Leitsatz (amtlich)

1. Der Einwand der Verwirkung des Rückforderungsrechts setzt voraus, daß die Versorgungsverwaltung in Kenntnis des Rückforderungsgrundes den Erlaß des Rückforderungsbescheides unangemessen - regelmäßig mehr als 4 Jahre - verzögert hat (Fortsetzung von BSG 1964-04-17 10 RV 1299/61 = BSGE 21, 27, BSG 1975-06-10 9 RV 420/74 = SozR 3900 § 41 Nr 1 und BSG 1976-08-11 10 RV 195/75 = SozR 3900 § 47 Nr 4).

2. Es entspricht grundsätzlich nicht der sozialen Aufgabenstellung der Versorgungsverwaltung, einen Versorgungsanspruch regelmäßig bereits dann abzulehnen, wenn letzte Zweifelsfragen offen bleiben.

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Zur Frage der Voraussetzungen für die Rückforderung zu Unrecht empfangener Versorgungsleistungen und der Anwendung der Verjährungsvorschriften.

2. Bei Rückforderungen zu Unrecht empfangener Versorgungsleistungen greifen die Verjährungsvorschriften nicht ein, wenn durch wissentlich falsche Angaben eine Versorgungsleistung erschlichen wurde.

 

Normenkette

KOVVfG § 47 Abs. 3 Buchst. a Fassung: 1960-06-27, Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a Fassung: 1975-06-09

 

Verfahrensgang

LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 30.03.1976; Aktenzeichen L 5b V 358/74)

SG Konstanz (Entscheidung vom 14.02.1974; Aktenzeichen S 1a V 1072/72)

 

Tenor

Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 30. März 1976 abgeändert. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Konstanz vom 14. Februar 1974 wird in vollem Umfang zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des Berufungs- und Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

Die 1916 geborene Klägerin beantragte im Januar 1946 beim Versorgungsamt Ravensburg für sich und ihre 4 Kinder Hinterbliebenenversorgung, weil ihr Ehemann Ernst S (S.) am 10. Juni 1943 gefallen sei; vom Versorgungsamt W habe sie Hinterbliebenenversorgung von 240,- Reichsmark bis einschließlich Februar 1945 erhalten. Alle Unterlagen seien ihr bei der Flucht aus Schlesien verlorengegangen. Das Versorgungsamt gewährte ab Oktober 1945 Witwen- und Waisenrente (Bescheide vom 9. Januar 1947 und 11. August 1949).

Im April 1950 ging dem Versorgungsamt die Niederschrift einer Erklärung zu, welche die Schwester der Klägerin, Gertrud M, geb. P, in Anwesenheit des Leiters des Umsiedlungsamtes Tettnang gegenüber dem Leiter des Kreissozialamts T am 4. April 1950 abgegeben und selbst unterzeichnet hatte. Darin teilte sie u.a. mit, die Angabe der Klägerin, daß S. gefallen sei, sei falsch. Die Klägerin sei von S. im Jahre 1944 geschieden worden. Über den Verbleib des S. sei nichts bekannt; jedenfalls gebe es keinen Nachweis, daß er gefallen sei. Das Versorgungsamt veranlaßte daraufhin eine eidesstattliche Versicherung der Klägerin gegenüber dem Bezirksnotar in Tettnang vom 2. Mai 1950. Darin erklärte sie, S. sei am 10. Juni 1943 in Rußland gefallen, wie ihr im Juli 1943 von seiner Truppe schriftlich mitgeteilt worden sei. Zu dieser Zeit sei zwar seine Scheidungsklage anhängig gewesen, ein Urteil sei jedoch nicht (mehr) ergangen. Im Oktober 1951 richtete das Versorgungsamt eine Anfrage an die Deutsche Dienststelle für die Benachrichtigung der nächsten Angehörigen von Gefallenen der ehemaligen Deutschen Wehrmacht in Berlin nach dem Verbleib des S. Die Antwort vom Dezember 1951 bestand darin, daß die letzte Einheit des S. angegeben und ferner mitgeteilt wurde, über ihn liege bisher weder eine Vermißt- noch eine Todesmeldung vor. Auf weitere Rückfrage des Versorgungsamts antwortete die Deutsche Dienststelle, für die Monate Juni und Juli 1943 seien von der Einheit des S. Listen nicht zur Abgabe gelangt; es müsse angenommen werden, daß die Listen aus diesem Zeitraum infolge der Kampfhandlungen in Verlust geraten seien. Daraufhin setzte das Versorgungsamt laut Aktenverfügung vom 19. April 1952 die Versorgungsleistungen an die Klägerin fort.

