Entscheidungsstichwort (Thema)

Berufsunfähigkeit. Erwerbsunfähigkeit. konkrete Bezeichnung der Verweisungstätigkeit. Einhänder

 

Orientierungssatz

1. Bei der Beurteilung der Erwerbsunfähigkeit oder der Berufsunfähigkeit sind die Tätigkeiten, die dem Versicherten nach seinen Kräften und Fähigkeiten und beruflich zumutbar sind, grundsätzlich konkret zu prüfen und zu benennen; das gilt nicht, wenn es im Einzelfall, insbesondere bei allgemeiner Beschränkung auf leichtere Arbeiten, offensichtlich ist, daß es für den Versicherten entsprechende Tätigkeiten gibt (vgl BSG 1979-06-28 3 RJ 70/78 = SozR 2200 § 1246 Nr 45).

2. Eine Einarmigkeit ist als eine spezifische Einschränkung der Erwerbsfähigkeit anzusehen, bei der die konkrete Bezeichnung von Verweisungstätigkeiten grundsätzlich erforderlich ist (vgl BSG 1978-04-19 4 RJ 55/77 = SozR 2200 § 1246 aaO Nr 30).

 

Normenkette

RVO § 1246 Abs 2 Fassung: 1957-02-23, § 1247 Abs 2 Fassung: 1957-02-23

 

Verfahrensgang

LSG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 12.03.1979; Aktenzeichen L 2 J 45/78)

SG Speyer (Entscheidung vom 20.02.1978; Aktenzeichen S 10 J 186/77)

 

Tatbestand

Der im Jahr 1923 geborene Kläger erlernte das Handwerk des (Autogen-)Schweißers und übte dieses, durch zeitweiligen Wehrdienst unterbrochen, von 1942 bis Anfang 1945 aus. Ende April 1945 erlitt er als Soldat Granatsplitterverletzungen an der rechten Brustseite und am rechten Handgelenk. Seine rechte Hand ist dadurch im wesentlichen versteift. Nach der Entlassung aus dem Lazarett im August 1945 arbeitete er zunächst in der elterlichen Landwirtschaft und war anschließend von 1950 bis 1967 als Hilfsarbeiter bei den Deutschen L-werken sowie von Februar 1968 bis Februar 1969 als Bauhilfsarbeiter bei der Firma H AG beschäftigt. Seitdem ist er nicht mehr erwerbstätig. Er kann nur noch leichte Tätigkeiten, die sonst ein Einhänder ausübt, vollschichtig verrichten, wobei er die verletzte Hand als Stütz- und Beihand verwenden kann.

Im November 1976 beantragte der Kläger Rente wegen Erwerbsunfähigkeit. Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 1. März 1977 den Antrag ab, weil der Kläger weder berufs- noch erwerbsunfähig sei.

Das Sozialgericht (SG) Speyer hat mit Urteil vom 20. Februar 1978 die Klage abgewiesen. Das Landessozialgericht (LSG) Rheinland-Pfalz hat mit Urteil vom 12. März 1979 die Berufung des Klägers als unbegründet zurückgewiesen. Es hat in den Entscheidungsgründen ausgeführt: Dem Kläger könne der Berufsschutz eines Facharbeiters nicht zugebilligt werden, weil auf Grund seiner Tätigkeit als Schweißer die Wartezeit nicht erfüllt gewesen sei. Der Kläger könne Hilfskrafttätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes vollschichtig verrichten.

Mit der vom Senat zugelassenen Revision rügt der Kläger eine Verletzung der §§ 1246, 1247 Reichsversicherungsordnung (RVO) und trägt vor: Die vom LSG vorgenommene pauschale Verweisung auf den allgemeinen Arbeitsmarkt unterlasse eine eingehende Überprüfung der Zumutbarkeit. Es sei auch nicht augenscheinlich, daß zumutbare Tätigkeiten für ihn vorhanden seien.

Er beantragt,

die Urteile der Vorinstanzen sowie den

Bescheid der Beklagten vom 1977-03-01 aufzuheben

und die Beklagte zu verurteilen, ihm für die Zeit

vom 1976-12-01 an Rente wegen Erwerbsunfähigkeit

zu zahlen.

Die Beklagte stellt keinen Antrag.

Die Beteiligten haben sich damit einverstanden erklärt, daß der Senat ohne mündliche Verhandlung entscheidet.

 

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision ist insoweit begründet, als das angefochtene Urteil aufgehoben und die Sache zurückverwiesen werden muß. Die vom Berufungsgericht getroffenen Feststellungen reichen für eine abschließende Entscheidung nicht aus.

Das LSG hat ausgeführt, der Kläger sei weder berufsunfähig (§ 1246 Abs 2 RVO) noch erwerbsunfähig (§ 1247 Abs 2 RVO). Das ist aus mehreren Gründen fraglich.

