Leitsatz (amtlich)

"Bisheriger Beruf" iS von RVO § 1246 Abs 2 S 2 ist die letzte vor Eintritt des Versicherungsfalles verrichtete versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit - sofern sie zugleich die qualitativ höchste gewesen ist - auch dann, wenn sie nur kurzfristig ausgeübt wurde und wegen Übertritts in eine versicherungsfreie Beschäftigung endete (Anschluß an und Fortführung von BSG 1979-11-29 4 RJ 111/78 = SozR 2200 § 1246 Nr 53).

 

Normenkette

RVO § 1246 Abs 2 S 2 Fassung: 1957-02-23

 

Verfahrensgang

LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 19.07.1979; Aktenzeichen L 10 J 586/78)

SG Oldenburg (Entscheidung vom 26.09.1978; Aktenzeichen S 8 b J 68/77)

 

Tatbestand

Der Kläger begehrt eine Versichertenrente wegen Minderung der Erwerbsfähigkeit.

Der 1926 geborene Kläger absolvierte in den Jahren 1941 bis 1943 eine Lehre als Maschinenschlosser. Dann wurde er zum Reichsarbeitsdienst einberufen; er leistete Kriegsdienst und kehrte 1949 aus Kriegsgefangenschaft zurück. Von 1950 an war er als selbständiger Handelsvertreter tätig. Im Mai 1956 trat der Kläger in den Dienst der Deutschen Bundesbahn ein, um Lokomotivführer zu werden. Er war zunächst als "Lokputzer und -heizer", dann von Juni bis Oktober 1957 als Schlosser in der Instandhaltungsabteilung beschäftigt. Zum 1. November 1957 wurde er in die Lokomotivführerlaufbahn übernommen und im April 1977 als Hauptlokomotivführer wegen Dienstunfähigkeit in den Ruhestand versetzt. Für ihn sind (Pflicht-)Beiträge zur Arbeiterrentenversicherung nur für die Zeiträume April 1942 bis November 1943 sowie Mai 1956 bis Oktober 1957 entrichtet worden.

Den im Dezember 1976 gestellten Rentenantrag lehnte die beklagte Bundesbahn-Versicherungsanstalt ab (Bescheid vom 22. Februar 1977). Klage und Berufung blieben erfolglos (Urteile des Sozialgerichts -SG- Oldenburg vom 26. September 1978 und des Landessozialgerichts -LSG- Niedersachsen vom 19. Juli 1979).

Nach den Feststellungen des LSG leidet der Kläger im wesentlichen an einer Arteriosklerose, die zu Verengerungen der Schlagadern beider Beine und zu einer gewissen Einschränkung der Leistungsfähigkeit der Herzkranzgefäße geführt hat. Er kann unter Berücksichtigung dessen noch leichte Arbeiten leisten, die vorwiegend im Sitzen und in geschlossenen Räumen zu verrichten sind.

Das LSG hat ausgeführt:

Der Kläger sei nicht berufsunfähig und damit erst recht nicht erwerbsunfähig. Die Beurteilung könne nicht vom Maschinenschlosserberuf als dem "bisherigen Beruf" (Hauptberuf) im Sinne von § 1246 Abs 2 Satz 2 Reichsversicherungsordnung (RVO) ausgehen. Für einen solchen schutzwürdigen Besitzstand fehle es an dem von der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) geforderten gleichbleibenden, langen Berufsweg (Hinweis auf BSGE 29, 63). Hier dagegen habe der Kläger nach der Gesellenprüfung nur fünf Monate, von Juni bis Oktober 1957, als Schlosser gearbeitet. Soweit in SozR Nr 20 zu § 45 Reichsknappschaftsgesetz (RKG) einem Hauer bereits drei Wochen nach bestandener Lehrprüfung der Berufsschutz zugebilligt worden sei, handele es sich um einen anderen Sachverhalt, weil sich dort die Berufsausübung unmittelbar an die Prüfung angeschlossen habe und eine dauerhafte Berufsentwicklung zu erwarten gewesen sei, während hier der Kläger 1957 nochmals eine Beschäftigung als Schlosser nicht zur Verwirklichung dieses Berufs aufgenommen habe, sondern lediglich im Zusammenhang mit dem von ihm angestrebten völlig neuen Beruf des Lokomotivführers. Die kurzfristigen Beschäftigungen als "Lokputzer und -heizer" seien nur "Durchgangsbeschäftigungen" gewesen, hätten aber dem Berufsleben nicht das Gepräge gegeben. Deshalb sei der Kläger auf das allgemeine Arbeitsfeld verweisbar. In Betracht kämen Maschinen-, Montier- und Sortierarbeiten. Derartige Arbeitsplätze gebe es für leistungsgeminderte Vollzeitarbeitskräfte, wozu der Kläger zähle, in nennenswerter Zahl.

