Entscheidungsstichwort (Thema)

Berufsunfähigkeit eines selbständigen Handwerksmeisters

 

Orientierungssatz

Ein selbständiger Unternehmer, der die Meisterprüfung abgelegt hat und in seinem Handwerk tätig ist, ist einem Vorarbeiter mit Vorgesetztenfunktion (oberste Stufe des Mehrstufenschemas) dann gleichzustellen, wenn der Meister Auszubildende beschäftigt und ausbildet (vgl BSG vom 28.11.1978 4 RJ 127/77 = SozR 2200 § 1246 Nr 35 und vom 4.4.1984 4 RJ 111/83).

 

Normenkette

RVO § 1246 Abs 2 S 2 Fassung: 1957-02-23

 

Verfahrensgang

LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 08.06.1983; Aktenzeichen L 2 J 527/82-3)

SG Mannheim (Entscheidung vom 30.11.1981; Aktenzeichen S 10 J 1899/80)

 

Tatbestand

Der im Jahre 1936 geborene Kläger lernte als Zimmermann und legte die Gesellenprüfung sowie die Meisterprüfung ab. Er arbeitete bis Februar 1979 als selbständiger Handwerker und führte einen "Einmannbetrieb", in dem er zeitweilig Auszubildende beschäftigte. Im Februar 1979 erlitt er einen Arbeitsunfall; er bezieht seitdem von der S. B. (BG) eine Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 35 vH. Auf Ende Juli 1980 hat er nach seinen Angaben den Handwerksbetrieb aufgelöst; im Revisionsrechtszug hat die Beklagte vorgetragen, daß er im Oktober 1984 den Betrieb wieder bei der Handwerkskammer angemeldet habe. Er ist seit dem Unfall nur noch in der Lage, leichte bis mittelschwere körperliche Arbeiten, die nicht mit schwerem Heben und Bücken, nicht mit häufiger Überkopfarbeit und nicht mit Preßluftarbeiten verbunden sind, ganztags zu verrichten. Eine von der BG im Jahre 1981 angebotene Umschulung zum Bauzeichner hat er ohne Angabe von Gründen abgelehnt. Das Versorgungsamt H. hat ihn als Schwerbehinderten mit einer MdE um 60 vH anerkannt.

Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 2. August 1980 den im Dezember 1979 gestellten Antrag des Klägers auf Versichertenrente ab. Mit der Klage hat der Kläger beantragt, den Bescheid aufzuheben und die Beklagte zur Gewährung von Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zu verurteilen. Das Sozialgericht (SG) Mannheim hat mit Urteil vom 30. November 1981 den Bescheid aufgehoben und die Beklagte verurteilt, dem Kläger für die Zeit vom 1. Dezember 1979 an Rente wegen Berufsunfähigkeit zu gewähren; im übrigen hat es die Klage abgewiesen. Die Beklagte hat Berufung eingelegt und die vollständige Abweisung der Klage beantragt. Der Kläger hat beantragt, die Berufung zurückzuweisen. Das Landessozialgericht (LSG) hat das Urteil des SG aufgehoben und die Klage vollständig abgewiesen. In den Entscheidungsgründen ist ausgeführt: Der Kläger sei als Facharbeiter einzugruppieren und deshalb auf andere Facharbeitertätigkeiten sowie auf sonstige Ausbildungsberufe (Anlernberufe) und gleichgestellte Tätigkeiten verweisbar. Er könne noch auf die Tätigkeit des Pförtners, der in nicht unerheblichem Umfang mit schriftlichen Arbeiten oder mit Fernsprechvermittlungsdienst bei mehr als einem Amtsanschluß betraut ist (Lohngruppe 5 Ziffer 4.27 a und c des Manteltarifvertrages für Arbeiter der Länder - MTL II - vom 27. Februar 1964 - Stand 15. August 1975 -), verwiesen werden; dazu genüge eine Einarbeitungszeit von längstens drei Monaten. Auch komme für ihn die Tätigkeit nach Gruppe K 3 des Rahmentarifvertrages für die technischen und kaufmännischen Angestellten des Baugewerbes im Gebiet der Bundesrepublik vom 12. Juni 1978 (Baufacharbeiter auf größeren Baustellen mit Registraturarbeiten, die im wesentlichen darin bestehen, Lieferscheine abzuheften, Rechnungsbelege zu kontrollieren, Materialkarteien zu führen und in der Arbeitsvorbereitung tätig zu sein) in Frage. Beiden Tätigkeiten sei er körperlich und geistig gewachsen. Die kurz vor der mündlichen Verhandlung erlittene Beinfraktur begründe zwar vorübergehend Arbeitsunfähigkeit, doch sei angesichts der Entbehrlichkeit von besonderen Osteosynthesemaßnahmen (operative Vereinigung reponierter Knochenfragmente) und der schon wenige Tage nach dem Unfall möglichen Beurlaubung aus der stationären Behandlung nicht ersichtlich, daß eine nachhaltige Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit zurückbleiben könnte, weshalb ohne weitere Beweisaufnahme zu entscheiden sei.

