Entscheidungsstichwort (Thema)

Begründung der Krankenversicherung der Arbeitslosen durch tatsächlichen Leistungsbezug. Anwendung der Grundsätze zum "mißglückten Arbeitsversuch". Krankenversicherung der Arbeitslosen

 

Leitsatz (amtlich)

Zur Frage der Anwendung der im Zusammenhang mit dem mißglückten Arbeitsversuch aufgestellten Grundgedanken auf eine Versicherung nach § 155 AFG.

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Der Bezug von Arbeitslosengeld begründet Krankenversicherungspflicht nach § 155 Abs 1 AFG auch dann, wenn der Versicherte bereits bei Beginn des Leistungsbezuges arbeitsunfähig war und nur für einen Tag Arbeitslosengeld bezogen hat; die von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze zur Rechtsfigur des "mißglückten Arbeitsversuchs" sind weder unmittelbar noch sinngemäß anzuwenden.

2. Die für die Durchführung der Krankenversicherung der Arbeitslosen zuständige Krankenkasse hat nach § 212 RVO grundsätzlich auch die Leistungen zu übernehmen, die aus einem bereits bei der bisherigen Krankenkasse eingetretenen Versicherungsfall zu erbringen sind.

 

Orientierungssatz

Für die Versicherung nach § 155 AFG ist der tatsächliche Bezug der in der Vorschrift genannten Leistungen maßgebend. Es ist unerheblich, ob die Voraussetzungen für die Leistung vorgelegen haben (vergleiche zuletzt BSG vom 1978-06-21 3 RK 96/76 = SozR 4100 § 155 Nr 5).

 

Normenkette

AFG §§ 155, 158-159; RVO § 212 Fassung: 1972-08-10

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 12.11.1981; Aktenzeichen L 16 Kr 73/81)

SG Münster (Entscheidung vom 17.02.1981; Aktenzeichen S 14 Kr 36/80)

 

Tatbestand

Streitig ist, welche der beiden beteiligten Krankenkassen dem Kläger für die Zeit vom 26. Oktober bis zum 4. Dezember 1979 Krankenhilfe zu leisten hat.

Der Kläger war zuletzt beim Wach- und Schutzdienst S. beschäftigt und Mitglied der Beigeladenen. Das Beschäftigungsverhältnis endete am 21. August 1979 durch Entlassung. Seinen Angaben zufolge lebte der Kläger danach bis zum 24. Oktober 1979 von seinen Ersparnissen. Er meldete sich am 25. Oktober 1979 beim Arbeitsamt A arbeitslos und bezog für den 25. Oktober 1979 Arbeitslosengeld (Alg). Am selben Tag verordnete ihm der praktische Arzt Dr. Sp. Krankenhauspflege wegen Leberzellschadens bei chronischem Alkoholabusus und Gastritis. Der Kläger wurde vom 26. Oktober bis zum 4. Dezember 1979 stationär behandelt. Die Beklagte als die nach § 159 des Arbeitsförderungsgesetzes -AFG- (idF des Art 1 § 4 Nr 2 des Krankenversicherungs-Weiterentwicklungsgesetzes vom 28. Dezember 1976 - BGBl I 3871 -) zuständige Kasse lehnte die Gewährung von Krankenhilfe ab (Bescheid vom 3. März 1980; Widerspruchsbescheid vom 25. April 1980), weil der Bezug des Alg für den 25. Oktober 1979 nach den Grundsätzen über den mißglückten Arbeitsversuch keine Versicherungspflicht begründet habe. Im Klageverfahren machte die Beklagte geltend, der Kläger habe sich am 25. Oktober 1979, dem Tag der Einweisung ins Krankenhaus, arbeitslos gemeldet und dem Arbeitsamt das Formular für den Antrag auf Alg erst am 11. Dezember 1979 ausgefüllt zurückgegeben. Deshalb sei seine Absicht klar erkennbar, zunächst einen Kostenträger für die erforderliche stationäre Behandlung ausfindig zu machen. Das Sozialgericht (SG) hat mit Urteil vom 17. Februar 1981 die Klage abgewiesen, soweit sie sich gegen die Beklagte richtet und die Beigeladene verurteilt, dem Kläger Krankenhilfe für die Zeit vom 26. Oktober bis zum 4. Dezember 1979 zu gewähren.