Im Verfahren wegen des Schadensausgleichs der Witwe fragte das Versorgungsamt im Juli 1969 nochmals bei der Deutschen Dienststelle nach dem Verbleib des S. Als im August 1969 die Antwort eintraf, daß S. in der Bundesrepublik lebe, stellte das Versorgungsamt die Zahlungen an die Klägerin mit Wirkung ab September 1969 ein. Nachdem weitere Ermittlungen eine Abschrift der Heiratsurkunde mit dem Vermerk über die am 26. Juni 1944 rechtskräftig geschiedene Ehe erbracht hatte, erließ es mit Zustimmung des Landesversorgungsamts den Berichtigungsbescheid vom 14. April 1972. Darin wurde festgestellt, daß die Voraussetzungen für die Gewährung von Hinterbliebenenversorgung nicht erfüllt gewesen seien. Alle vorangegangenen die Klägerin und ihre Kinder begünstigenden Bescheide wurden aufgehoben und die der Klägerin persönlich in der Zeit vom 1. Oktober 1945 bis zum 31. August 1969 zu Unrecht gewährten Versorgungsbezüge in Höhe von 50.089,10 DM zurückgefordert. Den Widerspruch wies das Landesversorgungsamt durch Bescheid vom 20. Juni 1972 zurück.

Das Sozialgericht (SG) Konstanz hat die vier Schwestern der Klägerin (G, E, H und G) als Zeuginnen vernommen und sodann durch Urteil vom 14. Februar 1974 die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, die Klägerin habe gewußt, daß ihre Ehe noch vor dem Ende des 2. Weltkrieges rechtskräftig geschieden worden sei. Daß das Scheidungsverfahren noch nach dem angeblichen Tode des S. fortgesetzt worden sei, sei ebenso unglaubwürdig wie die Behauptung der Klägerin, von der Ehescheidung keine Kenntnis mehr erhalten zu haben.

Auf die Berufung der Klägerin hat das Landessozialgericht (LSG) weitere Unterlagen von der Deutschen Dienststelle beigezogen und sodann den S. sowie dessen Mutter und Schwester als Zeugen gehört. Durch Urteil vom 30. März 1976 hat es in Abänderung des Urteils des SG die Rückforderung auf die in der Zeit ab 1. Januar 1968 gewährten Versorgungsbezüge beschränkt, im übrigen die Berufung zurückgewiesen und die Revision zugelassen. Das LSG hat sich im wesentlichen den Ausführungen des SG angeschlossen. Zur Begrenzung der Rückforderung für in der Vergangenheit zu Unrecht erbrachte Leistungen hat es auf eine nach seiner Ansicht in der Rechtsprechung bestehende Meinungsverschiedenheit hingewiesen und deshalb die Revision zugelassen. Nach dem Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 18. August 1966 - 8 RV 917/64 (KOV 1967, 46) unterliege die Rückforderung in entsprechender Anwendung des § 852 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) der Verjährung in drei Jahren. Abweichend davon habe das BSG im Urteil vom 26. November 1968 (KOV 1968, 60) die Begrenzung der Rückforderung nicht dieser Vorschrift entnommen, sondern sei von einer Verwirkung ausgegangen, die regelmäßig vier Jahre vor Beginn des Jahres eintrete, in dem die Rückforderung angeordnet worden sei. Dieser Auffassung hat sich das LSG angeschlossen und deshalb die im Bescheid vom 14. April 1972 ausgesprochene Rückforderung nur für die Zeit ab 1. Januar 1968 gebilligt.