Mit der vom Senat zugelassenen Revision rügt der Kläger die Verletzung der §§ 1246, 1247 Reichsversicherungsordnung (RVO) und des § 1 Abs 5 Handwerkerversicherungsgesetz (HwVG). Er trägt vor: Die Verweisungstätigkeiten seien ihm weder gesundheitlich noch sozial zumutbar. Schon für einen Facharbeiter sei die Verweisung auf Pförtnertätigkeiten grundsätzlich ausgeschlossen. Er als selbständiger Unternehmer mit Meisterbrief sei aber höher als ein Facharbeiter einzustufen. Auch habe das LSG die gesundheitlichen Voraussetzungen nicht genügend geprüft, insbesondere auch nicht die Folgen der Beinfraktur, die er sich im Juni 1983 zugezogen habe. Schließlich fehle es an der Prüfung, ob für die Verweisungstätigkeiten, die er wahrnehmen solle, hinreichend verfügbare Arbeitsplätze zur Verfügung stehen. Die mangelhafte Aufklärung stelle sich als Verfahrensfehler iS der §§ 62, 103, 128 Sozialgerichtsgesetz (SGG) dar.

Der Kläger beantragt, die Urteile der Vorinstanzen sowie den Bescheid der Beklagten vom 2. August 1980 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm für die Zeit vom 1. Dezember 1979 an Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zu gewähren; hilfsweise: das angefochtene Urteil abzuändern und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Mannheim vom 3. November 1981 als unbegründet zurückzuweisen.

Die Beklagte hat keinen Antrag gestellt.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers ist unzulässig, soweit sie auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit gerichtet ist.

Mit dem Hauptantrag verlangt der Kläger mehr, als er im bisherigen Prozeß begehrt hat. Das SG hat ihm Rente wegen Berufsunfähigkeit zugesprochen. Im zweiten Rechtszug hat der Kläger (nur) beantragt, die Berufung der Beklagten zurückzuweisen, einen über die Gewährung von Rente wegen Berufsunfähigkeit hinausgehenden Antrag aber nicht gestellt. Sein Prozeßbegehren war vom zweiten Rechtszug ab auf die Verurteilung der Beklagten zur Zahlung von Rente wegen Berufsunfähigkeit gerichtet und beschränkt. Wenn er jetzt eine andere und höhere Rentenversicherungsleistung anstrebt, ändert er die Klage. Eine Klageänderung ist aber im Revisionsverfahren unzulässig (§ 168 SGG, BSGE 18, 12, 14 = SozR Nr 2 zu § 168 SGG, vgl andererseits BSGE 31, 112, 113 = SozR Nr 55 zu § 164 SGG).

Im übrigen ist die Revision zulässig. Mit dem Hilfsantrag begehrt der Kläger die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils. Das LSG hat ihm die Rente wegen Berufsunfähigkeit mit der Begründung verweigert, er sei (nur) als Facharbeiter einzustufen und könne auf Tätigkeiten als gehobener Pförtner und als Angestellter nach K 3 verwiesen werden. Der Vorwurf des Klägers, das LSG habe seinen bisherigen Beruf zu Unrecht (nur) als Facharbeiter angesehen und sei deshalb von einer unzutreffenden Verweisungsbreite ausgegangen, besteht zu Recht. Zu einer abschließenden Entscheidung fehlen aber die erforderlichen tatsächlichen Feststellungen.