Die Berufung der Beigeladenen hat das Landessozialgericht (LSG) zurückgewiesen. Es hat ausgeführt, der Kläger sei allerdings gem § 155 AFG idF durch § 36 Nr 20 des Gesetzes über die Angleichung der Leistungen zur Rehabilitation (RehaAnglG) vom 7. August 1974 (BGBl I 1881) durch den Bezug des Alg Mitglied der Beklagten geworden. Auch die Versicherung nach § 155 AFG unterliege aber den Regeln über den mißglückten Arbeitsversuch, und zwar in der Weise, daß sie nach Ende des Leistungsbezugs nicht weiterwirke. Der Versicherte sei deshalb nach dem Ende des Bezugs von Alg so zu behandeln, als habe keine Versicherungspflicht nach § 155 AFG bestanden. Der Kläger sei schon am 25. Oktober 1979 arbeitsunfähig gewesen und habe der Arbeitsvermittlung nicht zur Verfügung gestanden. Bei diesem Sachverhalt sei der Leistungsbezug einem mißglückten Arbeitsversuch gleich zu bewerten. Der Kläger habe nachgehende Ansprüche gegen die Beklagte gehabt; er sei nämlich über den Zeitpunkt seines Ausscheidens - den 21. August 1979 - hinaus wegen Leberzellschadens bei chronischem Alkoholabusus behandlungsbedürftig gewesen.

Die Beigeladene hat Revision eingelegt und macht geltend, für die Krankenversicherung der Arbeitslosen komme es allein auf den tatsächlichen Bezug von Alg an.

Die Beigeladene beantragt sinngemäß, die Urteile des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 12. November 1981 und des Sozialgerichts Münster vom 17. Februar 1981 sowie die Bescheide vom 3. März 1980 und 25. April 1980 aufzuheben und festzustellen, daß die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger Krankenhilfe für die Zeit vom 26. Oktober bis zum 4. Dezember 1979 zu gewähren.

Der Kläger und die Beklagte beantragen, die Revision zurückzuweisen.

Sie halten das Urteil des LSG für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beigeladenen ist begründet. Zu Unrecht hat das LSG ihre Berufung zurückgewiesen. Die Klage ist gegen die Beklagte begründet, die angefochtenen Bescheide sind nicht rechtmäßig.

Dem Kläger steht der Anspruch auf Krankenhilfe gegen die Beklagte zu. Die Zuständigkeit der Beklagten ergibt sich aus § 159 Abs 2 und 3 AFG, denn es ist zwischen den Beteiligten unstreitig, daß der Bezirk der Beklagten den für die Zuständigkeit des Arbeitsamts A maßgebenden Wohn- oder Aufenthaltsort des Klägers umfaßt.

Der Kläger ist Versicherter iS des § 159 AFG. In § 159 AFG ist die Zuständigkeit für die Versicherung nach § 155 AFG geregelt. Diese Versicherung gilt für Personen, die Alg, Arbeitslosenhilfe (Alhi) oder Unterhaltsgeld (Uhg) beziehen. Der Kläger war aufgrund seines Bezugs von Alg am 25. Oktober 1979 nach § 155 Abs 1 AFG gegen Krankheit versichert.

Die Versicherung des Klägers nach § 155 AFG ist nicht dadurch ausgeschlossen, daß er nach den Feststellungen des LSG an diesem Tag arbeitsunfähig krank war. Wie der Senat bereits mehrfach entschieden hat, ist für die Versicherung nach § 155 AFG der tatsächliche Bezug der in der Vorschrift genannten Leistungen maßgebend. Es ist unerheblich, ob die Voraussetzungen für die Leistung vorgelegen haben (BSGE 20, 145, 147; BSG SozR 4100 § 155 AFG Nr 4 und 5).

Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus den die Rechtsfigur des mißglückten Arbeitsversuchs betreffenden Grundgedanken. Ein mißglückter Arbeitsversuch liegt vor, wenn bereits bei Arbeitsaufnahme die Erwartung besteht, daß der Beschäftigte infolge seiner schlechten gesundheitlichen Verfassung zu der übernommenen Arbeit nicht fähig sein werde und wenn die Beschäftigung tatsächlich beendet wird, bevor es zu einer Arbeitsleistung von wirtschaftlichem Wert gekommen ist (BSG SozR 2200 § 165 Nrn 33, 34; SozR 4100 § 155 Nr 4 mwN).