Der Beklagte hat gegen das ihm am 19. Mai 1976 zugestellte Urteil die Revision am 18. Juni eingelegt und am 2. Juli 1976 begründet. Er hält die Voraussetzungen einer Verwirkung des Rückforderungsrechts hier nicht für gegeben, weil er die Rückforderung weder zu spät geltend gemacht noch die Klägerin durch irgendwelche Maßnahmen zu der Annahme veranlaßt habe, die Überzahlung werde nicht zurückgefordert werden. Im April 1950 seien dem Versorgungsamt zwar Zweifel an den tatsächlichen Grundlagen des anerkannten Versorgungsanspruchs mitgeteilt worden. Die seinerzeit durchgeführte Sachaufklärung habe aber ergeben, daß die Voraussetzungen für einen Berichtigungsbescheid nicht erfüllt gewesen seien, Deshalb habe die Rente weitergezahlt werden müssen. Die Kenntnis des Berichtigungsgrundes habe das Versorgungsamt erst am 12. August 1969 erlangt und am 14. April 1972, also innerhalb von vier Jahren, den Berichtigungs- und Rückforderungsbescheid erteilt. Weder während der Dauer seiner Erhebungen noch zuvor habe es Handlungen vorgenommen, aus denen die Klägerin habe herleiten können, ein Rückforderungsanspruch werde nicht mehr geltend gemacht. Eine zeitliche Begrenzung des Rückforderungsanspruchs unter dem Gesichtspunkt der Verwirkung sei daher nicht gerechtfertigt, ebenso aber auch nicht unter dem Gesichtspunkt der - hier 30 Jahre betragenden - Verjährung.

Der Beklagte beantragt,

in Abänderung des Urteils des LSG Baden-Württemberg vom 30. März 1976 die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Konstanz vom 14. Februar 1974 in vollem Umfang zurückzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision des Beklagten als unzulässig zu verwerfen.

Sie macht geltend, das LSG habe die Revision nur wegen der Frage zugelassen, ob der Zeitraum der Rückforderung auf drei oder vier Jahre zu begrenzen sei; insoweit habe aber das LSG zugunsten des Beklagten entschieden, so daß dessen Revision unzulässig sei.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Beklagten ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden. Entgegen der Auffassung der Klägerin ist sie - durch Zulassung - auch statthaft. Es trifft zwar zu, daß die im Tenor des angefochtenen Urteils unbeschränkt ausgesprochene Revisionszulassung bei Heranziehung der Entscheidungsgründe sich nur als eine Zulassung wegen des Anspruchs des Beklagten auf Rückerstattung zu Unrecht gewährter Versorgungsleistungen erweist. Eine Beschränkung der Revision ist zwar, wie das BSG bereits im Urteil vom 3. Juli 1956 - 1 RA 87/55 - (BSGE 3, 136, 138) entschieden hat, aus dem Sinn und Zweck der Zulassungsrevision gerechtfertigt. Die Zulassung der Revision kann aber nicht auf bestimmte Rechtsfragen -z.B. auf die Frage, von welchen Voraussetzungen die Rückforderung zu Unrecht gewährter Versorgungsbezüge für weit zurückliegende Zeiträume abhängig ist -, sondern nur auf bestimmte streitige Ansprüche - hier auf den Rückforderungsanspruch des Beklagten - beschränkt werden. Dies folgt, wie das BSG aaO dargetan hat, daraus, daß im Verfahren der Sozialgerichtsbarkeit wie in den Verfahren der Zivilgerichtsbarkeit und der allgemeinen Verwaltungsgerichtsbarkeit Ansprüche, nicht Rechtsfragen, Gegenstand des Verfahrens sind und daß auch das Revisionsgericht über den konkreten Streit, nicht über eine abstrakte Rechtsfrage, entscheidet. Deshalb ist im vorliegenden Fall die Revision wegen des gesamten Rückforderungsanspruchs des Beklagten zugelassen worden und nicht etwa - wie die Klägerin annimmt - wegen der vom LSG zugunsten des Beklagten beantworteten Rechtsfrage, ob die Rückforderungsansprüche einer dreijährigen Verjährung oder einer vierjährigen Verwirkung unterliegen.

