Entscheidungsstichwort (Thema)

Ausbildung zum Realschullehrer in Nordrhein-Westfalen. Anrechnung eines Hochschulstudiums

 

Orientierungssatz

1. Berechtigte ein von 1953 bis 1956 zurückgelegtes Studium an mehreren Universitäten seinerzeit in Nordrhein-Westfalen zur Absolvierung einer zweisemestrigen Fachschulausbildung, die mit der Realschullehrer-Anstellungsprüfung abzuschließen war, so liegt darin eine Gleichstellung und Gleichbewertung des Universitätsstudiums mit einer planmäßig und unverkürzt "abgeschlossenen Fachschulausbildung" iS des § 36 Abs 1 S 1 Nr 4 Buchst b AVG (= § 1259 Abs 1 Nr 4 Buchst b RVO), und zwar auch dem Umfang nach.

2. Zu einer solchen Gleichstellung und Gleichbewertung eines Hochschulstudiums mit einer Fachschulausbildung war das Land Nordrhein-Westfalen schon seinerzeit aufgrund der Kompetenzverteilung des GG im Bereich der Schul- und Hochschulausbildung sowie des gesamten Schulwesens einschließlich der Lehrerausbildung befugt (vgl Art 30, 70, 83ff GG).

 

Normenkette

AVG § 36 Abs 1 S 1 Nr 4 Buchst b; RVO § 1259 Abs 1 S 1 Nr 4 Buchst b; GG Art 30; GG Art 70; GG Art 83

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 27.11.1987; Aktenzeichen L 14 An 43/87)

SG Düsseldorf (Entscheidung vom 02.10.1986; Aktenzeichen S 20 An 290/85)

 

Tatbestand

Streitig ist die rentensteigernde Berücksichtigung einer weiteren Ausfallzeit gemäß § 36 Abs 1 Satz 1 Nr 4 Buchst b) des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG).

Die 1930 geborene Klägerin studierte von April 1953 bis März 1956 insgesamt sechs Semester an den Universitäten Freiburg, Zürich, Göttingen und Bonn, ohne einen Hochschulabschluß zu erlangen. Im Anschluß hieran besuchte sie vom 1. April 1956 bis 4. Juni 1957 in Essen einen zweisemestrigen Realschullehrer-Lehrgang, nach dessen erfolgreichem Abschluß ihr mit Datum vom 9. Juli 1957, entsprechend den Bestimmungen des Landes Nordrhein-Westfalen, das Zeugnis der Befähigung für das Lehramt an Realschulen (Mittelschulen) erteilt wurde. In der Zeit von Februar 1970 bis März 1983 war die Klägerin als Grundschullehrerin im Angestelltenverhältnis beschäftigt.

Auf Antrag der Klägerin vom 15. März 1983 bewilligte die Beklagte mit Bescheid vom 21. August 1984 ab 1. März 1983 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (EU), bei deren Berechnung sie den Realschullehrer-Lehrgang mit 15 Monaten als Ausfallzeit (Fachschulausbildung) iS des § 36 Abs 1 Satz 1 Nr 4 Buchst b) AVG berücksichtigte. Gegen diese Feststellung erhob die Klägerin Widerspruch mit dem Begehren, daß auch das sechssemestrige Hochschulstudium als Zulassungsvoraussetzung für die Realschullehrerprüfung als Ausfallzeit berücksichtigt werde. Mit Bescheid vom 11. Februar 1985 half die Beklagte dem Widerspruch insoweit teilweise ab, als die Zeit vom 1. April 1954 bis 5. März 1956 zusätzlich als Ausfallzeit anerkannt wurde. Im übrigen wies sie den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 20. September 1985 zurück, weil das nicht abgeschlossene Hochschulstudium nur in dem Umfange als Ausfallzeit gewertet werden könne, als die Fachschulausbildung nachweislich wegen des vorausgegangenen Hochschulstudiums abgekürzt worden sei.