Auf den vorliegenden Fall lassen sich die im Zusammenhang mit dem mißglückten Arbeitsversuch aufgestellten Grundgedanken nicht - auch nicht sinngemäß - anwenden. Ihre Anwendung ist insbesondere nicht gerechtfertigt, soweit die Grundgedanken an die Arbeitsunfähigkeit anknüpfen und sich damit auf die zur Versicherungspflicht nach § 165 Abs 1 Nr 1 und 2 Reichsversicherungsordnung (RVO) gehörenden Merkmale des Eintritts in die Beschäftigung (vgl § 306 Abs 1 RVO) beziehen. Im Fall des Klägers bedeutet dies, daß die Versicherung nach § 155 AFG nicht schon deshalb ausgeschlossen ist, weil er bereits am 25. Oktober 1979 arbeitsunfähig war und nur für diesen Tag Alg bezogen hat. Für die Versicherung nach § 155 AFG ist nämlich allein maßgebend der tatsächliche Bezug der dort genannten Leistungen. Versichert ist nach § 155 AFG nicht etwa, wer die Voraussetzungen des Alg, der Alhi oder des Uhg erfüllt. Der Bezug der Leistungen ist vielmehr nach der ausdrücklichen Bestimmung des § 155 Abs 2 Satz 3 AFG selbst dann maßgebend, wenn die zugrundeliegende Entscheidung des Arbeitsamts rückwirkend aufgehoben oder die Leistung zurückgefordert oder zurückgezahlt worden ist. Mit dieser Bestimmung hat der Gesetzgeber eine Frage entschieden, die streitig war, solange das Gesetz über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (AVAVG) galt. Nach § 109 AVAVG hatte das Bundessozialgericht (BSG) entschieden, daß die aufgrund der Krankenversicherung der Arbeitslosen gezahlten Beiträge und gewährten Leistungen zu erstatten seien, wenn die Arbeitslosenunterstützung wegen gleichzeitigen Bezugs von Arbeitsentgelt zu Unrecht gewährt und der Bundesanstalt später wieder ersetzt worden war (BSG SozR Nr 6 zu § 109 AVAVG). Mit der Vorschrift des § 155 Abs 2 Satz 3 AFG sollte gerade vermieden werden, daß die rückwirkende Entziehung der Leistungen iS des § 155 Abs 1 AFG zur rückwirkenden Aufhebung des Krankenversicherungsverhältnisses führt, wenn die Leistung zurückgezahlt worden ist. Der Gesetzgeber wollte ausschließen, daß Beiträge und Leistungen der Krankenversicherung als zu Unrecht geleistet zurückgefordert werden (BT-Drucks V/4110 zu § 152 S 23). Damit wird bewußt in Kauf genommen, daß die Voraussetzungen für den Bezug des Alg, der Alhi oder des Uhg nicht vorgelegen haben (BSG SozR 4100 § 155 AFG Nr 4 und 5 sowie SozR 2200 § 311 RVO Nr 11; Urteil des BSG vom 14. April 1983 - 8 RK 14/82 -). Dem Sinn dieser Regelung würde es widersprechen, wenn die Krankenversicherung wegen des Fehlens der Arbeitsfähigkeit, die noch nicht einmal zu den Tatbestandsmerkmalen dieser Leistungen gehört, entfallen sollte. Hinzu kommt im vorliegenden Fall, daß von der Rechtmäßigkeit des Alg-Bezuges auszugehen ist, denn der bewilligende Bescheid des Arbeitsamts ist nicht aufgehoben und das Alg bis heute nicht entzogen worden.

Eine andere Betrachtungsweise ergibt sich auch nicht aus § 158 Abs 1 AFG idF durch § 36 Nr 21 des RehaAnglG (= Fassung vor der Änderung durch Art II § 2 Nr 21 Buchst a SGB-Verwaltungsverfahren vom 18. August 1980 - BGBl I 1469 -). Danach war als Krankengeld der Betrag des Alg, der Alhi oder des Uhg zu gewähren, auf den der Versicherte zuletzt vor Eintritt der Arbeitsunfähigkeit Anspruch hatte. Die Bestimmung geht mit dieser Formulierung nicht etwa davon aus, daß keine Ansprüche auf Krankengeld bestehen könnten, wenn der Arbeitslose nicht vor Eintritt der Arbeitsunfähigkeit Alg bezogen hat. Bei der Formulierung hat es sich vielmehr um eine reine Berechnungsvorschrift gehandelt. Deshalb konnte sie mit dem SGB-Verwaltungsverfahren durch die Worte "... den der Versicherte zuletzt bezogen hat ..." ersetzt werden. Damit wurde die Bestimmung des § 158 Abs 1 AFG der durch die Leistungsfortzahlung veränderten Rechtslage angepaßt (BT-Drucks 8/4022 zu Art II § 2 Nr 10a). Leistungsfortzahlung wird dem Arbeitslosen nach § 105b Abs 2 AFG idF des Art II § 2 Nr 8 SGB-Verwaltungsverfahren entsprechend der Lohnfortzahlung des Arbeitgebers gewährt. Die Begründung zur Änderung des § 158 AFG hat deshalb nichts mit der Frage der Arbeitsunfähigkeit bei Beginn des Leistungsbezugs zu tun.

