Entscheidungsstichwort (Thema)

Beginn der Versorgung nach dem OEG. kein zurechenbares Verhalten des gesetzlichen Vertreters, der gleichzeitig Schädiger ist. Rechtsqualität der Waisengrundrente nach dem OEG im Unterschied zum BVG. Schutzzweck des OEG. Unbilligkeit als Leistungsausschließungsgrund. Rechtsmißbrauch

 

Leitsatz (amtlich)

Waisengrundrente nach dem OEG dient im Unterschied zur Waisengrundrente nach dem BVG ausschließlich dem Ersatz eines Unterhaltsanspruchs. Halbwaisengrundrente nach dem OEG steht einem Kinde nicht zu, wenn der lebende Elternteil der Schädiger ist, aber die Personensorge noch ausübt und Unterhalt in vollem Umfang gewährt.

 

Leitsatz (redaktionell)

Ein minderjähriges Kind, dessen Vater die Mutter getötet hat, hat auch dann Anspruch auf Gewährung einer Halbwaisenrente, wenn der Vater als gesetzlicher Vertreter keinen Versorgungsantrag nach dem OEG stellt, um seine Straftat nicht aufzudecken.

Ein Anspruch auf Halbwaisenrente ist jedoch nicht gegeben, solange der Schädiger dem Kind Unterhalt leistet.

 

Orientierungssatz

1. § 60 Abs 1 BVG idF des KOVAnpG 10 vom 10.8.1978 in Kraft getreten am 1.1.1979 soll "insbesondere den Belangen vom Impfgeschädigten und Opfern von Gewalttaten Rechnung" tragen. Nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats (vgl Urteil vom 1.3.1984 9a RVg 1/82 = SozR 2200 § 205 Nr 55) bezieht sich dies erkennbar auf die nach dem Inkrafttreten des Gesetzes gestellten Anträge, die sich jedoch auch auf zurückliegende Schadensfälle beziehen können, und zwar im Einzelfall - wie hier - mit einer Wirksamkeit vor dem 1.1.1979.

2. Nach dem Schutzzweck des OEG kann es nicht in dem Belieben des Schädigers liegen, die von der Gewalttat Betroffenen, sei es den Geschädigten selbst oder dessen Hinterbliebenen, von einer Entschädigung nach dem OEG auszuschließen. Dem Geschädigten steht ein eigenständiger Anspruch zu, und zwar unabhängig von seinen zivilrechtlichen Schadensersatzbeziehungen zum Schädiger; jener Anspruch gewährleistet, daß dem Gewaltopfer die ihm gesetzlich zugedachten Hilfen zuteil werden. Aus dieser Sicht darf es sich für den nach dem OEG Anspruchsberechtigten nicht nachteilig auswirken, daß das Handeln des Schädigers, der gleichzeitig gesetzlicher Vertreter ist, sich an eigennützigen Motiven orientiert, die von der begangenen Straftat bestimmt sind. In einem solchen Falle darf das pflichtwidrige Unterlassen des Vertreters dem Vertretenen nicht zugerechnet werden.

3. Die Zweckbestimmung des BVG, wonach die Waisenrente nicht nur die durch den Wegfall des Unterhaltspflichtigen erlittene Einbuße ersetzen soll, sondern als zusätzlicher Anknüpfungspunkt auch die im einzelnen nicht wägbaren Belastungen im menschlichen und persönlichen Bereich hinzukommen, ist auf das OEG nicht uneingeschränkt übertragbar. Die Waisenrente nach dem OEG ist, wie auch sonst im Bereich der sozialen Sicherung, ausschließlich vom Unterhaltscharakter geprägt.

4. Zur Frage der Unbilligkeit einer sozialen Entschädigungsleistung nach dem OEG für die Zeit der Unterhaltsleistung durch den Schädiger.

5. Zum Schutzzweck des OEG.

6. Nach einem allgemeinen auch im Sozialrecht geltenden Rechtsgedanken kann ein Recht nicht geltend gemacht werden, wenn dies nicht sozial angemessen geschieht und wenn es der rechtsethischen Funktion des Rechts widerspricht (vgl BSG 7.11.1979 9 RVg 2/78 = BSGE 49, 104, 111 mwN). Der Gesichtspunkt des Rechtsmißbrauchs orientiert sich an dem Schutzzweck der Norm.

