Entscheidungsstichwort (Thema)

Unfallversicherungsschutz für Selbsthilfearbeiten. nachträgliche Dacherweiterung. Zusätzlicher Wohnraum

 

Orientierungssatz

1. Bei einer lange nach der Fertigstellung des Hauses vorgenommene Arbeit hier - Erweiterung des Daches - die im Bauplan nicht vorgesehen gewesen ist, entscheidet sich insbesondere nach Zweck, Art und Umfang der Arbeit, ob sie noch dazu dient, das Familienheim zu vollenden (vergleiche BSG vom 1977-09-08 2 RU 20/77 = USK 77159) und damit als eine Tätigkeit "bei dem Bau" angesehen werden kann.

2. Gemeinsam geplante und durchgeführte Arbeiten am Dach sind wegen der einheitlichen Dachkonstruktion zweier Doppelhaushälften als eine einheitliche Bauarbeit anzusehen, bei der jeder der beiden Eigentümer Bauherr und damit Unternehmer iS der Unfallversicherung ist, auch soweit die Tätigkeit an dem Hausteil des jeweiligen Nachbarn verrichtet worden ist. Da der Verletzte hiernach zur Unfallzeit - zumindest auch - wesentlich in seinem eigenen Interesse tätig war, scheidet ein Versicherungsschutz nach § 539 Abs 2 iVm Abs 1 Nr 1 RVO aus.

 

Normenkette

RVO § 539 Abs 1 Nr 1 Fassung: 1963-04-30; RVO § 539 Abs 1 Nr 15 Fassung: 1963-04-30; RVO § 539 Abs 2 Fassung: 1963-04-30

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 15.12.1981; Aktenzeichen L 5 U 81/77)

SG Duisburg (Entscheidung vom 27.05.1977; Aktenzeichen S 17 U 275/76)

 

Tatbestand

Der Kläger erhebt Entschädigungsansprüche wegen der Folgen eines Unfalles, den er am 4. Dezember 1975 erlitten hat. Er stürzte von einem Gerüst, das zur Durchführung von Dacharbeiten an einem Doppelhaus aufgestellt worden war, dessen eine Hälfte im Eigentum des Klägers und seiner Ehefrau stand und von diesem bewohnt wurde, während die andere Hälfte den dort wohnenden Eheleuten L. gehörte. Das Dach des Doppelhauses schloß rundum unmittelbar mit dem Mauerwerk ab und hatte eine miteinander verbundene Regenrinne mit getrennten Abflußrohren. Im Laufe der Jahre stellte sich heraus, daß Feuchtigkeit in das Außenmauerwerk des ersten Obergeschosses eindrang. Der Kläger und sein Nachbar L. beabsichtigten deshalb, das Dach über das Mauerwerk hinaus zu verlängern. Die hierzu erforderlichen Holzerweiterungsarbeiten ließen sie von einem gewerblichen Unternehmer durchführen, das Einbringen der Dachpfannen und das Anbringen der Dachrinne wollten sie selbst vornehmen.

L. und ein von ihm hinzugezogener Bekannter, ein Dachdecker, arbeiteten am 4. Dezember 1975 am Dach. Um die Mittagszeit kam der Kläger und begab sich auf das an der Rückseite des Hauses stehende Gerüst. Von dort stürzte er auf die Terrasse der Haushälfte des L. hinab, als eine Gerüstbohle brach. Dabei erlitt er Fersenbeintrümmerfrakturen beiderseits.

Die Häuser des Klägers und seines Nachbarn L. sind Kaufeigenheime, bei deren Errichtung öffentlich geförderte Wohnungen und nur steuerbegünstigter Wohnraum geschaffen worden sind und für die ein Steuermeßbetrag für das bebaute Grundstück für die Zeit vom 1. Januar 1966 bis zum 31. Dezember 1975 nicht festzusetzen war (§ 92 des Zweiten Wohnungsbaugesetzes -II. WoBauG-). Beide Haushälften waren im Jahre 1965 bezugsfertig und sind in diesem Jahre bezogen worden; als Zeitpunkt der Übergabe des Hauses an den Kläger und seine Ehefrau ist im Vertrag mit dem Bauherrn der 1. Juli 1967 angegeben. Insoweit war der Sachverhalt dem Beklagten (GUV) bei der Erteilung seines Bescheides noch nicht bekannt.

