Leitsatz (amtlich)

Auch wenn ein Versicherter aus gesundheitlichen Gründen von seinem erlernten qualifizierten Beruf zu einem minder qualifizierten Beruf übergehen muß, ist der erlernte Beruf nicht sein bisheriger Beruf (RVO § 1246 Abs 2), wenn der Übergang erfolgt, bevor die Wartezeit erfüllt ist (Übernahme von BSG 1963-08-22 5 RKn 48/60 = BSGE 19, 279 - für die Arbeiterrentenversicherung).

 

Normenkette

RVO § 1246 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23, § 1286 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1957-02-23; ArVNG Art. 2 § 24 Fassung: 1957-02-23

 

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 15. Dezember 1966 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

I

Es ist zu entscheiden, ob die Beklagte die Rente des Klägers diesem zu Recht entzogen hat, weil er nicht mehr berufsunfähig sei. Dabei geht der Rechtsstreit darum, ob der erlernte Beruf, in dem der Kläger die Wartezeit nicht erfüllt hat, bei der Beurteilung der Berufsunfähigkeit zu berücksichtigen ist.

Der 1931 geborene Kläger hat vom Mai 1945 bis September 1947 den Bäckerberuf erlernt und die Gesellenprüfung abgelegt. Darauf war er bis März 1948 als Bäckergeselle beschäftigt. Er mußte dann aber die Tätigkeit als Bäcker wegen epileptischer Anfälle, an denen er seit August 1947 litt, aufgeben und ist seit April 1948 mit Unterbrechungen mit verschiedenen ungelernten Arbeiten beschäftigt.

Die Beklagte gewährte dem Kläger vom 1. März 1954 an Invalidenrente (Bescheid vom 1. September 1954). Sie stellte diese Rente vom 1. Januar 1957 an nach neuem Recht um. Von April bis Juni 1964 wurde der Kläger wegen der Epilepsie stationär behandelt. Daraufhin hatte er bis zum Frühjahr 1966 keine Anfälle mehr. Die Beklagte entzog mit Bescheid vom 12. Mai 1965 die Rente zu Ende Juni 1965.

Das Sozialgericht (SG) hat den Rentenentziehungsbescheid aufgehoben und die Beklagte zur Weitergewährung der Rente verurteilt (Urteil vom 24. Mai 1966).

Das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen hat das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen; die Revision hat das LSG zugelassen (Urteil vom 15. Dezember 1966). Es hat angenommen, bei Beurteilung, ob der Kläger berufsunfähig i. S. des § 1246 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) sei, könne nicht von dem Beruf eines Facharbeiters ausgegangen werden, weil der Kläger bei der Aufgabe seiner Tätigkeit als Bäcker nur eine Versicherungszeit von 35 Monaten zurückgelegt und die Wartezeit nicht erfüllt gehabt habe (BSG 19, 279; AN 1942, 203; SozR Nr. 11 zu § 46 des Reichsknappschaftsgesetzes - RKG -).

Der Kläger hat Revision eingelegt und beantragt, das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG zurückzuweisen.

Der Kläger rügt Verletzung der §§ 1246 Abs. 2, 1286 Abs. 1 Satz 1 RVO. Er meint, § 1246 Abs. 2 RVO biete keinen Anhalt dafür, den Kreis der ihm zuzumutenden Tätigkeiten einzuschränken, wenn die versicherungstechnischen Voraussetzungen einer Rente zur Zeit der Aufgabe des Berufs noch nicht erfüllt gewesen seien. Es sei zwar richtig, daß der Versicherte ohne die neue, anders geartete Erwerbstätigkeit die Voraussetzungen des Leistungsanspruchs überhaupt nicht erfüllt hätte. Es richte sich jedoch allein nach Art und Umfang der Ausbildung sowie des bisherigen Berufs des Versicherten, von welcher Berufstätigkeit bei § 1246 Abs. 2 RVO für die Frage der zumutbaren Verweisbarkeit auszugehen sei. An seiner beruflichen Qualifikation, der nach § 1246 Abs. 2 RVO Rechnung zu tragen sei, habe sich durch die erzwungene Aufgabe der früheren Berufstätigkeit vor Erfüllung der Wartezeit nichts geändert.

Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen. Sie führt aus, unter dem Gesichtspunkt des Rentenrechts als Leistungsrecht sei das versicherte Risiko nur bei einem potentiellen Leistungsanspruch von rechtlicher Bedeutung. Ein Versicherter könnte sonst, falls der Versicherungsfall der Berufsunfähigkeit vor Erfüllung der Wartezeit eintrete, künftig niemals eine Berufsunfähigkeitsrente erlangen, weil nach § 1255 Abs. 8 RVO für die Berufsunfähigkeitsrente nur die vor Eintritt der Berufsunfähigkeit entrichteten Beiträge zu berücksichtigen seien.

Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 2 SGG).

II

Die Revision ist nicht begründet. Der Entscheidung des LSG ist beizupflichten.

Nach § 1286 Abs. 1 Satz 1 RVO, Art. 2 § 24 des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG) kann eine umgestellte Versichertenrente nur entzogen werden, wenn der Empfänger nicht mehr berufsunfähig ist. Für die Beurteilung der Berufsunfähigkeit ist wesentlich, welche Tätigkeiten dem Versicherten unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs seiner Ausbildung sowie seines bisherigen Berufes und der besonderen Anforderungen seiner bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können (§ 1246 Abs. 2 Satz 2 RVO). Es kommt also darauf an, ob als bisheriger Beruf des Klägers seine Tätigkeit als gelernter Bäcker oder seine ungelernten Tätigkeiten anzusehen sind.

Das Bundessozialgericht (BSG) hat, in Anlehnung an die Rechtsprechung des früheren Reichsversicherungsamtes (RVA) zur Berufsunfähigkeit nach § 35 RKG aF (AN 1942, 203), entschieden, daß eine frühere Erwerbstätigkeit für die Beurteilung der Berufsunfähigkeit dann nicht ausschlaggebend ist, wenn der Versicherte die Wartezeit für den Anspruch in der knappschaftlichen Rentenversicherung noch nicht erfüllt hatte, als er die betreffende, jener Versicherung unterliegende Tätigkeit - sei es freiwillig oder sei es aus zwingenden Gründen - aufgab (BSG 19, 279). Das RVA ist bereits in der Grundsätzlichen Entscheidung (GE) 2866 vom 17. Dezember 1924 zur Angestelltenversicherung bei der Prüfung der Berufsunfähigkeit eines Buchhalters, der diese Tätigkeit vor Erfüllung der Wartezeit aus gesundheitlichen Gründen aufgeben mußte und eine Tätigkeit als Adressenschreiber aufgenommen hatte, vom Beruf des Adressenschreibers ausgegangen (AN 1925, 228; vgl. dazu Koch/Hartmann, AVG, 2. Aufl., S. 292 Anm. 4 c, 2. Abs., zu § 27 AVG aF; Kreil, die Arbeits- und Erwerbsunfähigkeit in der deutschen Sozialversicherung, 1935, S. 180 ff, insbesondere Seiten 183, 185, 186 sowie Seiten 235 bis 237).

Die in BSG 19, 279 zur knappschaftlichen Rentenversicherung vertretene Rechtsauffassung muß auch für die Arbeiterrentenversicherung gelten. Der Nichterfüllung der Wartezeit in der knappschaftlichen Rentenversicherung steht die Nichterfüllung der Wartezeit in der Arbeiterrentenversicherung gleich.

