Entscheidungsstichwort (Thema)

Abgrenzung Schulausbildung. Hochschulausbildung

 

Leitsatz (amtlich)

1. Der Ausfallzeittatbestand einer Schul-, Fachschul- oder Hochschulausbildung ist nicht auf Ausbildungen im Inland beschränkt.

2. Für die Abgrenzung dieser Ausbildungen kommt es wesentlich auf den Status der Ausbildungseinrichtung und daneben auf Art und Inhalt der Ausbildung, nicht aber auf deren Niveau an.

 

Orientierungssatz

Die Ausbildung an der "Cairo-University" in Kairo ist keine Schulausbildung, sondern eine Hochschulausbildung iS von RVO § 1259 S 1 Nr 4 Buchst b. Ein Verstoß gegen GG Art 3 Abs 1 liegt nicht vor.

 

Normenkette

AVG § 36 Abs 1 S 1 Nr 4 Buchst b Fassung: 1972-10-16; RVO § 1259 Abs 1 S 1 Nr 4 Buchst b Fassung: 1972-10-16; GG Art 3 Abs 1 Fassung: 1949-05-23

 

Verfahrensgang

Schleswig-Holsteinisches LSG (Entscheidung vom 10.11.1982; Aktenzeichen L 4 An 99/81)

SG Itzehoe (Entscheidung vom 16.10.1981; Aktenzeichen S 3 An 11/81)

 

Tatbestand

Streitig ist eine Ausbildungsausfallzeit. Der am 17. Dezember 1944 geborene Kläger (der nach dem Vortrag seiner Prozeßbevollmächtigten in der Verhandlung vor dem Senat heute deutscher Staatsangehöriger ist) besuchte in Ägypten bis zum Jahresende 1961 eine Oberschule und danach bis Oktober 1964 die "Cairo-University, Faculty of Engineering". Anschließend studierte er in der Bundesrepublik Deutschland - nach einer Prüfung zur Feststellung der Hochschulreife - Mathematik mit dem Abschluß der Diplomhauptprüfung im Februar 1971. Ab April 1971 war er versicherungspflichtig beschäftigt.

Die Beklagte hat als Ausfallzeiten eine Schulausbildung vom 17. Dezember 1960 bis 31. Januar 1962 und Hochschulausbildungen vom 1. Februar 1962 bis zum 31. Oktober 1964 (in Kairo) und vom 9. November 1964 bis 19. Februar 1971 (in der Bundesrepublik) vorgemerkt, bei letzteren mit dem Hinweis der Begrenzung auf die Höchstdauer von fünf Jahren (Bescheid vom 18. Februar 1980; Widerspruchsbescheid vom 7. November 1980). Um dieser Begrenzung auszuweichen, begehrt der Kläger, den Besuch der "Cairo-University" nicht als Hochschulausbildung, sondern als Schulausbildung vorzumerken. Seine Klage blieb in den beiden Vorinstanzen ohne Erfolg (Urteil des Sozialgerichts -SG- vom 16. Oktober 1981; Urteil des Landessozialgerichts -LSG- vom 10. November 1982). Nach der Ansicht des LSG hat es sich bei dem Studium an der Cairo-University nach dem formalen Aufbau der Bildungssysteme sowohl im Vergleich mit der zuvor besuchten Oberschule als auch wegen der vermittelten - im Schwerpunkt berufsbezogenen - Kenntnisse um eine Hochschulausbildung gehandelt; ob dabei das deutsche Hochschulniveau erreicht worden sei, sei unerheblich.

Mit der Revision rügt der Kläger Verletzung des § 36 Abs 1 Nr 4 Buchst b AVG. Bei der Auslegung dieser Vorschrift sei nach der Art der Lehrveranstaltungen zu differenzieren; die Hochschulausbildung in Ägypten beginne mit einer geringeren Schulvorbildung als in der Bundesrepublik Deutschland und erreiche in den ersten beiden Jahren noch nicht das an deutschen Universitäten übliche Niveau. Die Feststellung der Hochschulreife in Deutschland sei nach einem Beschluß der Kultusministerkonferenz notwendig gewesen, weil die Ausbildung an der Cairo-University nicht als Hochschulausbildung angerechnet werden konnte. Eine andere Bewertung in der Rentenversicherung verstoße gegen Art 3 GG; sie führe bei im Ausland Studierenden zwangsläufig zu geringeren Ausfallzeiten.