 

Normenkette

OEG § 1 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1976-05-11, Abs. 5 Fassung: 1976-05-11, § 2 Abs. 1 Fassung: 1976-05-11; BVG §§ 46, 60 Abs. 1 S. 2 Fassung: 1978-08-10, S. 3 Fassung: 1978-08-10, § 61 Buchst. a Fassung: 1964-02-21; BGB §§ 278, 1629 Abs. 1 S. 1, § 1681 Abs. 1 S. 1, § 1793 S. 1, § 1791b Abs. 1 S. 1; SGB 1 § 36 Abs. 1, § 5 S. 1

 

Verfahrensgang

LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 14.01.1983; Aktenzeichen L 8 V 1070/82 -2-)

SG Stuttgart (Entscheidung vom 30.04.1982; Aktenzeichen S 17 V 1284/81)

 

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist der Beginn der Halbwaisenrente nach dem Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten (OEG) streitig.

Die am 11. Dezember 1966 geborene Klägerin ist das Kind der Eheleute R und R B. R B tötete am 8. Juni 1977 seine Ehefrau. Im September 1978 wurde er in Untersuchungshaft genommen. Das Landgericht Stuttgart verurteilte ihn wegen dieser Straftat am 20. September 1979 zu einer Freiheitsstrafe von 14 Jahren.

Das Vormundschaftsgericht Stuttgart stellte mit Beschluß vom 1. Juli 1980 das Ruhen der elterlichen Gewalt über die Klägerin fest und ordnete für die Zeit des Ruhens der elterlichen Sorge die Vormundschaft des Jugendamtes Stuttgart an. Diese Behörde beantragte am 30. Juli 1980 für die Klägerin beim Versorgungsamt Leistungen nach dem OEG rückwirkend ab 8. Juni 1977. Das Versorgungsamt gewährte der Klägerin Halbwaisenrente vom Juli 1980 an. Der Widerspruch blieb erfolglos (Bescheid vom 7. Januar 1981 bzw Widerspruchsbescheid vom 13. April 1981).

Das Sozialgericht (SG) hat den Beklagten unter Zulassung der Berufung zur Zahlung von Versorgungsleistungen ab 1. Juli 1977 verurteilt. Das Landessozialgericht (LSG) hat das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen. Es hat ua ausgeführt: Für den Leistungsbeginn sei grundsätzlich der Antragsmonat maßgebend. Eine schuldlose Verhinderung der Antragstellung sei nicht anzunehmen. Die Klägerin müsse sich das Verschulden ihres gesetzlichen Vertreters B. - des Vaters - anrechnen lassen. Daß dieser zur Verdeckung einer eigenen Straftat es unterlassen habe, den Antrag selbst zu stellen, entlaste die Klägerin nicht. Im übrigen wäre eine Leistungsgewährung vor Oktober 1978 auch unbillig. B. habe der Klägerin bis September 1978 - dem Zeitpunkt seiner Verhaftung - Unterhalt geleistet. § 1 Abs 1 OEG diene allein der Abwendung wirtschaftlicher Folgen. Der Klägerin könne nach dem Sinn des Gesetzes Hinterbliebenenversorgung nicht neben dem in Anspruch genommenen Unterhalt zugestanden werden.

Die Klägerin hat die - vom LSG zugelassene - Revision eingelegt. Sie rügt die Verletzung materiellen Rechts. B. sei von der gesetzlichen Vertretungsmacht ausgeschlossen gewesen. Nach einem allgemeinen Grundsatz, der auch im öffentlichen Recht gelte, versage die Vertretungsbefugnis dort, wo der Vertreter Gegner des Vertretenen sei. Der Klägerin hätten gegenüber B. Ansprüche aus § 844 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) zugestanden, die mit der Anmeldung der Ansprüche nach dem OEG auf den Kostenträger übergegangen seien. Das Verschulden eines Vertreters sei dem Vertretenen nicht ausnahmslos zuzurechnen. Die Klägerin sei in ihren nach dem OEG schützenswerten Interessen durch ihren Vater mehrfach beeinträchtigt worden, einmal durch die Tötung ihrer Mutter und zum anderen durch das Unterlassen der rechtzeitigen Antragstellung. Bei dieser Fallkonstellation könne der Klägerin das Verschulden des B. nicht angelastet werden, sonst würde der Zweck des Gesetzes vereitelt werden.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des LSG Baden-Württemberg vom 14. Januar 1983 aufzuheben und die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des SG Stuttgart vom 30. April 1982 zurückzuweisen.

