erforderlich sind, um einer drohenden Behinderung vorzubeugen, den Erfolg der Heilbehandlung zu sichern oder eine körperliche Behinderung gleichzustellen. Bei dem an Multipler Sklerose leidenden W. war im Laufe der Zeit - fortschreitend - eine weitgehende Lähmung der Beine sowie der Arme und Hände eingetreten. W. war infolgedessen nicht mehr in der Lage - das ist zwischen den Beteiligten unstreitig -, mit den Händen zu greifen, und konnte nicht mehr die Seiten eines Buches oder einer Zeitschrift umwenden. Das Blattwendegerät ist ein Gerät, das durch eine elektro-pneumatische Mechanik die Seiten eines in das Gerät eingelegten Buches oder einer Zeitschrift umwendet. Es dient also dazu, die durch die Krankheit ausgefallene Greif-Funktion der Hände für den beschriebenen Zweck zu ersetzen. Es ist damit ein Hilfsmittel im Sinne des § 182b RVO, denn es ersetzt eine ausgefallene körperliche Funktion (vgl. BSGE 33, 263, 265; SozR 2200 § 187 RVO Nr. 3; SozR 2200 § 182b RVO Nr. 9, 10, und 12; Bundessozialgericht - BSG - Urteil vom 06. März 1980 - 3 RK 96/78 -) und bezweckte die durch den Funktionsausfall eintretende körperliche Behinderung auszugleichen. Daß das Gerät den Funktionsausfall nicht vollkommen auszugleichen vermag, sondern nur zu einem geringen Teil die Funktion der Hände ersetzt, steht seiner Hilfsmitteleigenschaft nicht entgegen. Das Gesetz fordert nicht den völligen Ausgleich der körperlichen Behinderung, zumal technische Geräte ohnehin in aller Regel nicht im Stande sind, den Funktionsausfall von körperlichen Organen gleichwertig zu ersetzen. Die Voraussetzungen des § 182b Satz 1 RVO sind vielmehr auch dann erfüllt, wenn das Gerät überhaupt dem Ausgleich körperlicher Behinderungen dient.