Für die Versicherung der Handwerker gelten die Vorschriften des Vierten Buchs der RVO (§ 1 Abs 5 HwVG), somit auch diejenigen über die Verweisung, insbesondere § 1246 Abs 2 Satz 2. Ein selbständiger Handwerksmeister kann grundsätzlich auch auf unselbständige Tätigkeiten verwiesen werden (BSG in SozR Nr 69 zu § 1246 RVO). Im Prozeß geht es um die Frage, wie die Tätigkeit des selbständigen Unternehmers, der die Meisterprüfung abgelegt hat, in das von der Rechtsprechung zu § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO entwickelte Mehrstufenschema einzuordnen ist. Von den verschiedenen Formen, in denen ein selbständiger Handwerksmeister tätig sein kann - Einmannbetrieb, mittelgroßer bzw mittlerer Betrieb und Großbetrieb (zu dieser Unterscheidung: BSGE 48, 65, 67 = SozR 2200 § 1246 Nr 39) -, kommt hier nur der Einmannbetrieb (dazu erstmals BSGE 2, 91) in Frage.

Im Gegensatz zum Berufungsgericht hält es der Senat für geboten, einen selbständigen Unternehmer, der die Meisterprüfung abgelegt hat und in seinem Handwerk tätig ist, einem Vorarbeiter mit Vorgesetztenfunktion (oberste Stufe des Mehrstufenschemas) jedenfalls dann gleichzustellen, wenn der Meister Auszubildende beschäftigt und ausbildet. Insoweit konkretisiert der Senat sein Urteil SozR 2200 § 1246 Nr 35 (vgl dazu auch das Urteil des Senats vom 4. April 1984 - 4 RJ 111/83).

Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) sollen "Versicherte mit Leitungsfunktionen wie zB die des Meisters und Hilfsmeisters im Arbeitsverhältnis, des Hilfspoliers und bestimmter Vorarbeiter, deren Berufstätigkeit zufolge besonderer geistiger und persönlicher Anforderungen die des Facharbeiters noch deutlich überragt", in einer besonderen Gruppe oberhalb der Facharbeiter zusammengefaßt werden (BSGE 43, 243, 246 = SozR aaO Nr 16); ein solcher Versicherter kann "unter bestimmten Umständen so weit aus dem Kreis der sonstigen Arbeiter herausgehoben sein, daß ihm wegen seiner besonderen Stellung im Betrieb, die zu den besonderen Anforderungen seiner Berufstätigkeit iS des § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO gehört, eine Verweisung nur auf Facharbeitertätigkeiten zugemutet werden kann" (BSGE 45, 276, 278 = SozR aaO Nr 27, stRspr). Eine derartig herausgehobene Stellung hat aber der selbständige Handwerksmeister, der Auszubildende beschäftigt, immer. Die besondere Verantwortung, die mit der Ausbildung junger Handwerker verbunden ist, ist so bedeutend, daß der Ausbildungsmeister der obersten Gruppe zugeordnet werden muß.

Das LSG hat - von seinem Rechtsstandpunkt aus folgerichtig - die Verweisungsmöglichkeiten der beiden oberen Stufen nicht erörtert. Das wird noch geschehen müssen. In die Erwägungen ist einzubeziehen, daß der Kläger nach der Rentenantragstellung seinen Betrieb anscheinend noch eine Zeitlang weitergeführt hat. Damit stellt sich die Frage, welche Tätigkeiten er im Betrieb noch verrichten konnte, ferner, ob er für diese Zeit bereits auf eine unselbständige Tätigkeit verweisbar war.

In diesem Zusammenhang wird auch zu prüfen sein, welche Bedeutung für die Berufsunfähigkeit es hat, daß der Kläger anscheinend wieder als selbständiger Handwerksmeister tätig ist. Zwar steht die Ausübung einer selbständigen Erwerbstätigkeit nur der Erwerbsunfähigkeit entgegen (§ 1247 Abs 2 Satz 3 RVO); ist aber der Kläger wieder voll in seinem bisherigen Beruf tätig, so wird Berufsunfähigkeit nur ausnahmsweise vorliegen können.

Die Sache war sonach an das LSG, das auch über die Kosten entscheiden wird, zurückzuverweisen.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1663164

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