Die Revision des Beklagten erweist sich auch sachlich als begründet.

Streitig ist unter den Beteiligten allein noch der Rückforderungsanspruch des Beklagten für die Zeit vom 1. Oktober 1945 bis zum 31. Dezember 1967. Denn das Berichtigungsrecht und die Rückforderungsbefugnis für die Zeit ab 1. Januar 1968 sind dem Beklagten im angefochtenen Urteil bestätigt worden, das insoweit durch Rücknahme der Revision der Klägerin Rechtskraft erlangt hat.

Der Anspruch des Beklagten auf Rückerstattung der der Klägerin zu Unrecht gewährten Leistungen richtet sich für die Zeit seit dem Inkrafttreten des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (VerwVG) vom 2. Mai 1955 (BGBl I S. 202) - seit dem 1. April 1955 - nach § 47 Abs. 3 VerwVG. Aber auch für die Zeit davor ist diese Regelung maßgebend. Wie das BSG bereits entschieden hat (vgl. BSGE 3, 237; 6, 11), ergreift die Vorschrift des § 47 Abs. 3 VerwVG alle am Tage ihres Inkrafttretens anhängigen Rückforderungsfälle. Der für die gesamte streitige Zeit im wesentlichen unverändert geltende § 47 Abs. 3 VerwVG geht von dem Grundsatz aus, daß bei Berichtigung eines Bescheides gemäß § 41 oder 42 VerwVG eine Pflicht zur Rückerstattung der gewährten Leistungen nur dann besteht, wenn die Unrichtigkeit des berichtigten Bescheides darauf beruht, daß der Empfänger Tatsachen, die für die Entscheidung von wesentlicher Bedeutung gewesen sind, wissentlich falsch angegeben oder verschwiegen hat, oder wenn er beim Empfang der Bezüge gewußt hat, daß sie ihm nicht oder nicht in dieser Höhe zustanden. Nach den Feststellungen des LSG, die im Revisionsverfahren nicht angegriffen und somit für den Senat gemäß § 163 Sozialgerichtsgesetz (SGG) bindend sind, hat die Klägerin wissentlich falsch angegeben, daß S. gefallen ist; sie hat ferner verschwiegen, daß ihre Ehe geschieden worden war. Beide Tatsachen sind für die Gewährung der Hinterbliebenenversorgung von wesentlicher Bedeutung gewesen; die Unrichtigkeit der hierzu ergangenen Bescheide beruht darauf. Die Rückforderung des beklagten Landes gegen die Klägerin wegen der ihr zu Unrecht gewährten Leistungen ist mithin nach § 47 Abs. 3 VerwVG rechtmäßig.

Der Rückerstattungsanspruch ist nicht verjährt. Dabei kann die inzwischen auch vom 8. Senat im Urteil vom 26. November 1968 - 8 RV 503/66 - (SozR Nr. 25 zu § 47 VerwVG) verneinte Frage dahingestellt bleiben, ob § 852 BGB im Rahmen des § 47 VerwVG entsprechend anzuwenden ist (vgl. hierzu Urteil des erkennenden Senats vom 11. August 1976 - 10 RV 195/75 in SozR 3900 Nr. 4 zu § 47 VerwVG). Denn bei Erlaß des angefochtenen Bescheides - am 14. April 1972 - war weder die in § 852 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 genannte Frist von 30 Jahren von der Begehung der unerlaubten Handlung an verstrichen, noch waren drei Jahre seit dem 12. August 1969, dem Zeitpunkt vergangen, in dem die Versorgungsverwaltung von dem Schaden und der Person des Ersatzpflichtigen Kenntnis erlangt hatte.

Die Rückforderung bedeutet hier auch keine unzulässige Rechtsausübung; das Rückforderungsrecht ist nicht - auch nicht für einen Teil des streitigen Zeitraumes - verwirkt.

