Entscheidungsstichwort (Thema)

"Sozialtherapeutisches Übergangswohnheim". Rehabilitations-Maßnahme

 

Orientierungssatz

1. Der medizinische Rehabilitationsauftrag des Rentenversicherungsträgers ist ganz pragmatisch bestimmt. Er erfordert weder nach dem Wortlaut noch nach dem Sinn der Vorschrift den Einsatz eines Arztes. Ein solcher kann, muß aber nicht zweckmäßig sein. Er kann gerade bei der Behandlung und Betreuung von Suchtkranken, zumindest zeitweise, nicht geboten, womöglich sogar schädlich sein. Eine Drogenbehandlung in einer sozialtherapeutischen Wohngemeinschaft zur Herstellung der Drogenabstinenz kann deshalb auch ohne Mitwirkung eines Arztes eine medizinische Leistung iS des § 1237 RVO sein (vgl Urteil vom 15.11.1989 - 5 RJ 1/89).

2. Maßnahmen, die nicht darauf gerichtet sind, die Erwerbsfähigkeit zu erhalten oder wiederherzustellen, können etwa solche sein, die allein auf die Gesundung des Versicherten gerichtet sind, sei es weil eine aufgetretene Krankheit nicht zugleich auch die Erwerbsfähigkeit iS des Rentenversicherungsrechtes beeinträchtigt, sei es weil sich die Erwerbsfähigkeit nicht wiederherstellen läßt. Auch Maßnahmen, die lediglich darauf abzielen, den Versicherten vor weiterem Abgleiten zu bewahren, ohne daß Aussicht besteht, die Erwerbsfähigkeit des Versicherten wiederherzustellen, sind nicht von den Rentenversicherungsträgern zu fördern (vgl Urteil vom 16.11.1989 - 5 RJ 3/89).

 

Normenkette

RVO § 1236 Abs 1 S 1, §§ 1237, 1236 Abs 1 S 5

 

Verfahrensgang

LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 26.04.1989; Aktenzeichen L 2 J 100/88)

SG Stade (Entscheidung vom 19.02.1988; Aktenzeichen S 5 J 210/86)

 

Tatbestand

Der Kläger begehrt von der Beklagten, ihn von den Kosten seiner Unterbringung in einem "Sozialtherapeutischen Übergangswohnheim" freizustellen.

Der 1952 geborene Kläger war alkoholkrank. Am 27. Mai 1986 begab er sich in das "Sozialtherapeutische Übergangswohnheim" des Vereins für Sozialmedizin in S.   , wo er sich bis zum 19. Juni 1986 und sodann erneut vom 24. Juli bis 1. August 1986 aufhielt. Unter dem Datum vom 2. Juni 1986 (eingegangen bei der Beklagten am 5. Juni 1986) beantragte der Kläger die Übernahme der Pflegekosten in diesem Heim. Diesen Antrag lehnte die Beklagte ab (Bescheid vom 13. Juni 1986; Widerspruchsbescheid vom 27. Juli 1987). Nach den medizinischen Feststellungen könne die Erwerbsfähigkeit des Klägers durch medizinische Rehabilitationsmaßnahmen nicht wesentlich gebessert oder wiederhergestellt werden. Der Zweck des Verbleibens des Klägers im Übergangswohnheim könne nur darin bestehen, ihn vor einem weiteren Abgleiten und einem vollständigen Ausscheiden aus der Gesellschaft zu bewahren. Außerdem habe der Kläger den Antrag erst gestellt, als er sich schon im Heim befunden habe. Unter diesen Umständen habe sie keine Möglichkeit gehabt, Art und Umstände der Behandlung selbst zu bestimmen.

Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 19. Februar 1988). Das Landessozialgericht (LSG) hat das Urteil des SG und die Bescheide der Beklagten geändert und die Beklagte verurteilt, den Kläger von den Kosten des Aufenthaltes im Übergangswohnheim S.    für die Zeit vom 5. Juni bis 19. Juni 1986 und 24. Juli bis 1. August 1986 freizustellen (Urteil vom 26. April 1989). Es hat im wesentlichen ausgeführt: Die Beklagte habe dem Kläger gemäß §§ 1236, 1237 Reichsversicherungsordnung (RVO) die beantragten Leistungen zu gewähren, bezüglich seines ersten Aufenthaltes im Übergangswohnheim allerdings erst beginnend mit dem (verspätet gestellten) Antrag. Der Aufenthalt des Klägers im Übergangswohnheim S.    habe darauf abgezielt, eine Krankheit zu bessern und zu heilen; er habe damit der Zielsetzung der §§ 1236, 1237 RVO entsprochen.

Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Beklagte eine Verletzung der §§ 1236, 1237 RVO. Sie habe festgestellt, daß beim Kläger Erwerbsunfähigkeit vorliege, die durch Maßnahmen der medizinischen Rehabilitation (Reha) nicht mehr beseitigt werden könne.

Die Beklagte beantragt sinngemäß,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Stade vom 13. Juni 1986 zurückzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz -SGG-).

 

Entscheidungsgründe

Auf die Revision der Beklagten ist das angefochtene Urteil aufzuheben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen. Die vom LSG festgestellten Tatsachen reichen zu einer abschließenden Entscheidung nicht aus.

Ist die Erwerbsfähigkeit eines Versicherten wegen Krankheit oder körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung erheblich gefährdet oder ist sie gemindert, so kann gemäß § 1236 Abs 1 Satz 1 RVO der Träger der Rentenversicherung Leistungen zur Reha erbringen, wenn die Erwerbsfähigkeit durch diese Leistungen wesentlich gebessert oder wiederhergestellt werden kann oder wenn bei einer bereits geminderten Erwerbsfähigkeit durch diese Leistungen der Eintritt von Berufsunfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit abgewendet werden kann. Nach § 1236 Abs 1 Satz 4 RVO richtet sich der Umfang der Leistungen zur Reha nach den §§ 1237 bis 1237b RVO.

Die in § 1236 Abs 1 Satz 1 RVO genannten allgemeinen Leistungsvoraussetzungen, daß es sich bei dem Kläger um einen Versicherten iS von § 1236 Abs 1a RVO handelt und seine Erwerbsfähigkeit wegen Krankheit oder körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung erheblich gefährdet oder gemindert ist, sind unter den Beteiligten nicht streitig. Sie liegen nach den mit zulässigen und begründeten Verfahrensrügen nicht angegriffenen und damit gemäß § 163 SGG für das Revisionsgericht bindenden Feststellungen des LSG vor.

§ 1236 Abs 1 Satz 1 RVO bestimmt nach seinem Wortlaut nur, daß der Versicherungsträger Leistungen zur Reha erbringen "kann". Dieser Wortlaut der Vorschrift bedeutet indessen nicht, daß dem Rentenversicherungsträger für die Eingangsprüfung, ob er überhaupt leisten muß, ein Ermessensspielraum eingeräumt ist (BSGE 57, 157, 161 = SozR 2200 § 1236 Nr 45; sowie die ebenfalls zur Veröffentlichung bestimmten Urteile des Senats vom 15. und 16. November 1989 - 5 RJ 1/89 und 5 RJ 3/89 -). Lediglich die Bestimmung des "Wie" der Reha nach § 1236 Abs 1 Satz 5 RVO ist als eine nach pflichtgemäßem Ermessen zu treffende Entscheidung des Versicherungsträgers nur in den Grenzen der §§ 39 Abs 1 des Sozialgesetzbuches - Allgemeiner Teil - (SGB I), 54 Abs 2 Satz 2 SGG überprüfbar, soweit nicht ein Fall der "Reduzierung des Ermessens auf Null" vorliegt. Der Rentenversicherungsträger ist vom Zweck des Gesetzes her gehalten, sein Ermessen dahin auszuüben, daß die für die Erwerbsfähigkeit des Versicherten günstigste Maßnahme durchgeführt wird, wobei alle Versicherten in gleicher Lage auch in gleicher Weise zu fördern sind.