Der Kläger rügt mit der - vom LSG zugelassenen - Revision in erster Linie die Verletzung materiellen Rechts. Er ist der Ansicht, sich mit der Aufnahme des Dienstes bei der Deutschen Bundesbahn nicht vom Schlosserberuf gelöst und einem anderen Beruf endgültig zugewandt, sondern an die bisherige Berufstätigkeit angeknüpft zu haben. Denn eine abgeschlossene Handwerkerlehre, etwa als Schlosser, sei Voraussetzung für die Laufbahn des Lokomotivführers gewesen. Daher könne er nicht auf das allgemeine Arbeitsfeld verwiesen werden.

Der Kläger beantragt sinngemäß,

die Urteile des Landessozialgerichts Niedersachsen

vom 19. Juli 1979 und des Sozialgerichts Oldenburg

vom 26. September 1978 aufzuheben und die Beklagte

unter Aufhebung des Bescheids vom 22. Februar 1977

zu verpflichten, ihm Rente wegen Erwerbsunfähigkeit

hilfsweise wegen Berufsunfähigkeit ab Dezember

1976 zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie wendet ein: Zwar habe sich der Kläger nicht freiwillig vom Schlosserberuf gelöst, als er einberufen worden sei. Die jahrelange Ausübung der Handelsvertretertätigkeit lasse aber darauf schließen, daß er sich mit dem zunächst unfreiwilligen Berufswechsel abgefunden habe. Daran ändere sich auch dadurch nichts, daß ihm für sein späteres Vorhaben, Beamter zu werden, der einmal erlernte Beruf zugute gekommen sei; beamtenrechtliche Laufbahnvorschriften seien für die Frage des Berufsschutzes unerheblich, da sie nicht auf versicherungspflichtige Beschäftigungen abstellten.

Beide Beteiligte haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz -SGG-).

 

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision des Klägers ist insoweit begründet, als das angefochtene Urteil aufgehoben und der Rechtsstreit zurückverwiesen werden muß. Die Feststellungen des LSG reichen nicht aus, um entscheiden zu können, ob der Kläger berufsunfähig ist.

Zu Recht rügt der Kläger eine Verletzung des § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO. Ihm ist entgegen der vom LSG vertretenen Ansicht der Berufsschutz eines Facharbeiters (Schlossers) zuzubilligen.

Nach § 1246 Abs 2 Satz 1 RVO ist ein Versicherter berufsunfähig, dessen Erwerbsfähigkeit aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr die Hälfte derjenigen eines vergleichbaren gesunden Versicherten beträgt. Nach Satz 2 der Vorschrift beurteilt sich dabei die Erwerbsfähigkeit des Versicherten nach allen (objektiv) seinen Kräften und Fähigkeiten entsprechenden Tätigkeiten, die ihm (subjektiv) "unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs seiner Ausbildung sowie seines bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen seiner bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können". Hiernach stehen die sogenannten Verweisungstätigkeiten in einer Wechselwirkung zum "bisherigen Beruf" (Hauptberuf). Von ihm aus bestimmt sich, welche Verweisungstätigkeiten als zumutbar in Betracht kommen. Deshalb muß er zunächst ermittelt und - da die Verweisbarkeit von seiner Qualität abhängt - nach den vorgenannten Kriterien des § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO bewertet werden.