In der Rechtsprechung des BSG zur Kriegsopferversorgung ist der Gedanke der Verwirkung herangezogen worden, um zu verhindern, daß die Versorgungsbehörde bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 47 VerwVG eine Rückforderung noch nach unbeschränkt langer Zeit in vollem Umfang geltend machen kann. Im Urteil vom 17. April 1964 - 10 RV 1299/61 - (BSGE 21, 27 = SozR Nr. 15 zu § 47 VerwVG) ist unzulässige Rechtsausübung angenommen worden, wenn die Versorgungsbehörde Rückforderungsansprüche nach § 47 Abs. 2 VerwVG für einen Zeitraum geltend macht, der mehr als vier Jahre seit dem Beginn des Jahres zurückliegt, in dem der Rückforderungsbescheid ergangen ist. In diesem Fall hatte das Versorgungsamt eine Ausgleichsrente erst viereinhalb Jahre, nachdem ihm die einschlägige Verdienstbescheinigung zugegangen war, neu festgestellt und daraus eine Rückforderung hergeleitet. Im Anschluß hieran ist mit Urteil vom 10. Juni 1975 - 9 RV 420/74 - (SozR 3900 Nr. 1 zu § 41 VerwVG) entschieden worden, daß auch dann, wenn die Bewilligungsbescheide nach § 41 VerwVG aufgehoben worden sind und eine Erstattungspflicht gemäß § 47 Abs. 3 VerwVG deshalb besteht, weil der Empfänger die Behörde hintergangen hat, die Versorgungsverwaltung die Rückzahlung nur innerhalb angemessener Frist verlangen darf. In diesem Fall hatte die Versorgungsverwaltung durch einen im Dezember 1972 erlassenen Bescheid seit 1948 erbrachte Versorgungszahlungen zurückgefordert, obwohl ihr das Wehrmachts-Gesundheitsbuch, aus dem es die Unrichtigkeit der früheren Bescheide herleitete, bereits im Oktober 1959 übermittelt worden war. Im Urteil vom 11. August 1976 - 10 RV 195/75 - (SozR 3900 Nr. 4 zu § 47 VerwVG) hat der erkennende Senat erneut betont, daß das Rechtsinstitut der Verwirkung verhindern soll, seitens der Versorgungsverwaltung durch unvertretbar langes Untätigsein unangemessen hohe Rückforderungsbeträge auflaufen zu lassen, deren Tilgung zu zusätzlichen, zeitlich kaum absehbaren Belastungen für den Rückzahlungspflichtigen führen müsse und seine wirtschaftliche Existenz vernichten könne. In diesem Fall hatte das Versorgungsamt im Jahre 1970 einen Berichtigungs- und Rückforderungsbescheid erlassen, der bis in das Jahr 1947 zurückwirkte, obwohl ihm die hierzu verwerteten Unterlagen bereits im Mai 1961 zugegangen waren.

Die genannten Fälle sind dadurch gekennzeichnet, daß die Versorgungsverwaltung in Kenntnis der schließlich zur Rückforderung führenden Tatsachen mit dem Erlaß des Rückforderungsbescheides unangemessen lange Zeit - regelmäßig mehr als vier Jahre - zugewartet hatte. Dieses regelmäßig mit dem Auflaufen erheblicher Rückforderungsbeträge verbundene und deshalb mit der Fürsorgepflicht der Versorgungsverwaltung innerhalb des Versorgungsrechtsverhältnisses nicht mehr vereinbare unnötige Zuwarten ist für illoyal erachtet worden. Als unangemessen ist unter Berücksichtigung der Belange der Versorgungsverwaltung ein Zuwarten mit der Rückforderung von mehr als vier Jahren erachtet worden. Darauf beruht die Folgerung, daß in derartigen Fällen eine Rückforderung, die sich auf einen Zeitraum erstreckt, der mehr als vier Jahre vor dem Beginn des Jahres liegt, in dem der Rückforderungsbescheid erlassen wird, gegen Treu und Glauben verstößt und somit dem Einwand der Verwirkung unterliegt.