Der Beklagte lehnte eine Entschädigung ab und führte zur Begründung ua aus, der Kläger habe nicht nach § 539 Abs 2 (iVm Abs 1 Nr 1) der Reichsversicherungsordnung (RVO) und § 657 Abs 1 Nr 7 RVO unter Versicherungsschutz gestanden, da er und L. als Unternehmer nicht gewerbsmäßiger Bauarbeiten bei gegenseitiger Hilfe nicht wie Arbeitnehmer tätig geworden seien (Bescheid vom 26. Oktober 1976).

Das Sozialgericht (SG) Duisburg hat die auf eine Entschädigungsleistung gerichtete Klage abgewiesen (Urteil vom 27. Mai 1977): Der Kläger und L. seien je für ihre Hälften des Doppelhauses weder nach Gesetz noch Satzung gegen Arbeitsunfall versicherte Bauherrn und Unternehmer der kurzen, nicht gewerbsmäßigen Bauarbeiten im Sinne des § 657 Abs 1 Nr 7 RVO gewesen. Die gegenseitige Hilfe sei im Grunde nichts anderes als die Arbeit im eigenen Interesse am eigenen Haus. Ein Versicherungsschutz nach § 539 Abs 2 RVO komme in einem solchen Fall nicht in Betracht.

Im Berufungsverfahren hat der Kläger seinen Anspruch auch auf § 539 Abs 1 Nr 15 RVO gestützt und die Feststellung begehrt, daß die Fersenbeinbrüche, die er am 4. Dezember 1975 erlitten hat, die Folgen eines Arbeitsunfalls sind. Diesem Antrag hat sich die vom Landessozialgericht (LSG) beigeladene Betriebskrankenkasse (BKK) der Thyssen AG (Beigeladene zu 1) angeschlossen, die einen Versicherungsschutz nach § 539 Abs 2 RVO für gegeben hält. Die vom LSG ebenfalls beigeladene Bau-Berufsgenossenschaft (Beigeladene zu 2) hat wie der Beklagte die Zurückweisung der Berufung beantragt.

Das LSG hat durch Urteil vom 15. Dezember 1981 die Berufung zurückgewiesen. Zur Begründung hat es ua ausgeführt: Der Kläger habe keinen Anspruch auf eine Verletztenrente. Er sei nicht nach § 539 Abs 2 iVm Abs 1 Nr 1 RVO gegen Arbeitsunfall versichert gewesen, als er auf dem Gerüst an dem Hausteil des L. gearbeitet habe. Die Tätigkeit des Klägers habe vielmehr auch insoweit zu seinem eigenen Aufgabenbereich als Hauseigentümer gehört, da die einheitliche Dachkonstruktion schon aus technisch vorgegebenen Erfordernissen zu einer einheitlichen Planung und Durchführung der Arbeiten gezwungen habe. Da der Kläger somit zugleich auch in seinem eigenen Interesse als Unternehmer gehandelt habe, sei er nicht wie ein Beschäftigter des L. tätig gewesen. Auch die Voraussetzungen eines Versicherungsschutzes nach § 539 Abs 1 Nr 15 RVO (Selbsthilfe beim Bau) seien nicht gegeben. Zwar handele es sich bei dem Haus des Klägers - wie auch bei dem des L. - um ein Kaufeigenheim, bei dessen Errichtung öffentlich geförderte Wohnungen geschaffen worden seien. Es könne jedoch dahingestellt bleiben, ob der für eine Selbsthilfe im Sinne des § 539 Abs 1 Nr 15 RVO erforderliche Mindestbetrag in Höhe von 1,5 vH der Gesamtkosten des Bauvorhabens gegenüber den üblichen Unternehmerkosten erspart worden sei und ob die Verlängerung des Daches nicht lediglich als Reparatur zu werten sei. Jedenfalls hätten die Dacharbeiten kurz vor Ablauf der Zehnjahresfrist für die Steuerbegünstigung - dem äußersten in Betracht kommenden Zeitraum für die Anerkennung einer Selbsthilfe beim Bau im Sinne des § 539 Abs 1 Nr 15 RVO - nach Zweck, Art und Umfang nicht der sachgemäßen Ergänzung oder Vollendung, sondern der Änderung oder Verbesserung eines bereits vollendeten Bauwerkes gedient. Darin aber liege keine Selbsthilfe bei dem Bau eines Familienheimes (Kaufeigenheimes) im Sinne des § 539 Abs 1 Nr 15 RVO.