Der Beklagte beantragt,

die Revision der Klägerin zurückzuweisen.

Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz -SGG-).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Klägerin ist im wesentlichen begründet. Das SG hat im Gegensatz zum LSG zu Recht entschieden, daß der Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin Hinterbliebenenversorgung bereits für die Zeit vor dem Antragsmonat zu gewähren. Maßgebend für den Leistungsbeginn ist allerdings nicht der auf den Sterbemonat - 8. Juni 1977 - folgende Monat, sondern der Zeitpunkt, von dem an der Vater der Klägerin wegen seiner Verhaftung im September 1978 außerstande war, der Klägerin, wie bis dahin geschehen, den vollen Unterhalt zu leisten.

Nach § 1 Abs 1 Satz 1 OEG beginnt die Beschädigtenversorgung in entsprechender Anwendung des § 60 Abs 1 Bundesversorgungsgesetz -BVG- (in der bis zum 31. Dezember 1978 gültigen Fassung, zuletzt idF des Gesetzes vom 27. Juni 1977 - BGBl I 1037 -) mit dem Monat, in dem ihre Voraussetzungen erfüllt sind, frühestens mit dem Antragsmonat. Die durch das 10. Anpassungsgesetz - Kriegsopferversorgung - (10. AnpG-KOV) vom 10. August 1978 (BGBl I 1217) in § 60 Abs 1 BVG neu eingefügten Sätze 2 und 3 enthalten Ausnahmen hiervon. Versorgung ist auch für Zeiträume vor der Antragstellung zu leisten, wenn der Antrag innerhalb eines Jahres nach Eintritt der Schädigung gestellt wird (Satz 2). War der Beschädigte ohne sein Verschulden an der Antragstellung verhindert, verlängert sich die Frist um den Zeitraum der Verhinderung (Satz 3). Für die Hinterbliebenenversorgung gilt § 60 BVG mit der Maßgabe, daß bei der Erstantragstellung vor Ablauf eines Jahres nach dem Tode die Versorgung frühestens mit dem auf den Sterbemonat folgenden Monat beginnt (§ 61 Buchst a BVG iVm § 1 Abs 5 OEG).

Die in § 60 Abs 1 Satz 3 BVG enthaltene Neuregelung, die am 1. Januar 1979 in Kraft getreten ist (Art 8 des 10. AnpG-KOV), ist - wovon auch die Vorinstanzen zutreffend ausgegangen sind - auf den gegenwärtigen Fall anwendbar. Dem steht nicht entgegen, daß die Straftat, die zum Tode der Mutter der Klägerin geführt hatte, bereits im Juni 1977 und damit vor dem Inkrafttreten der einschlägigen Gesetzesvorschrift begangen worden ist. Im 10. AnpG-KOV sind keine Übergangsvorschriften für den zeitlichen Geltungsbereich der Neufassung enthalten. Die zur Neufassung des § 60 Abs 1 Sätze 2 und 3 gegebene Gesetzesbegründung (BR 138/78, S 50 zu Nr 37 Buchst a) verweist darauf, daß die Neuregelung "insbesondere den Belangen vom Impfgeschädigten und Opfern von Gewalttaten Rechnung" tragen soll. Nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats bezieht sich dies erkennbar auf die nach dem Inkrafttreten des Gesetzes gestellten Anträge, die sich jedoch auch auf zurückliegende Schadensfälle beziehen können (BSG SozR 2200 § 205 Nr 55), und zwar im Einzelfall - wie hier - mit einer Wirksamkeit vor dem 1. Januar 1979.