Mit dem Gesichtspunkt des Rechtsmißbrauchs kann im vorliegenden Fall die Anwendung der Regeln über den mißglückten Arbeitsversuch ebenfalls nicht gerechtfertigt werden. Der Schutz der Rechtsordnung bei der Geltendmachung eines Rechts ist zu versagen, wenn das Recht funktionswidrig ausgeübt wird (BSGE 13, 202, 204). Als funktionswidrig kann es hier nicht angesehen werden, daß der Kläger überhaupt Ansprüche auf Krankenhilfe geltend macht, denn diese Ansprüche stehen ihm entweder gegen die Beklagte oder - soweit es sich um den Leberzellschaden bei chronischem Alkoholismus handelt - gegen die Beigeladene zu. Der Kläger hätte ohne den Bezug des Alg den nachgehenden Anspruch gem § 183 Abs 1 Satz 2 RVO gegen die Beigeladene gehabt. Nach den Feststellungen des LSG war er über den Zeitpunkt des Ausscheidens bei der Beigeladenen - 21. August 1979 - hinaus durchgehend wegen ein und desselben Leidens behandlungsbedürftig. Funktionswidrig ist auch nicht die Inanspruchnahme gerade der Beklagten, denn nach den Darlegungen zu § 155 AFG ist deren Zuständigkeit bewußt so geregelt, daß sie unabhängig von Rechtmäßigkeit und Dauer des Leistungsbezuges besteht.

Ausgeschlossen erscheint auch der vom LSG vertretene Rückgriff auf die Regeln des mißglückten Arbeitsversuchs in der Weise, daß der Mitgliedschaft in der Krankenversicherung der Arbeitslosen nach Ende des Leistungsbezugs jede weitere versicherungsrechtliche Wirkung versagt wird. Die Meinung des LSG führt dazu, daß in der hier streitigen Zeit nur nachgehende Ansprüche gegen die Beigeladene in Betracht kommen. Insoweit stimmt die Entscheidung des LSG im Ergebnis mit dem Urteil des Senats vom 21. März 1978 (SozR 4100 § 155 Nr 4) überein. Der Senat hat in der Zwischenzeit aber eine Änderung seiner Rechtsprechung vorgenommen, die sich mittelbar auch im vorliegenden Fall auswirkt. Er hat nämlich die auf das Reichsversicherungsamt zurückgehende Rechtsprechung aufgegeben, nach der die in § 212 RVO angeordnete Verpflichtung zur Übernahme von laufenden Leistungen beschränkt war. Die neue Kasse hat nun grundsätzlich alle Leistungen zu übernehmen und die Leistungspflicht der neuen Kasse aus der bestehenden Mitgliedschaft geht grundsätzlich einer eventuellen Leistungspflicht der alten Kasse aus der gem § 312 RVO beendeten Mitgliedschaft vor (BSGE 51, 281, 285).

Nicht zu entscheiden hat der Senat darüber, ob sich die Leistungen der Krankenhilfe, die die Beklagte zu gewähren hat, im einzelnen nach den Vorschriften der §§ 155 ff AFG richtet (vgl dazu auch BSGE 54, 62). Auf die Revision der Beigeladenen ist lediglich darüber zu entscheiden, ob sie (entsprechend dem Urteil des SG) oder ob die Beklagte Krankenhilfe für die Zeit vom 26. Oktober bis zum 4. Dezember 1979 zu gewähren hat.

Die Revision führt aus allen diesen Gründen zum Erfolg für die Beigeladene.

Die Kostentragungspflicht trifft deshalb die Beklagte.

 

Fundstellen

Breith. 1984, 620

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