Wenn ein Versicherter seinen erlernten qualifizierten Beruf aus gesundheitlichen Gründen endgültig aufgeben muß und aus denselben Gründen auch nicht eine andere, zumutbare Tätigkeit ausüben kann, bevor er die Wartezeit erfüllt hat, so müßte er, wenn jener Beruf für die Beurteilung seiner Berufsunfähigkeit ausschlaggebend wäre, für das ganze weitere Versicherungsleben als berufsunfähig angesehen werden. Hieraus ergäbe sich für ihn die folgende Rechtslage: Eine Rente wegen Berufsunfähigkeit könnte er, obwohl berufsunfähig, naturgemäß nicht erhalten, da es an der weiteren Voraussetzung für den Anspruch auf eine solche Rente, nämlich an der Erfüllung der Wartezeit (§ 1246 Abs. 1 und 4 RVO), fehlte. Darüber hinaus könnte er aber, auch wenn er weiter - in einem minder qualifizierten Beruf, den er mit der ihm verbliebenen gesundheitlichen Leistungsfähigkeit noch ausfüllen kann - versicherungspflichtig tätig wäre, einen Anspruch auf Rente wegen Berufsunfähigkeit niemals erwerben. Dies ergibt sich aus dem - den §§ 1246 Abs. 3, 1247 Abs. 3, 1255 Abs. 8 und 1258 Abs. 4 RVO zu entnehmenden (BSG 22,236, 239) - versicherungsrechtlichen Risikogedanken, wonach die Rentenversicherung für einen bestimmten Versicherungsfall nur bis zu dessen Eintritt, hier also nur bis zum Eintritt des Versicherungsfalls der Berufsunfähigkeit, durchgeführt werden kann. Weitere Beiträge zur Rentenversicherung könnten vielmehr für einen solchen Versicherten nur für die Versicherungsfälle der Erwerbsunfähigkeit, des Alters und des Todes entrichtet werden. Eine solche versicherungsrechtliche Lage würde eine erhebliche Schlechterstellung der Versicherten bedeuten, die vor Erfüllung der Wartezeit ihren qualifizierten Beruf aus gesundheitlichen Gründen für immer aufgeben müssen, während nach Aufgabe eines nicht qualifizierten Berufs und Aufnahme eines qualifizierten Berufs der erste Beruf ohnehin nicht mehr als der bisherige Beruf i. S. des § 1246 Abs. 2 RVO angesehen wird, ein Anspruch auf Rente wegen Berufsunfähigkeit aber im letzten Beruf unter Anrechnung aller Versicherungszeiten auf die Wartezeit ohne weiteres erworben werden kann (vgl. SozR Nr. 33 zu RVO § 1246). Eine derartige rechtliche Schlechterstellung der Versicherten nach einem durch gesundheitliche Gründe erzwungenen Übergang von einem qualifizierten zu einem nicht qualifizierten Beruf vor Erfüllung der Wartezeit liegt aber nicht im Sinne des Gesetzes, das mit der Abstufung der Versicherungsfälle - Berufsunfähigkeit, Erwerbsunfähigkeit, Alter - eine Besserstellung der Versicherten bezweckte. Einem solchen Versicherten muß vielmehr die Möglichkeit offenstehen, in dem neuen, minder qualifizierten Beruf, den er mit der ihm verbliebenen gesundheitlichen Leistungsfähigkeit noch ausfüllen kann, mit den im früheren und im neuen Beruf entrichteten Beiträgen die Wartezeit zu erfüllen und einen Anspruch auf Rente wegen Berufsunfähigkeit zu erwerben, wenn er in dem neuen Beruf berufsunfähig wird. Das setzt aber voraus, daß er nicht schon berufsunfähig ist. Aus diesen Gründen tritt bei Aufgabe einer qualifizierten Berufstätigkeit aus gesundheitlichen Gründen Berufsunfähigkeit i. S. des Gesetzes nicht ein, wenn die Wartezeit nicht erfüllt ist.

Nach alledem ist beim Kläger bei der Prüfung der Berufsunfähigkeit nur vom Beruf eines ungelernten Arbeiters auszugehen.

Die Frage, ob der Versicherte noch berufsunfähig ist, ist nach § 1286 Abs. 1 Satz 1 RVO auf den Zeitpunkt der Rentenentziehung abgestellt zu beurteilen. Der Kläger hat zwar den Berufswechsel noch unter der Herrschaft des alten Rechts (§ 1254 RVO aF) vollzogen, als er seit April 1948 nicht mehr als Bäcker arbeitete, und er ist während der Geltung der RVO aF im Februar 1954 invalide geworden, wie sich aus den nicht angegriffenen früheren Bescheiden ergibt. Diese Sachlage berührt aber nicht die Beurteilung der Frage, ob der Kläger bei der Rentenentziehung Ende Juni 1965 noch berufsunfähig nach § 1246 Abs. 2 RVO im oben dargelegten Sinne war. Gegen die Verneinung dieser Frage durch das LSG bestehen keine rechtlichen Bedenken; die Revision hat sich nicht gegen die Beurteilung der Leistungsfähigkeit des Klägers im allgemeinen Arbeitsleben gewandt.

Die Entscheidung des LSG entspricht somit dem Gesetz.

Die Revision ist daher nicht begründet und zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

BSGE, 63

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