Die seinerzeit unter 15 Jahre alte und damit handlungsunfähige Klägerin (§ 36 Abs 1 Sozialgesetzbuch - Allgemeiner Teil - SGB I) war ohne ihr Verschulden daran gehindert, den Versorgungsantrag innerhalb der Jahresfrist nach dem Tode ihrer Mutter zu stellen (§ 1 Abs 1 Satz 1 OEG iVm § 61 Buchst a und § 60 Abs 1 Satz 3 BVG). Sie unterstand als Minderjährige bis zur Übertragung der Vormundschaft auf das Jugendamt (§ 1793 Satz 1, § 1791b Abs 1 Satz 1 BGB) der elterlichen Sorge, die ua die Vertretung des Kindes umfaßt (§ 1629 Abs 1 Satz 1 BGB). Infolge des Todes des einen Elternteils war das elterliche Sorgerecht und damit das Vertretungsrecht dem Vater der Klägerin allein übertragen (§ 1681 Abs 1 Satz 1 BGB). Dessen Verschulden, das in der nicht rechtzeitigen Antragstellung nach dem OEG gesehen werden könnte, ist dem Verschulden des Leistungsberechtigten - hier der Klägerin - gleichzuachten (§ 278 BGB). Indessen liegt ein derartiges Verschulden, das der Klägerin zuzurechnen wäre, nicht vor.

Richtig ist zwar, daß B. im Rahmen der elterlichen Sorge (§ 1626 Abs 1 BGB) sowie und gerade auch als gesetzlicher Vertreter (§ 1629 Abs 1 Satz 1 BGB) verpflichtet gewesen wäre, die Interessen seines Kindes wahrzunehmen. Dazu hätte es gehört, einen Versorgungsantrag nach dem OEG zu stellen. Diesem Gebot standen aus der Sicht des B. jedoch eigene gewichtige Interessen entgegen. Er mußte als Straftäter alles unterlassen, was der Entdeckung der Straftat bzw der Strafverfolgung hätte förderlich sein können. Folglich durfte er nicht selbst den Hinweis auf eine geschehene Straftat geben, was die Antragstellung nach dem OEG sicher bewirkt hätte. In dieser Zwangssituation hat B. seinen vermeintlich höherwertigen persönlichen Belangen den Vorrang eingeräumt. Er vermochte es mithin nicht, für die ihm anvertraute Schutzbefohlene zu "sorgen". Dieser Interessenwiderstreit des gesetzlichen Vertreters ist der Klägerin nicht als Verschulden anzulasten. Insbesondere darf er sich nicht nachteilig auf den Versorgungsanspruch der Klägerin auswirken. Nach dem Schutzzweck des OEG kann es nicht in dem Belieben des Schädigers liegen, die von der Gewalttat Betroffenen, sei es den Geschädigten selbst oder dessen Hinterbliebenen (§ 1 Abs 5 OEG), von einer Entschädigung nach dem OEG auszuschließen. Darauf würde es aber hinauslaufen, wenn man das Verhalten des B. der Klägerin zurechnen wollte. Das OEG ist aber gerade gegenteilig konzipiert. Dem Geschädigten steht ein eigenständiger Anspruch zu, und zwar unabhängig von seinen zivilrechtlichen Schadensersatzbeziehungen zum Schädiger; jener Anspruch gewährleistet, daß dem Gewaltopfer die ihm gesetzlich zugedachten Hilfen zuteil werden. Aus dieser Sicht darf es sich für den nach dem OEG Anspruchsberechtigten nicht nachteilig auswirken, daß das Handeln des Schädigers, der gleichzeitig gesetzlicher Vertreter ist, sich an eigennützigen Motiven orientiert, die von der begangenen Straftat bestimmt sind. In einem solchen Falle darf das pflichtwidrige Unterlassen des Vertreters dem Vertretenen nicht zugerechnet werden.