Von einem illoyalen Verhalten der Behörde kann mithin solange nicht gesprochen werden, als sie den Rückforderungsgrund nicht kennt. Denn nur wer in Kenntnis einer ihm zustehenden rechtlichen Befugnis diese nicht ausübt, muß sich von demjenigen, der zunächst mit der Ausübung derselben zu rechnen hatte, entgegenhalten lassen, er habe mit der Ausübung des bestehenden Rechts angesichts des eingetretenen Zeitablaufs nicht mehr rechnen können und müssen. Deshalb ist in der Rechtsprechung des BSG die Verwirkung des Rechts zur Rückforderung, soweit sie mehr als vier Jahre zurückreicht, stets nur dann angenommen worden, wenn der Versorgungsbehörde die Ursache der Überzahlung bekannt war oder hätte bekannt sein müssen, wenn sie also z.B. trotz ihr erteilter Auskünfte oder beizeiten zugegangener Unterlagen die Anordnung der Rückzahlung verschleppte. Dagegen ist es der Versorgungsbehörde nicht verwehrt worden, weiter als vier Jahre zurückreichende Rückforderungsbescheide zu erlassen, wenn der Versorgungsberechtigte durch falsche, widersprüchliche, unvollständige oder verzögerte Angaben die Maßnahme der Behörde vereitelt hatte oder wenn die Versorgungsverwaltung auch bei ordnungsgemäßer Sachbearbeitung erst innerhalb des Zeitraums von vier Jahren vor Erlaß des Rückforderungsbescheides den Grund für die Überzahlung der vor dieser Zeit geleisteten Versorgungsbezüge erkennen konnte (vgl. hierzu BSG-Urteil vom 11. September 1975 - 9 RV 30/75 in SozR 3900 Nr. 3 zu § 47 VerwVG S. 5 mit weiteren Hinweisen).

Im vorliegenden Fall hat die Versorgungsverwaltung die Rückforderung nicht erst zu einem Zeitpunkt ausgesprochen, in dem sie bereits mehr als vier Jahre Kenntnis von dem Rückforderungsgrund hatte. Erst durch die im August 1969 erfolgte Mitteilung der Deutschen Dienststelle ist die Versorgungsverwaltung davon in Kenntnis gesetzt worden, daß S. entgegen den wiederholten Angaben der Klägerin noch lebte. Die Ehescheidung der Klägerin ist der Versorgungsverwaltung sogar erst aufgrund weiterer Ermittlungen zu einem noch späteren Zeitpunkt bekanntgeworden. Bei Erlaß des Berichtigungs- und Rückforderungsbescheides vom 14. April 1972 handelte die Versorgungsverwaltung mithin - namentlich angesichts der von ihr seit dem August 1969 durchgeführten zeitraubenden Erhebung zur Ehescheidung der Klägerin - nicht illoyal, wenn sie nunmehr von der Klägerin die ihr seit dem Jahre 1946 erbrachten Versorgungsleistungen zurückforderte.