Der Kläger beantragt, die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Beklagte unter Abänderung des angefochtenen Bescheides zu verurteilen, die Zeit des Studiums an der Cairo-University vom 1. Februar 1962 bis zum 31. Oktober 1964 als Ausfallzeit wegen Schulbesuchs vorzumerken.

Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Zur Frage, ob Schul-, Fach- und Hochschulausbildungen im Ausland überhaupt Ausfallzeiten sein können, hat sie die Auffassung vertreten, daß dies wohl nur unter eingeschränkten Voraussetzungen (deutsche Examina, Studien von Deutschen im Ausland) vertretbar sei.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers war zurückzuweisen.

Seinem Begehren, die streitige Zeit als Schulausbildung iS des § 36 Abs 1 Satz 1 Nr 4 Buchst b AVG vorzumerken, steht zwar nicht entgegen, daß die Ausbildungszeit im Ausland zurückgelegt worden ist - was der Senat prüfen muß, auch wenn die Beklagte darin kein Hindernis für die Vormerkung als Hochschulausbildung im angefochtenen Bescheid erblickt hatte. Aus dem Wortlaut der anzuwendenden Vorschrift ergibt sich keine Beschränkung auf Schul-, Fachschul- und Hochschulausbildungen im Inland; eine solche läßt sich auch nicht mittelbar aus den dortigen Zeitbegrenzungen, die der in Deutschland üblichen Ausbildungsdauer entsprechen, dem geforderten Lebensalter von 16 Jahren (vgl BT-Drucks IV/2572, S 26 zu Nr 13b), der an sich erstrebten Gleichbehandlung der in Buchst a genannten Lehre mit der in Buchst b aufgeführten Schulausbildung (vgl BSGE 48, 100, 103) und der Abschlußforderung bei den Fach- und Hochschulausbildungen herleiten; wenn der Gesetzgeber eine Einschränkung gewollt hätte, hätte er sie zudem inhaltlich näher umschreiben müssen. Die Entstehungsgeschichte der 1957 eingeführten und seitdem mehrfach geänderten Vorschrift gibt ebenfalls keine Hinweise in dieser Richtung. Ebensowenig läßt die Systematik des § 36 AVG insgesamt eine allgemeine Beschränkung auf Inlandssachverhalte erkennen. Nach der Beschreibung der Ausfallzeittatbestände müssen zwar die Arbeitslosigkeit (Nr 3) und die Lehrzeit (Nr 4 Buchst a, vgl BSGE 48, 100 = SozR 2200 § 1259 Nr 37) im Inland zurückgelegt sein, nicht aber andere Ausfallzeiten wie Schwangerschaft und Wochenbett (Nr 2) sowie Rentenbezugszeiten (Nrn 5 und 6). Allerdings sichert das Gesetz dabei durch weitere Merkmale den Bezug zur deutschen Rentenversicherung (Unterbrechung einer nach deutschem Versicherungsrecht versicherungspflichtigen Beschäftigung, Bezug deutscher Renten); eine solche Sicherung gab es früher aber auch bei den Schul-, Fach- und Hochschulausbildungen durch den ursprünglich geforderten Anschlußpflichtbeitrag innerhalb von zwei, später von fünf Jahren. Daneben war und ist nach wie vor für die Anrechnung aller Ausfallzeiten das Erfordernis der Halbbelegung in § 36 Abs 3 AVG zu erfüllen; im Hinblick hierauf läßt es sich nicht ausschließen, daß der Gesetzgeber nach der Streichung des Anschlußbeitrages darin einen ausreichenden Schutz gegen eine zu weitgehende Berücksichtigung nicht nur von inländischen, sondern auch von ausländischen Ausbildungszeiten gesehen hat. Gegen eine von ihm gewollte Beschränkung auf inländische Ausbildungszeiten können überdies andere einschlägige Regelungen angeführt werden, wie etwa die §§ 28 Abs 2 Satz 2 Buchst a, 39 Abs 3 Satz 2, 44 Abs 1 Satz 2 AVG, die für die dort genannten (für Ersatzzeiten, Kinderzuschüsse und Waisenrenten erheblichen) Ausbildungen keine solche Beschränkung kennen und ferner das Bundesausbildungsförderungsgesetz, das in mehreren Bestimmungen (§§ 5 ff) ausdrücklich die Förderung von Ausbildungen im Ausland - unter den dort beschriebenen Voraussetzungen - bei Deutschen und Ausländern vorsieht. Der Sinn und Zweck der Ausfallzeiten, schuldlos verhinderte Beitragszeiten in der deutschen Rentenversicherung auszugleichen, kann, wie auch die Beklagte eingeräumt hat, kein zureichendes Gegenargument liefern, weil es nicht auf die Wahrscheinlichkeit der ansonsten erfolgten Beitragsleistung im Einzelfall ankommt und dies gerade für die regelmäßig vor dem Beginn des (deutschen) Versicherungslebens liegenden Ausbildungszeiten gelten muß. Soweit diese zugleich wegen späterer höherer Beiträge honoriert werden sollten, können spätere höhere Beiträge durch eine ausländische Ausbildung nicht minder als durch eine deutsche ausgelöst werden.

