Beteiligte

Klägerin und Revisionsbeklagte

Beklagte und Revisionsklägerin

 

Tatbestand

I.

Im Prozeß geht es um die Frage, ob die Richtlinien der Beklagten für die Befreiung von der Zuzahlung zu den Aufwendungen einer stationären Heilbehandlung gegen das Gleichheitsgebot des Grundgesetzes (GG) verstoßen.

Die im Jahr 1946 geborene Klägerin - einkommenslose, verheiratete Hausfrau mit zwei Kindern -, die bis März 1983 Beiträge entrichtet hatte, beantragte im August 1983 bei der Beklagten eine Heilbehandlung. Mit Bescheid vom 13. September 1983 bewilligte die Beklagte eine Kur und forderte die Klägerin auf, 10,-- DM für jeden Kalendertag der stationären Heilbehandlung an die Behandlungsstätte zu entrichten. Die Klägerin beantragte die Befreiung von der Zuzahlung, beantwortete aber die im Vordruck enthaltene Frage nach der Höhe der zum Lebensunterhalt verfügbaren Netto-Einnahmen des Ehegatten nicht. Die Kur wurde vom 27. September bis 25. Oktober 1983 in Bad Pyrmont durchgeführt. Mit Bescheid vom 9. Dezember 1983 setzte die Beklagte unter Bezugnahme auf ihre Richtlinien einen Zuzahlungsbetrag von 280,-- DM fest und forderte die Klägerin zur Zahlung auf. Deren Widerspruch leitete sie dem Sozialgericht (SG) zu.

Im Prozeß hat die Klägerin erklärt, das Einkommen ihres Ehemannes sei höher als 1.935,-- DM (monatlich). Das SG Berlin hat mit Urteil vom 4. Juli 1984 den Bescheid der Beklagten vom 9. Dezember 1983 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, die Klägerin unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden; es hat die Revision zugelassen.

Beide Beteiligten haben Berufung eingelegt, die Klägerin mit dem Ziel, von der Zuzahlung vollständig befreit zu werden, die Beklagte, um die Abweisung der Klage zu erreichen. Das Landessozialgericht (LSG) hat beide Berufungen als unbegründet zurückgewiesen und die Revision zugelassen. In den Entscheidungsgründen ist ausgeführt: Die Nummern 4 und 5 der Richtlinien der Beklagten verstießen gegen Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG), weil sie Versicherte mit eigenem Einkommen (Nr. 4) und solche ohne eigenes Einkommen (Nr. 5) ohne sachlichen Grund ungleich behandelten; nur bei den letzteren berücksichtigten sie auch die Einkünfte des Ehegatten. Die Rentenver-sicherungsträger dürften aber nicht bei einer bestimmten Personengruppe nur deshalb, weil das eigene (Arbeits-) Einkommen des Betreuten niedrig sei, ohne nähere Prüfung, der Einkommensverhältnisse des Ehepartners eine unzumutbare Belastung unterstellen. Die Beklagte müsse deshalb eine neue Regelung treffen, die möglicherweise durch Erhöhung der Zahl der Zuzahlenden (bei Nr. 4) und Minderung der Prozenthöhe (bei Nr. 5) eine Befreiung der Klägerin von der Zuzahlung zur Folge hätte.

Mit der Revision trägt die Beklagte vor: Die Richtlinien enthielten eine sorgfältig abgewogene Regelung über die Zumutbarkeit. Angesichts des relativ geringen Höchstbetrages von 10,-- DM täglich sei eine detaillierte Prüfung der Vermögensverhältnisse in allen Fällen unverhältnismäßig. Es könne zwar geschehen, daß ein Versicherter mit geringem beitragspflichtigen Entgelt, aber höheren laufenden Einnahmen aus Kapitalvermögen von der Zuzahlung befreit werde, obwohl das bei Offenlegung der Vermögensverhältnisse nur in geringerem Maß der Fall gewesen wäre. Das könne aber auch deshalb vernachlässigt werden, weil von keinem Versicherten eine höhere Zuzahlung verlangt werde als ihm zumutbar sei.

Die Beklagte beantragt sinngemäß, die angefochtenen Urteile abzuändern und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt, die Revision der Beklagten zurückzuweisen.

Die Beteiligten haben sich damit einverstanden erklärt, daß der Senat ohne mündliche Verhandlung entscheidet.

 

Entscheidungsgründe

II.