Gleichwohl steht der Klägerin nicht bereits Versorgung ab dem auf den Sterbemonat folgenden Monat zu (§ 61 Buchst a, § 60 Abs 1 Satz 3 BVG iVm § 1 Abs 5 OEG). Dies folgt aus der Tatsache, daß nach den Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) B. der Klägerin bis zu seiner Verhaftung im September 1978 den vollen Unterhalt geleistet hatte. Die Hinterbliebenenversorgung ist nach dem Recht des BVG, das auch für das OEG entsprechend gilt, allein davon abhängig, daß der Tod des Geschädigten durch eine Gewalttat herbeigeführt worden ist. Sie ist nicht - wie etwa im österreichischen Recht - auf den Ersatz des tatsächlichen Unterhaltsbedarfs beschränkt, der durch den Tod des Ernährers entgangen ist. Vielmehr geht das OEG nach den Grundsätzen des sozialen Entschädigungsrechts von einem typischen Lebenssachverhalt aus, läßt also eine abstrakte Unterhaltsfunktion genügen (BSGE 49, 104, 113, 114 = SozR 3800 § 2 Nr 1). Indes ist die Zweckbestimmung des BVG, wonach die Waisenrente nicht nur die durch den Wegfall des Unterhaltspflichtigen erlittene Einbuße ersetzen soll, sondern als zusätzlicher Anknüpfungspunkt auch die im einzelnen nicht wägbaren Belastungen im menschlichen und persönlichen Bereich hinzukommen (BSGE SozR 3100 § 45 Nr 5), auf das OEG nicht uneingeschränkt übertragbar. Die Waisenrente nach dem OEG ist, wie auch sonst im Bereich der sozialen Sicherung, ausschließlich vom Unterhaltscharakter geprägt (zur Unterhaltsersatzfunktion der Waisenrente vergleiche BVerfGE 17, 1, 10; 25, 167, 195; 28, 324, 348), ist somit auf einen finanziellen Ausgleich ausgerichtet. Dem steht § 1 Abs 1 OEG nicht entgegen. Die darin normierte "entsprechende Anwendung des BVG" gibt lediglich den Leistungsmaßstab für die gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen der Gewalttat an, läßt im übrigen aber die Rechtsqualität der nach dem OEG abgeleiteten Ansprüche unberührt.

Dies bestätigt der unterschiedliche Leistungszweck beider Gesetze. Das OEG hat die Gewalttat gerade nicht der durch Kriegseinwirkung bewirkten Schädigung gleichgesetzt. Es hat lediglich wegen der Folgen auf das BVG verwiesen. Das kommt durch die "entsprechende Anwendung des BVG", die auch für Hinterbliebene gilt (§ 1 Abs 5 OEG), zum Ausdruck. Beide Gesetze unterscheiden sich aber auch dadurch, daß die Hinterbliebenengrundrente nach dem BVG einem - wie ausgeführt - über die Unterhaltssicherung hinausgehenden Zweck dient. Hingegen ist bei Grundrenten nach anderen Gesetzen, die nur in entsprechender Anwendung des BVG zuerkannt werden, ein solcher vergleichsweiser zusätzlicher Bestimmungsfaktor nicht immer enthalten. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE) und des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) sowie die daraus resultierende Rechtsentwicklung bestätigen dies zusätzlich.

Nach § 76 Abs 1 Bundessozialhilfegesetz (BSHG) rechnet zum Einkommen im Sinne des BSHG ua die "Grundrente nach dem BVG". Bis zu dieser Regelung durch das 2. Änderungsgesetz vom 14. August 1969 (BGBl I 1153) war eine streitige Rechtsfrage, ob und welche Grundrente - etwa nur die Beschädigtengrundrente oder auch die Witwen- und Waisengrundrente - "zu einem ausdrücklich genannten Zweck gewährt werden" (§ 77 Abs 1 BSHG) und deshalb bei der Ermittlung des anrechenbaren Einkommens außer Betracht zu bleiben haben. Das BVerwG hat in seinem Urteil vom 24. August 1964 (BVerwGE 19, 198) entschieden, daß die Grundrente des Beschädigten eine zweckbestimmte Leistung in diesem Sinne sei. Es hat dies jedoch für die Grundrente der Witwen verneint (BVerwG, Urteil vom 26. Januar 1966, FEVS 13, 241 und NDV 1966, 155). Aus der nach dieser Rechtsprechung des BVerwG geschaffenen Neuregelung des § 76 Abs 1 BSHG folgt, daß jede Art von Grundrente nach dem BVG einem besonderen Zweck dient (Mergler/Zink, BSHG-Kommentar, 4. Aufl, § 76 RdNr 18 mit Hinweisen).