Mit der vom LSG zugelassenen Revision vertritt der Kläger die Ansicht, er sei im Unfallzeitpunkt wie ein Arbeitnehmer des L., der sonst einen anderen Bauarbeiter hätte beschäftigen müssen, tätig geworden und deshalb nach § 539 Abs 2 iVm Abs 1 Nr 1 RVO versichert gewesen. Entgegen der Auffassung des LSG seien auch die Voraussetzungen des § 539 Abs 1 Nr 15 RVO erfüllt. Die Behebung des Mangels, der in der fehlerhaften Dachkonstruktion gelegen habe, sei der Vollendung des Bauvorhabens gleichzusetzen.

Er beantragt, die angefochtenen Urteile des Landessozialgerichts und des Sozialgerichts sowie den Bescheid der Beklagten vom 26. Oktober 1976 aufzuheben und festzustellen, daß die Fersenbeinfrakturen Folgen des Arbeitsunfalles vom 4. Dezember 1975 sind.

Der Beklagte und die Beigeladene zu 2 halten das angefochtene Urteil für zutreffend und beantragen, die Revision zurückzuweisen.

Die Beigeladene zu 1 hat sich im Revisionsverfahren nicht geäußert.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers ist nicht begründet. Das LSG hat zu Recht entschieden, daß der Kläger bei der im Unfallzeitpunkt verrichteten Tätigkeit nicht unter Versicherungsschutz gestanden hat; er war weder nach § 539 Abs 1 Nr 15 RVO (Selbsthilfe beim Bau eines Familienheimes) noch nach § 539 Abs 2 iVm Abs 1 Nr 1 RVO (wie ein bei seinem Nachbarn L. Beschäftigter) gegen Arbeitsunfall versichert.

Das Haus des Klägers ist nach den Feststellungen des LSG ein Kaufeigenheim, bei dessen Errichtung öffentlich geförderte Wohnungen geschaffen und im Jahre 1965 - bezugsfertig - bezogen worden sind. Dasselbe trifft auch auf das Haus des L. zu, an dem der Kläger zur Unfallzeit tätig war und das mit dem Haus des Klägers ein Doppelhaus bildet. Unfallversicherungsschutz besteht nach § 539 Abs 1 Nr 15 RVO für Personen, die bei dem Bau eines Familienheimes (zB Kaufeigenheim) im Rahmen der Selbsthilfe tätig sind, wenn durch das Bauvorhaben öffentlich geförderte oder steuerbegünstigte Wohnungen geschaffen werden sollen. Zutreffend hat das LSG angenommen, daß der Kläger im Unfallzeitpunkt nicht "bei dem Bau" seines Kaufeigenheimes "im Rahmen der Selbsthilfe tätig" gewesen ist.