Zunächst hat das LSG angenommen, der "bisherige Beruf" des Klägers iS des § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO sei nicht der eines Facharbeiters, sondern der eines ungelernten Arbeiters; deshalb könne dem Kläger kein "Berufsschutz" zugebilligt werden. Diese Auffassung ist dann nicht richtig, wenn der Kläger aus gesundheitlichen Gründen seine Berufstätigkeit als Schweißer hat aufgeben müssen. Eine solche Lösung vom Beruf könnte nicht zuungunsten des Klägers verwertet werden, weil sie auf Gründen beruhte, für deren Folgen der Versicherungsträger gerade einzustehen hat (BSG, Urteil vom 29. März 1963 - 12/3 RJ 260/58 = BSGE 19, 57, 59 = SozR Nr 26 zu § 1246 RVO, st Rspr). Das LSG hat zwar ausgeführt, der Übergang sei erfolgt, bevor die Wartezeit erfüllt gewesen sei. Es hat daraus geschlossen, daß der erlernte Beruf nicht der "bisherige Beruf" sei. Das LSG hat aber nicht berücksichtigt, daß nach § 17 Abs 1 des Gesetzes über weitere Maßnahmen in der Reichsversicherung aus Anlaß des Krieges vom 15. Januar 1941 (RGBl I 37) bei Versicherten, die während des Krieges infolge einer Wehrdienstbeschädigung invalide (berufsunfähig) geworden waren, die Wartezeit als erfüllt galt. Ist aber eine Beitragsleistung imstande, einen Rentenanspruch zu begründen, dann ist die der Beitragsleistung zugrundeliegende Erwerbstätigkeit auch für den Rentenanspruch zu beachten.

Das LSG hat sodann, was die Revision insbesondere rügt, die Tätigkeiten, nach denen es die Erwerbsfähigkeit des Klägers beurteilt (§ 1246 Abs 2 Satz 2 RVO), auf die es diesen also verweist, nicht genügend "konkret" geprüft und benannt. Zwar kann es noch hingenommen werden, daß es hinsichtlich der Verweisungstätigkeiten zum Teil auf das Urteil des SG Bezug genommen hat, weil zumindest der Umfang der Verweisung aus dem angefochtenen Urteil deutlich wird. In diesem Zusammenhang ist jedoch darauf hinzuweisen, daß die Rechtsauffassung des LSG über die Anwendbarkeit des § 543 nF Zivilprozeßordnung falsch ist (vgl BSG, Urteil vom 5. Juli 1979 - 9 RV 72/77 = SozR 1750 § 543 Nr 2).

Der erkennende Senat hat mehrfach entschieden, daß bei der Beurteilung der Erwerbsunfähigkeit oder der Berufsunfähigkeit die Tätigkeiten, die dem Versicherten nach seinen Kräften und Fähigkeiten und beruflich zumutbar sind, grundsätzlich konkret zu prüfen und zu benennen sind; das gilt nicht, wenn es im Einzelfall, insbesondere bei allgemeiner Beschränkung auf leichtere Arbeiten, offensichtlich ist, daß es für den Versicherten entsprechende Tätigkeiten gibt (Urteile vom 19. April 1978 - 4 RJ 55/77 = SozR 2200 § 1246 Nr 30, vom 31. Oktober 1978 - 4 RJ 27/77 = SozR aaO Nr 33, vom 28. November 1978 - 4 RJ 127/77 = SozR aaO Nr 35 und vom 28. Juni 1979 - 4 RJ 70/78 = SozR aaO Nr 45); der 5. Senat des Bundessozialgerichts ist der gleichen Rechtsauffassung (Urteile vom 28. November 1978 - 5 RKn 10/77 = SozR aaO Nr 36 und vom 15. Februar 1979 - 5 RJ 48/78 = SozR aaO Nr 38).

Wer wie der jetzt 57 Jahre alte Kläger zwar noch leichte Tätigkeiten, aber nur solche, die sonst ein Einhänder mit Unterstützung durch die Beihand ausübt, verrichten kann, dessen Behinderung ist nicht so gering, daß das Vorhandensein geeigneter Tätigkeiten als offensichtlich ("evident") anzusehen ist. Der Senat hat vielmehr die Einarmigkeit gerade als eine spezifische Einschränkung der Erwerbsfähigkeit angesehen, bei der die konkrete Bezeichnung von Verweisungstätigkeiten grundsätzlich erforderlich ist (Urteil vom 19. April 1978, SozR aaO Nr 30). Beim Kläger kommt noch hinzu, daß auch die Fingerfertigkeit der linken Hand infolge eines Arbeitsunfalls eingeschränkt ist.

Den Anforderungen an die konkrete Bezeichnung entspricht das Urteil des LSG auch in Verbindung mit dem Urteil der ersten Instanz nicht. Der Hinweis, dem Kläger seien alle Beschäftigungen zumutbar, die sonst ein Einhänder auszuüben imstande ist, ist zu allgemein, um die Verpflichtung zur konkreten Bezeichnung erfüllen zu können. Diese Verpflichtung hat den Sinn, dem Versicherten, der nach Ablehnung des Rentenantrages eine seiner Behinderung angepaßte Tätigkeit suchen muß, die erforderlichen Hinweise dafür zu geben. Da das LSG hier soweit hinter dem Erforderlichen zurückgeblieben ist, braucht der Senat auf die Kritik von Baader am "Bezeichnungsritual" (SGb 1980, 183; vgl dazu auch Wiegand, SozSich 1980, 341) nicht näher einzugehen. Denn es steht außer Zweifel, daß jedenfalls beim gesundheitlich eingeschränkten Facharbeiter sich das Gericht mit dem sachlichen Umfang des verbleibenden beruflichen Bereichs beschäftigen muß (vgl dazu auch Baader, aaO, IV 2 b, S 187).

Das angefochtene Urteil war aufzuheben. Die Sache war, da der Senat die erforderlichen Feststellungen nicht selbst treffen kann, an das LSG zurückzuverweisen. Dieses wird auch über die Kosten zu entscheiden haben.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1658326

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