Der Senat hat jedoch in ständiger Rechtsprechung betont, daß nicht jedes Hilfsmittel in den Leistungsbereich der gesetzlichen Krankenversicherung fällt. So müssen die Geräte außer Betracht bleiben, die dazu dienen, lediglich die Folgen und Auswirkungen der Behinderung in den verschiedensten Lebensbereichen, insbesondere auf beruflichem, wirtschaftlichem oder privatem Gebiet zu beseitigen oder zu mildern (vgl. BSGE 37, 138, 141; 45, 133, 134; SozR 2200 § 182b RVO, Nr. 5, 6 und 12). Die Abgrenzung zwischen den von der Krankenkasse aufzubringenden und den außerhalb ihrer Leistungspflicht stehenden Hilfsmitteln ist oft nicht leicht zu ziehen, zumal es für diese Abgrenzung nicht darauf ankommt, ob das Hilfsmittel unmittelbar am Körper ausgleichend wirkt (vgl. BSGE 45, 133, 134) oder ob auf andere Weise der Ausgleich, erzielt wird (vgl. SozR 2200 § 182b RVO Nr. 12). In der Regel lassen sich jedoch die Abgrenzungsmerkmale aus der Wirkungsweise des Hilfsmittels entnehmen. So hat der Senat Geräten die Hilfsmitteleigenschaft zugesprochen, die für die elementare Körperpflege erforderlich sind (vgl. SozR 2200 § 187 RVO Nr. 3; SozR 2200 § 182b RVO, Nr. 10), weil der für die Arbeitsfähigkeit erforderliche Gesundheitszustand von der Befriedigung lebensnotwendiger Grundbedürfnisse abhängt und die (Wieder-) Herstellung der Arbeitsfähigkeit ein vorrangiges Ziel der gesetzlichen Krankenversicherung ist. Ebenso kann es keinem Zweifel unterliegen, daß Geräte, die speziell dazu dienen, Behinderten die Nahrungsaufnahme zu ermöglichen, als Hilfsmittel anzusprechen sind (vgl. BSG, Urteil vom 19. Dezember 1978 - 3 RK 2/78 = KVRS 2240/29). In beiden Fällen geht es darum, Grundbedürfnisse des Menschen zu erfüllen. Zutreffend hat deshalb im vorliegenden Rechtsstreit das SG darauf abgestellt, ob W. das Blattwendegerät dafür benötigte, seine Grundbedürfnisse zu befriedigen. Im Gegensatz zur Auffassung des SG bejaht der Senat allerdings diese Zweckbestimmung des Hilfsmittels. Zwar muß das Hilfsmittel eine körperliche Behinderung ausgleichen, jedoch gehört es zu den Grundbedürfnissen, daß einem Versicherten nicht nur die Befriedigung körperlicher Bedürfnisse ermöglicht wird, wie eine elementare Körperpflege und die Nahrungsaufnahme, sondern es muß ihm auch ermöglicht werden, sich geistig zu betätigen. Allerdings wird dabei die Krankenkasse nur in einem eng begrenzten Rahmen verpflichtet sein, weil sonst die Grenze zum Ausgleich von Behinderungsfolgen überschritten werden könnte. Daraus folgt, daß es durchaus zum Aufgabenkreis der Krankenkasse gehören kann, einem Versicherten das Lesen zu ermöglichen - zwar nicht in dem Sinne, daß ihm die Fertigkeit des Lesens zu vermitteln wäre (vgl. zur Fertigkeit des Schreibens BSGE 37, 138, 140) -, sondern daß ihm die zum Lesen erforderlichen körperlichen Fähigkeiten ersetzt werden (vgl. SozR 2200, § 182b RVO Nr. 12). Übereinstimmend mit diesen Grundsätzen hat der 5. Senat darauf abgestellt, ob durch das Hilfsmittel der dem Behinderten zur Verfügung stehende Freiheitsraum erweitert wird (vgl. SozR 2200, § 182b RVO Nr. 9); auch dabei kam es entscheidend darauf an, die Grundbedürfnisse des Behinderten zu erfüllen. Bei dieser Abgrenzung bedarf es nach Auffassung des erkennenden Senats nicht des Rückgriffs auf das Merkmal der "Notwendigkeit", das in § 182 Abs. 2 RVO generell für die gesamte Krankenpflege bestimmt wird, weil die Abgrenzung bereits aus dem Begriff des Hilfsmittels abzuleiten ist, denn § 182b RVO ordnet der gesetzlichen Krankenversicherung nur die Hilfsmittel zu, die "erforderlich" sind. Für die Beurteilung der Frage, ob ein Hilfsmittel dazu dient, bei der Erfüllung von Grundbedürfnissen zu helfen, d.h. ob es für den Behinderten erforderlich ist, kommt es wesentlich auf die subjektiven Verhältnisse des Behinderten an. Insoweit ist im vorliegenden Falle zu beachten, daß der geistig bewegliche W. infolge des progredienten Krankheitsverlaufs die Beweglichkeit der Beine und Arme mehr und mehr eingebüßt hat. Nach den Feststellungen des LSG ist er nicht mehr in der Lage, ohne Unterstützung fremder Personen zu stehen, zu gehen, zu schreiben, zu zeichnen oder sonst mit seinen Händen tätig zu sein. Bei diesem Zustand ermöglicht ihm das Blattwendegerät das Lesen ohne fremde Hilfe, wenn ihm ein Buch oder ein Zeitschrift zugebracht worden ist. Das Gerät ermöglicht dem Behinderten damit wenigstens in bescheidenem Umfang eine geistige Tätigkeit und erweitert - in für ihn erheblichem Umfang - seinen Freiheitsraum.

Da das Blattwendegerät für den behinderten W. als erforderliches Hilfsmittel anzusehen ist, wäre die Beklagte verpflichtet gewesen, es ihm auf seinen Antrag hin zu verschaffen. Die Ersatzforderung des Klägers besteht demgemäß zu Recht. Da wegen der Höhe des Ersatzanspruchs zwischen den Beteiligten kein Streit besteht, waren dem Kläger der von ihm geforderte Betrag zuzuerkennen und die ablehnenden Vorentscheidungen aufzuheben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.

 

Fundstellen

Haufe-Index 518604

BSGE, 77

Breith. 1981, 559

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