Damit ist nicht nur die Entscheidung des BVerwG vom 26. Januar 1966 (aaO), sondern auch die des BVerfG korrigiert, das in dem ersten Witwenrentenurteil noch ausgeführt hatte, Witwenrenten nach dem BVG dienten nur dem Unterhaltsersatz und nicht auch dem Ausgleich immaterieller Nachteile (BVerfGE 17, 1, 10). Mit dieser neuen Regelung ist vereinbar, daß Grundrenten, die in "entsprechender" Anwendung des BVG gezahlt werden, nicht, jedenfalls nicht ohne weitere Prüfung, die besondere Qualität der Kriegsopferhinterbliebenenrenten zugesprochen werden kann. Denn auch das BSHG unterscheidet zwischen der unmittelbaren und der entsprechenden Anwendung des BVG (vgl § 123 Abs 1 BSHG).

Eine derartige Differenzierung zwischen Kriegsopfern und "Opfern nach dem OEG" ist auch sachgerecht. Nach § 1 Abs 1 BVG sind die Folgen typischen Kriegsgeschehens zu entschädigen. Der Staat hat damit die ihm obliegende Entschädigungspflicht auch und gerade den Kriegsopfern gegenüber anerkannt, weil er den Einsatz der Gesundheit, des eigenen Lebens und des Lebens der Angehörigen verlangt hat (BSGE 26, 30, 36 = SozR Nr 7 zu § 7 BVG). Dieser im BVG verankerte Aufopferungsanspruch (BVerfGE 48, 281, 288 mwN) ist in der 1. Alternative des § 5 Satz 1 SGB I geregelt. Hingegen ist das OEG der 2. Alternative dieser Norm zuzurechnen. Danach wird soziale Entschädigung aus "anderen Gründen" als wegen eines Sonderopfers zugestanden (BSGE 52, 281, 286 f = SozR 3800 § 2 Nr 3; SozR 3800 § 10 Nr 1). Motive für diese nicht als Abgeltung eines besonderen Opfers gedachte Entschädigung nach dem OEG sind den Gesetzesmaterialien sowie aus der dem Gesetzesvorhaben zugrunde liegenden Literatur zu entnehmen (BSGE 49, 98, 101 = SozR 3800 § 1 Nr 1; BSGE 49, 104, 105 = SozR 3800 § 2 Nr 1). Die öffentliche Hand haftet für das unvollkommene Funktionieren der dem Staat zukommenden Verbrechensbekämpfung. Die staatliche Gemeinschaft tritt sonach aus Solidarität für den von einer Gewalttat betroffenen Bürger ein (BSGE 52 aaO).

Im gegenwärtigen Fall wäre eine soziale Entschädigungsleistung nach dem OEG für die Zeit der Unterhaltsleistung durch den Kläger "unbillig"; sie ist deshalb nach § 2 Abs 1 OEG zu versagen. "Unbillig" in dem bezeichneten Sinne sind Leistungen der Allgemeinheit zum Ausgleich der Gewalttatfolgen dann, wenn sie nach den besonderen Umständen des Einzelfalles der grundlegenden Wertung des OEG widersprechen (BSGE 49, 104, 107; 50, 95, 97). Dabei kommen nach der Rechtsprechung sowohl tatbezogene wie auch tatunabhängige Umstände in Frage (BSGE 49, 104, 108). Sie sind allerdings nicht ausschließlich auf die Person des Gewaltopfers bezogen, wie zunächst aus der Fassung des ursprünglichen Gesetzesentwurfes des § 3 OEG "in dem eigenen Verhalten des Anspruchstellers liegenden Gründen unbillig ..." entnommen werden müßte. Vielmehr ist im Verlaufe des Gesetzgebungsverfahrens mit der Einfügung des Wortes "insbesondere" vor "in dem eigenen Verhalten ..." deutlich gemacht, daß Entschädigung auch versagt werden kann, wenn sie etwa dem Täter zugute kommt. Darauf stellt die Gesetzesbegründung mit dem Hinweis ab, daß bei Straftaten zwischen Angehörigen, die in häuslicher Gemeinschaft leben, dies denkbar wäre (BT-Drucks 7/2506 Nr 4 zu § 3). Aber auch gegenüber Hinterbliebenen kann aus in ihrer Person liegenden Gründen eine Versagung der Leistung gerechtfertigt sein. So ist es hier.