Für die Bestimmung des Hauptberufs sind - von den Besonderheiten der vor 1957 begonnenen Selbstversicherung (§ 21 Angestelltenversicherungsgesetz -AVG- aF = § 1243 RVO aF) einmal abgesehen - nur diejenigen Beschäftigungen und Tätigkeiten zu berücksichtigen, während derer Versicherungspflicht bestand; alle anderen scheiden hierfür von vornherein aus (vgl ua BSGE 41, 129, 130 = SozR 2200 § 1246 Nr 11 mit zahlreichen weiteren Nachweisen; in letzter Zeit Urteil des Senats vom 3. Oktober 1979 = SozR aaO Nr 50 S 152; vgl auch BVerfGE 47, 168, 176 ff = SozR 2200 § 1246 Nr 28). Dies gilt auch für den Fall der freiwilligen Weiterversicherung nach den früheren, vor dem Rentenreformgesetz (RRG) vom 16. Oktober 1972 in Kraft gewesenen Bestimmungen, erst recht aber, wenn während der anderweitigen Tätigkeit überhaupt keine Beiträge entrichtet wurden (zB BSG in SozR Nr 5 zu § 1286 RVO). Die Begründung hierfür ist darin gesehen worden, daß bei der Frage nach der Berufsunfähigkeit im Rahmen des § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO der "bisherige Beruf" auch das versicherte Risiko bestimmt, zumal - wie dargelegt - der Kreis der in Frage kommenden Verweisungstätigkeiten vom bisherigen Beruf abhängt. Der Senat hat keine Veranlassung, von dieser Rechtsprechung abzuweichen.

Hiernach kann sich der Hauptberuf des Klägers lediglich unter Zugrundelegung der wenigen Beschäftigungszeiten beurteilen, in denen er pflichtversichert war, nämlich von April 1942 bis November 1943 als Maschinenschlosserlehrling, danach von Mai 1956 bis Mai 1957 als "Lokputzer und -heizer" sowie bis Ende Oktober 1957 als Schlosser.

Nachdem für den Fall des - unter Umständen mehrmaligen - Berufswechsels bereits der 5. Senat des BSG (BSGE 41, 129, 130) und, ihm folgend, der erkennende Senat (SozR 2200 § 1246 Nr 41) ausgeführt hatten, es sei grundsätzlich von der zuletzt ausgeübten pflichtversicherten Beschäftigung (Tätigkeit) als dem Hauptberuf auszugehen, ist vom 4. Senat im Urteil vom 29. November 1979 - 4 RJ 111/78 - entschieden worden, "bisheriger Beruf" im Sinne von § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO sei die letzte vor Eintritt des Versicherungsfalles ausgeübte versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit jedenfalls dann, wenn sie zugleich die qualitativ höchste gewesen ist. Es bedarf keiner näheren Erörterung, daß dies beim Kläger die Schlossertätigkeit gewesen ist, zumal vorstehender Grundsatz, dem sich der erkennende Senat anschließt, auch bei nur kurzfristiger Ausübung der sonach maßgebenden Beschäftigung (Tätigkeit) gilt. Insofern hat der 4. Senat (aaO S 6) an alte Rechtsprechung des BSG angeknüpft (vgl SozR Nr 15 und - vom LSG erwähnt - Nr 20 zu § 45 RKG; früher bereits in diese Richtung weisend: BSGE 2, 182, 185 und 19, 57, 59) und ein Urteil des 5. Senats des BSG vom 28. Juli 1977 - 5 RKn 22/76 - (= SozSich 1977, 346) zitiert, in dem die nach Ablegung der Hauerprüfung 22 Tage ausgeübte und dann aus gesundheitlichen Gründen aufgegebene Hauertätigkeit als Hauptberuf zugrunde gelegt worden war. Soweit das LSG zur Stützung seiner gegenteiligen Ansicht ausführt, der 12. Senat des BSG habe den Berufsschutz in einem Fall verneint, da der Beruf nur 6 Monate nach bestandener Gesellenprüfung ausgeübt worden sei (Hinweis auf BSGE 29, 63), übersieht es, daß dort nicht die im qualifizierten Beruf zurückgelegte nur kurze Zeitdauer der (übrigens nicht letzten) versicherungspflichtigen Beschäftigung ursächlich für die Nichtberücksichtigung als "bisheriger Beruf" war. Vielmehr bestand die Besonderheit darin (was allerdings im Leitsatz aaO S 63 nicht zum Ausdruck kommt), daß der Übergang zum weniger qualifizierten Beruf bereits vor Erfüllung der Wartezeit erfolgte (vgl auch BSGE 19, 279 = SozR Nr 22 zu § 35 RKG aF; Urteil des 5. Senats vom 12. September 1979 - 5 RJ 76/78 -, ferner derselbe Senat in SozR 2600 § 45 Nr 24). Diese Rechtsprechung stützt indessen eher die vom erkennenden Senat vertretene Ansicht, als daß sie ihr widerspricht; denn auch sie geht vom Versicherungsprinzip aus. Demgemäß ist auch in der vorgenannten Entscheidung BSGE 19, 279, 281 ausgeführt worden, daß nach Erfüllung der Wartezeit eine nur verhältnismäßig kurze Zeit ausgeübte, sozial am höchsten zu bewertende Tätigkeit eine entscheidende Rolle für den Hauptberuf spielen könne (vgl hierzu noch Urteil des erkennenden Senats vom 24. April 1980 - 1 RJ 62/79 -).