Die Revision der Beklagten ist begründet. Der Bescheid der Beklagten vom 9. Dezember 1983 ist, wie im Gegensatz zu den Vorinstanzen festzustellen ist, rechtmäßig. Rechtsgrundlage für den angefochtenen Bescheid ist zunächst der in seinem Tatbestand erfüllte § 20 Abs. 1 Satz 1 Angestelltenversicherungsgesetz (AVG) in der Fassung des Haushaltsbegleitgesetzes 1983 vom 20. Dezember 1982 (BGBl I 1857); danach zahlt der Versicherte zu den Aufwendungen einer stationären Heilbehandlung für jeden Kalendertag10,-- DM zu, wenn die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) die Heilbehandlung für ihn durchführt. Hiervon gibt es jedoch Ausnahmen. Diese sind in Abs. 4 für Bezieher eines nach § 18b AVG begrenzten Übergangsgeldes gesetzlich festgelegt und im übrigen in Abs. 5 der Bestimmung der Beklagten überlassen. Sie "bestimmt, unter welchen Voraussetzungen von der Zahlung nach Abs. 1 abgesehen werden kann, wenn sie den Versicherten oder den Rentner unzumutbar belasten würde". Diese Bestimmung hat ihre Vertreterversammlung durch die "Richtlinien für die Befreiung von der Zuzahlung zu den Aufwendungen einer stationären Heilbehandlung" vom 11. Mai 1943 getroffen; Hieraus kommt für das Befreiungsbegehren der Klägerin als Rechtsgrundlage nur die Nr. 5 in Betracht, die wie folgt lautet:

5. Betreute, die weder Arbeitsentgelt noch Arbeitseinkommen noch vergleichbare Lohnersatzleistungen beziehen (z.B. latent Versicherte), werden auf Antrag von der Zuzahlung befreit, wenn die verfügbaren Einnahmen zum Lebensunterhalt monatlich 40 vH der monatlichen Bezugsgröße (§ 18 SGB 4) nicht übersteigen. Dieser Betrag erhöht sich für den Ehemann bzw. für den ersten Angehörigen des Betreuten um 15 vH sowie für jeden weiteren Angehörigen um 10 vH der monatlichen Bezugsgröße. Angehörige - mit Ausnahme der Ehegatten - werden nur berücksichtigt, wenn sie von dem Betreuten oder seinem Ehegatten überwiegend unterhalten werden. Die Einnahmen des Ehegatten sowie der zu berücksichtigenden Angehörigen sind den Einnahmen zum Lebensunterhalt des Betreuten hinzuzurechnen.

Die Beklagte hat nach dieser Nummer eine Befreiung der Klägerin von der Zuzahlung zutreffend abgelehnt, weil nach dem eigenen Vorbringen der Klägerin die Einnahmen ihres Ehemannes 75% der monatlichen Bezugsgröße überstiegen; die Bezugsgröße betrug im Jahre 1983 monatlich 2.580,-- DM, 75 vH davon sonach 1.935,-- DM.

Bei der Ausgestaltung der Nr. 5 ihrer Richtlinien hat die Beklagte den Rahmen der ihr in § 20 Abs. 5 AVG erteilten Bestimmungsermächti-gung nicht überschritten. Der ihr dort erteilte Auftrag war auf den Erlaß ergänzender Rechtsnormen gerichtet. Darin hatte sie die Voraussetzungen festzulegen, unter denen von der Zuzahlung wegen unzumutbarer Belastung abgesehen werden kann. Nach dem Willen des Gesetzgebers sollte sie hierbei weitere Ausnahmen vorsehen, wenn die Zuzahlung zu Härten führen würde (BT-Drucks 9/2140 S. 101).

Ob eine Zuzahlung den Versicherten unzumutbar belastet und eine Härte für ihn ist, hängt wesentlich von seiner wirtschaftlichen Situation ab. Die Beklagte durfte hier bei den Betreuten, die kein Arbeitsentgelt, Arbeitseinkommen oder keine Ersatzleistungen erhalten, die Einnahmen des Ehegatten mitberücksichtigen, weil sie für den Lebensunterhalt der Familie verfügbar sind und die wirtschaftliche Lage des nicht verdienenden Ehegatten entscheidend bestimmen (SozR 2200 § 180 Nr. 27 S. 110). Keine Bedenken sind auch gegen die für die Befreiung maßgebenden Prozentsätze der monatlichen Bezugsgröße, die sich bei Vorhandensein von Angehörigen erhöhen, zu erheben. Angesichts der Zuzahlungshöhe von täglich 10,-- DM, der zudem zumindest in einer Reihe von Fällen häusliche Ersparnisse gegenüberstehen, sind die festgelegten Sätze vertretbar; sie liegen innerhalb der Gestaltungsfreiheit, die der Gesetzgeber der Beklagten nach § 20 Abs. 5 AVG für die von ihr zu erlassenden Rechtsnormen eingeräumt hat. Ausführungen zu anders gestalteten Vorschriften (z.B. BSGE 51, 147, 151) sind auf das Bestimmungsrecht der Beklagten nach § 20 Abs. 5 AVG nicht übertragbar.

Hält sich sonach der angefochtene Bescheid im Rahmen der Nr. 5 der Richtlinien und ist diese Bestimmung nicht zu beanstanden, so kann die Klägerin auch nicht mit dem Hinweis auf die angebliche Unzulänglichkeit der Nr. 4 der Richtlinien und die behauptete grundge-setzwidrige Ungleichbehandlung der Versicherten mit und ohne eigenes Einkommen Erfolg haben.