Für die Bewertung des "Unbilligen" bietet der Maßstab der unzulässigen Rechtsausübung einen wichtigen Anhaltspunkt. Nach einem allgemeinen auch im Sozialrecht geltenden Rechtsgedanken kann ein Recht nicht geltend gemacht werden, wenn dies nicht sozial angemessen geschieht und wenn es der rechtsethischen Funktion des Rechts widerspricht (BSGE 49, 104, 111 mwN). Der Gesichtspunkt des Rechtsmißbrauchs orientiert sich an dem Schutzzweck der Norm. Das Opferentschädigungsrecht ist, wie aus den Gesetzesmaterialien und aus der dem Gesetzesvorhaben zugrunde liegenden Literatur zu entnehmen ist, geschaffen worden, weil die Sicherungsvorkehrungen des Staates es nicht vermochten, die Bürger vor Gewalttat und Kriminalität zu schützen. In solchen Fällen war ein Bedürfnis angenommen worden, eine Entschädigung zu gewähren, weil Ersatz- und Ausgleichsleistungen, insbesondere der sozialen Sicherheit und privatrechtlicher Schadenersatz durch den Täter nicht zu verwirklichen sind oder nicht ausreichen, soweit die Betroffenen in wirtschaftliche Bedrängnis geraten. Dem Geschädigten sollte es nicht zugemutet werden, seine Ansprüche unmittelbar dem Täter gegenüber geltend zu machen (BSGE 52, aaO). Dementsprechend ist das als Kostenträger nach § 4 OEG bestimmte Land gleichsam zur Vorleistung verpflichtet. Zum Ausgleich dafür geht ein dem Geschädigten gegenüber dem Schädiger etwa nach § 823 f BGB zustehender gesetzlicher Schadenersatzanspruch nach § 5 OEG iVm § 81a BVG auf das leistungspflichtige Land über. Es kann beim Schädiger Regreß nehmen und sich somit schadlos halten. Genügt nun aber der Schädiger seiner familienrechtlichen Sorgepflicht gegenüber seinem Kind, wie seitens des LSG festgestellt, kommt er insbesondere seiner vollen Unterhaltsverpflichtung nach, ist damit letztlich dem Gesetzeszweck Genüge getan. Würde dennoch Waisengrundrente gewährt, die - wie ausgeführt - nur dem Ausgleich eines Unterhaltsanspruches dient, wäre dies mit dem sozialen Verständnis des Opferentschädigungsrechts unvereinbar. Das Einstehen der Solidargemeinschaft ließe sich nicht mehr rechtfertigen.

Daraus, daß die Waisengrundrente nach dem OEG nur den Verlust des "Ernährers" ausgleichen, nicht aber ein Opfer, das die Eltern gebracht haben, honorieren soll, kann allerdings nicht geschlossen werden, der Ausgleich habe zu unterbleiben, wenn der Unterhalt von anderer Seite sichergestellt ist. Das folgt aus § 843 Abs 4 BGB, wonach derjenige, der für den Unterhaltsersatz verantwortlich ist, nicht dadurch von seiner Verpflichtung frei wird, daß ein Dritter diesen Ersatz leistet. Diese Regelung des BGB beruht auf dem allgemeinen Rechtsgedanken, daß Leistungen anderer nicht dem Schädiger zugute kommen sollen (Palandt, BGB, 41. Aufl, § 844 Anm 7). Die Rentenzahlung an die damals minderjährige Klägerin wäre zu Händen ihres Vaters, des Schädigers, zu leisten gewesen, so daß dadurch eine wirtschaftliche Bevorzugung eingetreten wäre. Das will aber gerade § 843 Abs 4 BGB verhindern.

Das teilweise Obsiegen der Klägerin war bei der Kostenentscheidung nach § 193 SGG zu berücksichtigen.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1656731

BSGE, 40

NJW 1987, 2894

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