Auf die am 23. Oktober 1985 erhobene Klage hat das Sozialgericht (SG) die Beklagte am 2. Oktober 1986 verurteilt, bei der Rentenberechnung auch die Zeit des Universitätsstudiums vom 20. April 1953 bis 31. März 1954 als Ausfallzeit "wegen Fachschulausbildung" anzurechnen. Auf die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) im angefochtenen Urteil vom 27. November 1987 die erstinstanzliche Entscheidung mit der Maßgabe bestätigt, "die Zeit der Fachschulausbildung mit einer Zeit von 48 Monaten als Ausfallzeit zugrunde zu legen". Das LSG hat im wesentlichen ausgeführt, nach der maßgeblichen Zielsetzung des § 36 Abs 1 Satz 1 Nr 4 Buchst b) AVG müsse diese "typische" Fachschulausbildung zum Realschullehrer bis zur gesetzlich vorgesehenen zeitlichen Höchstgrenze als Ausfallzeit berücksichtigt werden. Das nicht abgeschlossene Hochschulstudium könne nicht für sich betrachtet werden; es sei vielmehr als ein Teil einer nach der seinerzeit gültigen Prüfungsordnung des Landes Nordrhein-Westfalen vom 20. April 1948 üblichen Ausbildung zum Realschullehrer zu werten, so daß eine insgesamt vierjährige Ausfallzeit iS einer Fachschulausbildung anerkennungsfähig sei.

Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision rügt die Beklagte die Verletzung materiellen Rechts. Die Tatsache, daß eine Hochschulausbildung in bestimmtem zeitlichen Umfang Zugangs- und Zulassungsvoraussetzung für eine fachschulmäßige Ausbildung sei, könne nicht dazu führen, die Hochschulausbildung als Fachschulausbildung zu werten. Folge man der Feststellung des LSG, daß eine Verkürzung der Fachschulausbildung durch die Hochschulausbildung nicht stattgefunden habe, müsse vom Vorliegen einer für sich zu betrachtenden nicht abgeschlossenen Hochschulausbildung ausgegangen werden, die nicht als Ausfallzeit anerkannt werden könne. Die Realschullehrerprüfung sei nicht der vorgesehene Abschluß des Hochschulstudiums gewesen.

Die Beklagte beantragt,

unter Abänderung des angefochtenen Urteils und Aufhebung des Urteils des Sozialgerichts Düsseldorf vom 2. Oktober 1986 die Klage abzuweisen.

Die Klägerin ist im Revisionsverfahren nicht vertreten.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung nach § 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision der Beklagten ist nicht begründet.

Nach § 36 Abs 1 Nr 4 Buchst b) AVG (= § 1259 Abs 1 Nr 4 Buchst b) der Reichsversicherungsordnung - RVO) idF des Rentenreformgesetzes (RRG) vom 16. Oktober 1972 (BGBl I S 1965) sind auf die Versicherungsjahre nach § 35 AVG (= § 1258 RVO) anrechenbare Ausfallzeiten ua Zeiten einer abgeschlossenen Fachschul- oder Hochschulausbildung, jedoch eine Fachschulausbildung nur bis zur Höchstdauer von vier Jahren, eine Hochschulausbildung nur bis zur Höchstdauer von fünf Jahren. Die Begriffe Fachschul- bzw Hochschulausbildung sind im Gesetz selbst nicht definiert (vgl BSGE 35, 52, 53 ff = BSG SozR Nr 49 zu § 1259 RVO; BSG SozR 2200 § 1255a Nr 6; BSG SozR 2200 § 1259 Nrn 47, 62, 63, 76, 101 sowie das nichtveröffentlichte Urteil des erkennenden Senats vom 12. Juli 1988 - 4/11a RA 69/87). Der Beklagten ist einzuräumen, daß für die Qualifikation einer Ausbildung als Fachschul- oder als Hochschulausbildung ua - neben zB Art und Inhalt der Ausbildung - der Status der Bildungsstätte wesentlich ist (vgl BSGE 52, 86 = SozR 2200 § 1249 Nr 57; BSGE 56, 36, 39 = SozR aaO Nr 80; BSGE 61, 35 = SozR aaO Nr 96). Die von der Klägerin zwischen April 1953 und März 1956 an den Universitäten Freiburg, Zürich, Göttingen und Bonn verbrachten sechs Studiensemester sind danach "Hochschulausbildung", die aber für sich betrachtet allein schon deswegen nicht als Ausfallzeit anrechenbar wäre, weil die Klägerin dieses Universitätsstudium entgegen § 36 Abs 1 Nr 4 Buchst b) AVG nicht "abgeschlossen" hat. Richtig ist ferner, daß grundsätzlich jeder Ausbildungsgang gesondert zu beurteilen ist (vgl BSG SozR 2200 § 1259 Nrn 38 und 41; BSGE 52, 86 = SozR aaO Nr 52) und ein nicht abgeschlossenes Hochschulstudium einer Fachschulausbildung nicht schon deshalb zugerechnet werden kann, weil es die Entscheidung über die Aufnahme in die Fachschule günstig beeinflußt hat (BSG SozR aaO Nr 4). Indessen hat die Beklagte die besonders liegenden Gegebenheiten des vorliegenden Falles nicht ausreichend berücksichtigt.