Ein illoyales Verhalten der Versorgungsverwaltung ergibt sich auch nicht daraus, daß im Jahre 1950 Zweifel an den Angaben der Klägerin geweckt worden waren, die nicht restlos aufgeklärt wurden. Die Angaben der Schwester der Klägerin gegenüber dem Kreissozialamt Tettnang riefen zwar Bedenken hervor, ob die Ehe der Klägerin mit S. über das Jahr 1944 hinaus bestanden hatte. Sie ließen es auch fraglich erscheinen, ob S. gefallen war. Aus diesen Angaben war aber auch erkennbar, daß zwischen den Schwestern ein erhebliches Zerwürfnis bestand, welches geeignet sein konnte, übertriebene und wenig kontrollierte Äußerungen hervorzurufen. Dem hat das Versorgungsamt dadurch Rechnung zu tragen versucht, daß es die Klägerin zur Abgabe einer eidesstattlichen Versicherung (vgl. jetzt § 15 S. 2 VerwVG) veranlaßt hat. Als sich daraus die Beendigung des Scheidungsverfahrens durch den Kriegstod des S. ergab und die Deutsche Dienststelle auf Rückfrage bestätigte, daß das Fehlen von Verlustmeldungen seitens der Einheit des S. für die Monate Juni und Juli 1943 auf einen kriegsbedingten Verlust dieser Listen schließen lasse, sprach das Ergebnis der Ermittlungen mehr für die Angaben der Klägerin als für die Angaben ihrer Schwester. Es ist zwar nicht zu verkennen, daß in den Jahren vor Inkrafttreten des VerwVG die Feststellung der Leistungen im Land Württemberg-Hohenzollern nach Maßgabe der §§ 37 bis 47 des Gesetzes über Leistungen an Körperbeschädigte (KBLG) vom 11. Januar 1949 (Reg.Bl. f.d. Land Württemberg-Hohenzollern 1949 S. 215) erfolgte und daß hier eine dem § 15 VerwVG entsprechende Vorschrift nicht bestand. Das Versorgungsamt mußte sich damals vielmehr allein nach der dem § 12 VerwVG entsprechenden Bestimmung des § 39 KBLG richten, wonach es den Sachverhalt von Amts wegen aufzuklären hatte und die Beteiligten verpflichtet waren, zur Aufklärung mitzuwirken. Auch danach war es aber nicht ausgeschlossen, die Angaben der Klägerin zu ihren familiären Verhältnissen und zu den mit der Schädigung im Zusammenhang stehenden Tatsachen der Entscheidung zugrunde zu legen, wenn diese Angaben nach dem Ergebnis der Sachaufklärung dem Versorgungsamt glaubhaft erschienen, zumal es die Beweisnot der durch die Kriegsereignisse entwurzelten Antragstellerin nicht unberücksichtigt lassen konnte. Schon aus zeitlichen, aber auch aus sozialen Gründen kann es der Versorgungsverwaltung nicht zugemutet werden, alle Zweifelsfragen bis ins Letzte zu klären und einen Versorgungsanspruch regelmäßig bereits dann abzulehnen, wenn letzte Zweifel offen bleiben. Aber selbst wenn man unterstellen wollte, daß das Versorgungsamt bei weiterer Aufklärung des Sachverhalts, Insbesondere bei Gegenüberstellung der Klägerin mit ihrer Schwester Gertrud, die falschen Angaben der Klägerin hätte erkennen können, so darf sich doch die Klägerin darauf nicht berufen, nachdem sie die Versorgungsverwaltung insbesondere mit ihrer eidesstattlichen Versicherung vom 2. Mai 1950 getäuscht und dadurch zum Verzicht auf weitere Ermittlungen veranlaßt hat. Es wäre arglistig, wenn die Klägerin nunmehr der Rückforderung ihrer durch wiederholt unwahre Angaben erlangten Versorgungsbezüge entgegenhalten wollte, das Versorgungsamt hätte seinerzeit ihren Angaben nicht vertrauen dürfen und bei strenger Sachaufklärung die Zahlung der Versorgungsbezüge und damit auch deren Rückforderung vermeiden können. Ein schutzwürdiges Vertrauen läßt sich jedenfalls aus der Annahme der Klägerin nicht herleiten, sie müsse die zwar erschlichenen Versorgungsleistungen doch wegen des langanhaltenden Zeitablaufs (Täuschungserfolges) ganz oder zum Teil nicht mehr herausgeben.

Da somit die Versorgungsverwaltung vor Eingang der Mitteilung der Deutschen Dienststelle vom August 1969 nicht wußte und auch nicht zumutbar wissen konnte, daß S. noch lebte und bereits seit dem 26. Juni 1944 rechtskräftig von der Klägerin geschieden war, fehlt es hier an der Grundvoraussetzung der Verwirkung im Versorgungsrecht, daß eine rechtliche Befugnis "trotz Kenntnis ihres Bestehens" über einen Zeitraum von mehr als vier Jahren nicht ausgeübt worden ist.

Der Rückforderungsanspruch des Beklagten ist deshalb in vollem Umfang begründet, so daß das Urteil des LSG aufgehoben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG zurückgewiesen werden muß. Die Befugnis des Beklagten, aufgrund der ihm in § 47 Abs. 4 VerwVG eingeräumten gesetzlichen Ermächtigung nach pflichtgemäßem Verwaltungsermessen beim Vollzug des nunmehr bindenden Rückforderungsbescheides "eine besondere Härte für den Rückerstattungspflichtigen" zu berücksichtigen, bleibt hiervon unberührt.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1649910

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