Eine Selbsthilfe, die nach Art und Umfang für die Finanzierung des Bauvorhabens ohne erhebliche Bedeutung ist, begründet keinen Versicherungsschutz nach § 539 Abs 1 Nr 15 RVO; der durch den Wert der Selbsthilfe gegenüber den üblichen Unternehmerkosten ersparte Betrag muß in der Regel wenigstens 1,5 vH der Gesamtkosten des Bauvorhabens decken (BSGE 28, 122; 45, 258, 262; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1. - 9. Aufl, S 475a). Es kann dahingestellt bleiben, ob diese Voraussetzung, zu der das LSG aufgrund seiner Rechtsauffassung keine tatsächlichen Feststellungen getroffen hat, vor allem in bezug auf das Gesamtvorhaben und nicht nur auf die Tätigkeiten im Dezember 1975 gegeben war. Wie das LSG zutreffend entschieden hat, bestand für den Kläger unabhängig davon kein Versicherungsschutz. Es ist zwar nicht erforderlich, daß die Selbsthilfe vor oder unmittelbar nach dem Einzug in das Familienheim (Kaufeigenheim) verrichtet wird. Als zeitliche Grenze im Rahmen des § 539 Abs 1 Nr 15 RVO hat der Senat vielmehr die für die Steuerbegünstigung beim Bau eines Familienheimes jeweils vorgesehenen Zeiträume in Betracht gezogen (s BSG SozR Nr 26 zu § 539 RVO; BSG Urteil vom 8. September 1977 - 2 RU 20/77 - USK 77159). Hier ereignete sich der Unfall im letzten Monat der Zehnjahresfrist für die steuerliche Begünstigung (§§ 92, 94 II. WoBauG), die am 31. Dezember 1975 endete. Es bedarf jedoch auch im vorliegenden Fall (s auch BSG USK 77159; BSG SozR 2200 § 539 Nr 69) keiner abschließenden Entscheidung, welcher äußerste Zeitpunkt für die Annahme einer Selbsthilfe beim Bau im Sinne des § 539 Abs 1 zugrunde zu legen ist. Denn der Kläger hat den Unfall nicht "bei dem Bau" des Familienheimes (Kaufeigenheim) erlitten, wie das LSG zutreffend angenommen hat. Jedenfalls wenn eine lange nach der Fertigstellung des Hauses vorgenommene Arbeit - wie hier die Erweiterung des Daches - im Bauplan nicht vorgesehen gewesen ist, entscheidet sich insbesondere nach Zweck, Art und Umfang der Arbeit, ob sie noch dazu dient, das Familienheim zu vollenden (BSG USK 77159) und damit als eine Tätigkeit "bei dem Bau" angesehen werden kann. Daran fehlt es hier. Das LSG hat mit Recht ausgeführt, daß die Erweiterung des Daches - unabhängig davon, ob es sich lediglich um Reparaturarbeiten gehandelt hat - als die Änderung oder Verbesserung eines bereits vollendeten Bauwerks, nicht aber als Vollendung des Familienheimes zu werten ist. Zwar gehört zum Bau eines Familienheimes im Sinne des § 539 Abs 1 Nr 15 RVO nicht nur der Neubau, sondern insbesondere auch der Wiederaufbau, der Ausbau und die Erweiterung eines bestehenden Familienheimes, falls hierdurch für die Familie des Bauherrn (Bewerbers) zusätzlicher Wohnraum oder nach der Verkehrsanschauung dazu gehöriger Nebenraum geschaffen wird (s Brackmann aaO S 475) und die sonstigen Voraussetzungen des § 539 Abs 1 Nr 15 RVO erfüllt sind. Dies ist hier schon deshalb nicht der Fall, weil kein zusätzlicher Wohnraum und auch kein nach der Verkehrsanschauung dazugehöriger Nebenraum geschaffen wurde.

Ein Versicherungsschutz nach § 539 Abs 2 iVm Abs 1 Nr 1 RVO würde voraussetzen, daß der Kläger im Unfallzeitpunkt wie ein aufgrund eines Arbeits- oder Dienstverhältnisses Beschäftigter für einen Unternehmer (hier: für seinen Nachbarn L.) tätig gewesen ist. Dies scheidet jedoch nach den tatsächlichen Umständen, unter denen der Kläger tätig geworden ist, aus. Wie der Senat in ständiger Rechtsprechung entschieden hat, kann zwar auch ein Unternehmer wie ein Arbeitnehmer tätig werden. Das ist jedoch nicht der Fall, wenn der Unternehmer im Rahmen seines eigenen Unternehmens tätig wird, dh für sein eigenes Unternehmen Tätigkeiten verrichtet, die zum Aufgabenkreis seines Unternehmens gehören, selbst wenn seine Tätigkeit zugleich den Zwecken eines anderen Unternehmens dient (BSGE 5, 168, 174; 7, 195, 197; 27, 233, 235; SozR Nr 18 und Nr 3O zu § 539 RVO; SozR 2200 § 539 Nr 2; BSG Urteile vom 31. Mai 1978 - 2 RU 27/76 - USK 78176 und vom 26. März 1980 - 2 RU 69/78 - USK 8027; Brackmann aaO S 476 h). Die vom Kläger und seinem Nachbarn gemeinsam geplanten und durchgeführten Arbeiten am Dach sind wegen der einheitlichen Dachkonstruktion der beiden Haushälften als eine einheitliche Bauarbeit anzusehen, bei der jeder der beiden Eigentümer Bauherr und damit Unternehmer im Sinne der Unfallversicherung war, auch soweit die Tätigkeit an dem Hausteil des jeweiligen Nachbarn verrichtet worden ist. Da der Kläger hiernach zur Unfallzeit - zumindest auch - wesentlich in seinem eigenen Interesse tätig war, scheidet ein Versicherungsschutz nach § 539 Abs 2 iVm Abs 1 Nr 1 RVO aus.

Die Revision ist zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1658548

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