Die Auffassung der Beklagten, ein Aufenthalt im Übergangswohnheim S.    könne von vornherein keine medizinische Leistung zur Reha iS des § 1237 RVO sein, trifft nicht zu. Der medizinische Reha-Auftrag des Rentenversicherungsträgers ist ganz pragmatisch bestimmt. Entgegen der Ansicht der Beklagten erfordert er weder nach dem Wortlaut noch nach dem Sinn der Vorschrift den Einsatz eines Arztes. Ein solcher kann, muß aber nicht zweckmäßig sein. Er kann gerade bei der Behandlung und Betreuung von Suchtkranken, zumindest zeitweise, nicht geboten, womöglich sogar schädlich sein. Eine Drogenbehandlung in einer sozialtherapeutischen Wohngemeinschaft zur Herstellung der Drogenabstinenz kann deshalb auch ohne Mitwirkung eines Arztes eine medizinische Leistung iS des § 1237 RVO sein (BSGE 54, 54 = SozR 2200 § 1237 Nr 18; Nr 21; Urteil des Senats vom 15. November 1989 aa0).

Dennoch tragen die von dem LSG bisher festgestellten Tatsachen die Verurteilung der Beklagten zur Leistung nicht.

Das Gesetz überträgt den Rentenversicherungsträgern die Aufgabe der Reha nur für die Fälle, in denen mit den Leistungen gemäß § 1236 Abs 1 Satz 4, §§ 1237 bis 1237b RVO bezweckt wird, die Erwerbsfähigkeit des Versicherten im Sinne der Erhaltung oder Wiederherstellung zu beeinflussen und die geplanten Maßnahmen auch geeignet sind, das gewünschte Ergebnis herbeizuführen. Zu Leistungen, die diesem Zweck nicht oder zumindest nicht auch dienen, dürfen die Rentenversicherungsträger ihre Mittel nicht einsetzen (§ 1236 Abs 1 Satz 1 RVO; § 30 Abs 1 Sozialgesetzbuch, Viertes Buch -SGB IV-). Maßnahmen, die nicht darauf gerichtet sind, die Erwerbsfähigkeit zu erhalten oder wiederherzustellen, können etwa solche sein, die allein auf die Gesundung des Versicherten gerichtet sind, sei es weil eine aufgetretene Krankheit nicht zugleich auch die Erwerbsfähigkeit iS des Rentenversicherungsrechtes beeinträchtigt, sei es weil sich die Erwerbsfähigkeit nicht wiederherstellen läßt. Auch Maßnahmen, die lediglich darauf abzielen, den Versicherten vor weiterem Abgleiten zu bewahren, ohne daß Aussicht besteht, die Erwerbsfähigkeit des Versicherten wiederherzustellen, sind nicht von den Rentenversicherungsträgern zu fördern (Urteil des Senats vom 16. November 1989 aa0).