Eine andere Beurteilung ergibt sich auch nicht daraus, daß der Kläger nach der fünfmonatigen Berufsausübung als Schlosser mit der Übernahme in die Lokomotivführerlaufbahn versicherungsfrei wurde. Das bedeutet nicht etwa eine Lösung vom Beruf mit der Folge, daß die Schlossertätigkeit nicht mehr zugrunde gelegt werden könnte. Eine Änderung des bisherigen Berufs kann vielmehr nur durch Aufnahme einer anderen versicherungspflichtigen Beschäftigung oder Tätigkeit eintreten; die tatsächliche Aufgabe der versicherungspflichtigen Beschäftigung, die in der Aufnahme der versicherungsfreien Tätigkeit liegt, schreibt den bis dahin ausgeübten versicherten Beruf als "bisherigen Beruf" nach § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO fest, da ihm kein anderer versicherter Beruf folgt (BSGE 41, 129, 130; 27, 263, 264). Eine Lösung vom bisherigen Beruf "durch Zeitablauf" kommt ebenfalls nicht in Betracht (zB SozR Nr 112 zu § 1246 RVO, Aa 115 R).

Schließlich kann es auch nicht darauf ankommen, daß der Kläger, wie das LSG und die Beklagte meinen, lediglich deshalb zur Ausübung des Schlosserberufs gekommen sei, weil sich dies im Hinblick auf die angestrebte Lokomotivführerlaufbahn ergeben habe. Die Motive für die Ausübung der versicherungspflichtigen Beschäftigung sind in diesem Zusammenhang ohne Bedeutung.

Ist mithin vom Schlosserberuf als dem Hauptberuf des Klägers auszugehen, so entfällt die Grundlage für die vom LSG vorgenommene Verweisung auf das allgemeine Arbeitsfeld. Denn ein Versicherter, dessen Hauptberuf dem Leitbild des Facharbeiters zuzuordnen ist (vgl § 25 des Berufsbildungsgesetzes -BBiG- vom 14. August 1969, BGBl I 1112), kann grundsätzlich nur auf Tätigkeiten eines "angelernten" Arbeiters verwiesen werden, wobei darunter nicht nur die - verhältnismäßig seltenen - Ausbildungsberufe zu verstehen sind, die eine Regelausbildungszeit von weniger als zwei Jahren (mindestens aber ein Jahr) voraussetzen, sondern auch Tätigkeiten, die eine echte betriebliche Ausbildung erfordern, sofern diese eindeutig das Stadium der bloßen Einweisung und Einarbeitung überschreitet (zB BSGE 43, 243, 245 = SozR 2200 § 1246 Nr 16). Darüber hinaus gehören zum Verweisungsbereich bisheriger Facharbeiter ausnahmsweise unter bestimmten Voraussetzungen auch ungelernte Tätigkeiten (zB BSGE 44, 288 = SozR 2200 § 1246 Nr 23; SozR aaO Nrn 29, 41, 44 und 45).

Die hiernach noch erforderlichen Ermittlungen und Feststellungen liegen auf tatsächlichem Gebiet; sie sind vom LSG nachzuholen. Zu diesem Zweck ist der Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Unabhängig hiervon wird das LSG die vom Kläger behauptete zwischenzeitliche Verschlechterung seines Gesundheitszustandes in die Ermittlungen einzubeziehen haben.

Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1656559

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