Das LSG hat im angefochtenen Urteil festgestellt, daß nach der bei Studienabschluß im Jahre 1957 noch geltenden "Ordnung der Prüfung zur Erlangung der Lehrbefähigung an Mittelschulen (Realschulen)" gemäß Erlaß des nordrhein-westfälischen Kultusministers vom 20. April 1948 und den diese Prüfungsordnung ergänzenden Bestimmungen des Landes Nordrhein-Westfalen ua solche Studenten die Befähigung zur Anstellung als Realschullehrer in diesem Bundesland erwarben, die ein - auch nicht durch eine Prüfung abgeschlossenes - sechssemestriges Studium in zwei Fächern und in Erziehungswissenschaft zurückgelegt und an einem in der Regel zweisemestrigen Studiengang zur Vorbereitung auf die Fachprüfung für das Lehramt an Realschulen teilgenommen sowie die entsprechende Fachprüfung abgelegt haben (vgl S 15 unten und S 16 oben des LSG-Urteils). Diese Feststellungen binden den erkennenden Senat, und zwar soweit es sich um eine Tatsachenfeststellung handelt nach § 163 SGG und gegebenenfalls als Feststellung nichtrevisiblen nordrhein-westfälischen Landesrechts (§ 162 SGG) nach § 202 SGG iVm § 562 der Zivilprozeßordnung.

Berechtigte mithin die Klägerin ihr von 1953 bis 1956 zurückgelegtes Studium an mehreren Universitäten seinerzeit in Nordrhein- Westfalen zur Absolvierung einer zweisemestrigen Fachschulausbildung, die mit der Realschullehrer-Anstellungsprüfung abzuschließen war, so liegt darin eine Gleichstellung und Gleichbewertung des Universitätsstudiums mit einer planmäßig und unverkürzt "abgeschlossenen Fachschulausbildung" iS des § 36 Abs 1 Nr 4 Buchst b) AVG, und zwar auch dem Umfang nach: Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts (S 4, 6, 10 des Urteils) konnte die Klägerin die Befähigung für das Lehramt an einer Realschule im Land Nordrhein-Westfalen nach keinem der seinerzeit dort vorgesehenen verschiedenen Ausbildungsgänge in weniger als vier Jahren absolvieren, sich also durch Berufsausbildung den "Weg in das Berufsleben" nicht früher "eröffnen" (vgl dazu BSG SozR 2200 § 1259 Nr 92 S 797 und Nr 100 S 270; BSGE 61, 35 = SozR 2200 § 1259 Nr 96; zur Funktion der Ausbildungsausfallzeit als rentenrechtlicher Ausgleich für eine mutmaßliche durch sie verursachte Verhinderung, einer rentenversicherungspflichtigen Beschäftigung nachzugehen und so Pflichtbeiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung zu leisten vgl ferner BSGE 44, 226 = SozR 2200 § 1259 Nr 5; BSG SozR aaO Nr 23 und 100). Zu einer solchen Gleichstellung und Gleichbewertung eines Hochschulstudiums mit einer Fachschulausbildung war aber das Land Nordrhein-Westfalen schon seinerzeit aufgrund der Kompetenzverteilung des Grundgesetzes (GG) im Bereich der Schul- und Hochschulausbildung sowie des gesamten Schulwesens einschließlich der Lehrerausbildung befugt (vgl Art 30, 70, 83 ff GG). Zu Recht hat daher das LSG die streitige Zeit als Bestandteil einer insgesamt als Fachschulausbildung zu bewertenden Ausfallzeit bis zur Höchstdauer von vier Jahren anerkannt.

Nach alledem trifft die angefochtene Entscheidung zu, so daß die Revision der Beklagten hiergegen mit der Kostenentscheidung aus § 193 SGG zurückzuweisen war.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1654132

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