Zu diesem Punkt fehlt es an ausreichenden Feststellungen des LSG. Das LSG hat lediglich ausgeführt, es bestehe kein Anhalt für die Annahme, daß die Minderung der Erwerbsfähigkeit nicht einer Beeinflussung zugänglich sei. Der Bericht des Neurologen und Psychiaters Dr. R.      vom 16. Mai 1986, auf den die Beklagte ihre gegenteilige Auffassung gestützt hat, rechtfertige nicht die Überzeugung, daß eine Behandlung der Krankheit des Klägers mit dem Ziel einer Besserung aussichtslos gewesen wäre. Das LSG hat damit - ohne eigene Sachaufklärung - nur seine Überzeugung geäußert, daß die Aussichtslosigkeit nicht bewiesen sei und darauf den Anspruch des Klägers gegründet. Das wäre nur dann richtig, wenn es Sache der Beklagten wäre, die Aussichtslosigkeit der Maßnahme zu beweisen, wenn also insoweit die Beweislast die Beklagte treffen würde. Das ist aber nicht der Fall. Die Prognose, daß durch die Maßnahmen der Reha die Erwerbsfähigkeit des Versicherten wesentlich gebessert oder wiederhergestellt werden kann, gehört zu den Voraussetzungen, unter denen allein die Reha-Maßnahme zu gewähren ist (§ 1236 Abs 1 Satz 1 RVO). Kann diese Feststellung nicht getroffen werden, so ist ein Umstand ungeklärt, der zu den Voraussetzungen des Anspruchs des Versicherten gehört. Nach dem Grundsatz, daß jeder die Beweislast für die Tatsachen trägt, die den von ihm geltend gemachten Anspruch begründen (BSGE 41, 297, 300 mwN), würde eine Ungeklärtheit dieser Prognose zu Lasten des Versicherten gehen, wenn die insoweit gebotene - indes vom LSG bis dato unterlassene - Sachaufklärung von Amts wegen (§ 103 SGG) erfolglos bliebe.

Der Senat hat in mehreren Entscheidungen die Verpflichtung des Rentenversicherungsträgers bejaht, für den Aufenthalt eines Suchtkranken in einem Übergangsheim oder für Entgiftungskosten eines Suchtkranken aufzukommen (Urteile des Senats vom 15. November und 16. November 1989 aa0 sowie Urteile vom 5. Dezember 1989 - 5 RJ 19/88 - und 27. Juni 1990 - 5 RJ 39/89 -). In jedem dieser Fälle war aber - abweichend vom vorliegenden Sachverhalt - von der Beklagten selbst schon für den Versicherten die Prognose gestellt gewesen, seine Erwerbsfähigkeit lasse sich herstellen oder bessern. Der beklagte Rentenversicherungsträger hatte auf Grund dieser positiven Erwartung dem Versicherten bereits eine Entwöhnungsbehandlung bewilligt, die zur Zeit der streitigen Maßnahme noch nicht durchgeführt worden war. Unter Berücksichtigung dieser noch bevorstehenden und bereits bewilligten Entwöhnungsbehandlung war es in diesen Fällen unter dem Aspekt der Nahtlosigkeit der insgesamt erforderlichen Behandlung geboten, daß der Aufenthalt in einem Übergangsheim und die Entgiftung ebenfalls als Reha-Maßnahmen anzusehen sind. Nur die Entgiftung und der Aufenthalt in einem Übergangsheim konnte die auf Wiederherstellung oder Besserung der Erwerbsfähigkeit des Versicherten gerichteten Maßnahmen - die von dem Rentenversicherungsträger bereits bewilligt waren - überhaupt als sinnvoll erscheinen lassen.

Aus diesen Entscheidungen kann daher nicht gefolgert werden, in jedem Falle sei eine Entgiftungsbehandlung oder der Aufenthalt in einem Übergangsheim eine Reha-Behandlung, die von dem zuständigen Rentenversicherungsträger zu fördern sei. Die Rentenversicherungsträger tragen Reha-Maßnahmen nur mit dem Ziel, die Erwerbsfähigkeit wiederherzustellen oder zu bessern, also nur unter dem Gesichtspunkt, ihre Einstandspflicht (Rentenzahlung) zu vermeiden. Da die Beklagte das Erreichen dieses Zieles im hier angefochtenen Bescheid verneint hat, obliegt es dem Berufungsgericht diese Bescheidbegründung ("Aussichtslosigkeit" der Behandlung des Klägers) zu überprüfen, wobei sich das LSG - wie bereits dargelegt - nicht mit der Feststellung begnügen darf, die "Aussichtslosigkeit" sei nicht bewiesen.

Zur Nachholung dieser Prüfung ist die Sache an das LSG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen.

Das LSG wird auch über die Kosten der Revisionsinstanz zu befinden haben.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1666972

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