Nr. 4 lautet:

Betreute, deren monatliches Netto-Arbeitsentgelt, Netto-Arbeitseinkommen oder vergleichbare Lohnersatzleistungen 40 vH der monatlichen Bezugsgröße nach § 18 SGB 4 nicht übersteigt, werden auf Antrag von der Zuzahlung ganz ausgenommen.

Der Klägerin ist zuzugeben, daß sich hiernach eine Versicherte bei gleichen Einnahmen des Ehemannes besserstellen kann, wenn sie ein Arbeitsentgelt von höchstens 40 vH der Bezugsgröße (= 1.032,-- DM monatlich netto) bezieht, weil dann trotz besserer Gesamtlage die Einnahmen des Ehegatten nicht mitberücksichtigt werden. Das könnte dem Grundsatz widersprechen, daß es auf die wirtschaftliche Belastung durch die Zuzahlung ankommt. Gleichwohl kann jedoch weder aus § 20 AVG noch aus den Gesetzesmaterialien entnommen werden, daß der Gesetzgeber hier immer eine umfassende Klärung der wirtschaftlichen Situation gewollt habe. Schon in § 20 Abs. 4 AVG läßt er es für den Wegfall der Zuzahlung genügen, daß ein nach § 18b AVG begrenztes Übergangsgeld bezogen wird, ohne nach weiteren Einnahmen zu fragen. Nach den Gesetzesmaterialien (aaO) sollten weitere Ausnahmen "z.B. dann vorliegen, wenn die Zuzahlung dem Versicherten wegen seines Einkommens nicht oder nur für einen bestimmten Zeitraum zuzumuten ist, was vor allem auch bei Betreuten, die Übergangsgeld in Höhe des Arbeitslosengeldes erhalten oder Rente beziehen, in Betracht kommen kann". Die Beklagte hat dies in Nr. 1 ihrer Richtlinien aufgegriffen und die Bezieher von Übergangsgeldern in Höhe der Leistungen nach dem AFG oder der Rente sowie von Leistungen der Sozialhilfe ebenfalls von der Zuzahlung ausgenommen. Auch in diesen Fällen wird nur auf den Bezug einer einzelnen Leistung abgestellt und nicht nach weiteren Einnahmen, einschließlich solcher des Ehegatten, gefragt. In diese Linie fügt sich somit die Nr. 4 der Richtlinien ein, wenn sie bei geringem eigenen Arbeitsentgelt (Arbeitseinkommen, Ersatzleistungen) eine weitere Ausnahme von der Zuzahlung unabhängig davon vorsieht, ob noch sonstige Einnahmen für den Lebensunterhalt verfügbar wären. Wenn in allen diesen Fällen Nachforschungen nach weiteren Einnahmen unterbleiben, so mag dies auch damit zusammenhängen, daß angesichts der Indizwirkung dieser geringen Einkünfte für eine wirtschaftliche Härte der Aufwand für eine zusätzliche, unter Umständen umfangreiche Verwaltungstätig-keit im Vergleich zu einer möglicherweise dadurch erreichbaren Zuzahlungssteigerung nicht mehr als verhältnismäßig erscheint.

Die Regelung in der Nr. 4 der Richtlinien der Beklagten stellt sich daher als eine in sich gerechtfertigte "begünstigende Ausnahme" von dem Grundsatz der Berücksichtigung der gesamten wirtschaftlichen Lage einschließlich der Einnahmen des Ehegatten dar. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) kann jedoch niemand allein daraus, daß einer Gruppe aus besonderem Anlaß besondere Vergünstigungen zugestanden werden, für sich ein verfassungsrechtliches Gebot herleiten, genau die gleichen Vorteile in Anspruch zu nehmen (BVerfGE 49, 192, 208; aus der weiteren Rechtsprechung insbesondere noch BVerfGE 50, 177, 191; 63, 255, 265; 67, 231, 238). Die Klägerin kann nicht erwarten, daß bei ihr deshalb, weil sie überhaupt kein Arbeitsentgelt (Arbeitseinkommen, Ersatzleistungen) bezieht, sonstige Einnahmen ebenso wie bei der Gruppe in Nr. 4 der Richtlinien gänzlich außer Betracht bleiben. Daß die Ehefrau eines gut verdienenden Mannes nur deshalb von der Zuzahlung ganz befreit würde, weil sie selbst kein Arbeitsentgelt bezieht, wäre ein untragbares Ergebnis. Selbst von ihrem Standpunkt wäre allenfalls zu verlangen, daß auch bei den Versicherten der Gruppe in Nr. 4 der Richtlinien ein Einkommen des Ehegatten berücksichtigt wird, nicht aber, daß bei den Versicherten der Gruppe in Nr. 5 der Richtlinien jegliche Einnahmen schlechterdings keine Rolle spielen.

Auf die Revision der Beklagten waren daher die Urteile der Vorinstanzen dahin zu ändern, daß die Klage abgewiesen wird.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI518094

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