Der Kläger hat jedoch deshalb keinen Anspruch auf die Vormerkung der streitigen Zeit als Zeit der Schulausbildung, weil es sich um keine Schulausbildung iS des § 36 Abs 1 Satz 1 Nr 4 Buchst b AVG gehandelt hat. Für die Abgrenzung der dort genannten Ausbildungen kommt es wesentlich - und jedenfalls im Inland in erster Linie - auf den Status der Ausbildungseinrichtung an (BSGE 52, 86 = SozR 2200 § 1259 Nr 52); insoweit war die "Cairo-University" eine Hochschule nicht nur dem Namen nach, sondern, wie das LSG festgestellt hat, auch nach dem § 36 Abs 1 Satz 1 Nr 4 Buchst b AVG zugrundeliegenden formalen Aufbau der Bildungssysteme. Daneben ist - und bei Ausbildungen im Ausland eher noch verstärkt - Art und Inhalt der Ausbildung zu berücksichtigen (§ 2 Abs 1 Satz 2 des Bundesausbildungsförderungsgesetzes); insoweit ist für die Schulausbildung die Allgemeinbildung und für die Fach- und Hochschulausbildung die berufsbezogene Bildung kennzeichnend. Hierzu hat das LSG festgestellt, der Kläger habe an der Cairo-University, Faculty of Engineering, in dem sogenannten Vorbereitungsjahr von den Lehrangeboten die Fächer gewählt: Mathematik, Mechanik, beschreibende Geometrie, technisches Zeichnen, Herstellungstechnik, Physik, allgemeine Chemie, Englisch und Geisteswissenschaften; in dem anschließenden "ersten Jahr" des Studiums seien die Fächer "Mathematik, Mechanik, Physik, Maschinenzeichnen, Gebäudekonstruktion, Strukturtheorie, Landvermessung, Testen und Werten von Materialien, Produktionstechnik und Arbeitspraxis" gefolgt. Hieraus hat das LSG zutreffend gefolgert, daß in den beiden Jahren keine Ausbildung an einer allgemeinbildenden Schule stattgefunden hat, da - zumindest weit überwiegend - berufsbezogene Kenntnisse vermittelt wurden. Daß dies angeblich auf einem niedereren Niveau als in der Bundesrepublik geschehen ist, hat das LSG zu Recht als unerheblich angesehen; ein niederes Niveau kann nicht Fach- und Hochschulausbildungen zu Schulausbildungen umgestalten.

Ein Verstoß gegen Art 3 Abs 1 des Grundgesetzes (GG) liegt nicht vor. Zur behaupteten unterschiedlichen Bewertung des Studiums an der Cairo-University im rentenversicherungsrechtlichen und hochschulrechtlichen Bereich hat der Kläger schon nicht ersichtlich machen können, daß die streitige Ausbildung im Hochschulrecht als "Schulausbildung" gelten würde. Die Kultusverwaltung hat wohl nur lediglich aus der in Ägypten begonnenen Hochschulausbildung noch nicht auf die in Deutschland geforderte Hochschulreife geschlossen; darin liegt keine Wertung als Schulausbildung, worauf es hier allein ankommt. Soweit der Kläger durch die hier vorgenommene Auslegung sich gegenüber anderen Versicherten mit Schul- und Hochschulausbildung benachteiligt hält, verkennt er, daß § 36 Abs 1 Satz 1 Nr 4 Buchst b AVG den Versicherten mit Schul- und Hochschulausbildung keine Gesamtausfallzeit von neun Jahren garantieren will; das Gesetz gewährt hier Ausfallzeiten getrennt, und zwar bei der Schulausbildung bis zu vier und bei der Hochschulausbildung bis zu fünf Jahren; werden diese Zeiten bei der jeweiligen Ausbildung nicht erreicht, so kommt es auf die Gründe für das Zurückbleiben unter der jeweiligen Höchstgrenze nicht an.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1660861

BSGE, 36

Breith. 1984, 595

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