Entscheidungsstichwort (Thema)

Bisheriger Beruf

 

Leitsatz (redaktionell)

Eine vor Erfüllung der Wartezeit aufgegebene Beschäftigung ist bei der Prüfung der BU nicht zu berücksichtigen, selbst wenn die Berufsaufgabe (hier Lehrberuf des Bäckers, Meisterprüfung war abgelegt) aus gesundheitlichen Gründen erfolgte. Der Versicherungsschutz im Lehrberuf durch Erfüllung der Wartezeit kann auch nicht mehr erlangt werden, wenn im erlernten Beruf auf Kosten der Gesundheit gearbeitet wird, weil die Verweisung auf eine gesundheitlich nicht zumutbare Beschäftigung nicht statthaft ist.

 

Normenkette

RVO § 1246 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23

 

Verfahrensgang

LSG Berlin (Entscheidung vom 12.08.1976; Aktenzeichen L 8 J 124/73)

SG Berlin (Entscheidung vom 18.10.1973; Aktenzeichen S 33 J 2472/70)

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten werden das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 12. August 1976 und das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 18. Oktober 1973 aufgehoben.

Die Klage wird abgewiesen.

Die Beteiligten haben einander außergerichtliche Kosten nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob dem Kläger die Versichertenrente wegen Berufsunfähigkeit nach § 1246 der Reichsversicherungsordnung (RVO) zusteht.

Der Kläger hat die erlernte Tätigkeit als Bäcker bis zu einem Arbeitsunfall im April 1938 ausgeübt. Zu dieser Zeit hatte er noch keine 60 Beitragsmonate zurückgelegt. Nach einer Zeit der Arbeitsunfähigkeit arbeitete er im Herbst 1938 zwei Monate lang als Revolverdreher und von April 1939 bis November 1939 als Kraftfahrer. Während dieser Zeit - am 30. Mai 1939 - legte er die Prüfung als Bäckermeister ab. Von Dezember 1940 bis April 1945 leistete er Kriegsdienst; er wurde im Juni 1947 aus der Kriegsgefangenschaft entlassen. In der Zeit von November 1947 bis 1958 war er mit Unterbrechungen als Bäcker, Kellner, Neuheitenverkäufer, Bauhelfer, Kraftfahrer und Bohrer tätig. Seit 1958 ist er bei der Firma ... beschäftigt; zunächst war er Grater, danach Bote und Vervielfältiger; seit 1969 ist er in der Terminkartei tätig, und zwar seit Mai 1970 im Angestelltenverhältnis. Seine Tätigkeit wird nach der Gruppe 2 des Gehaltstarifvertrages für die Angestellten in der Berliner Metallindustrie vergütet.

Die Beklagte lehnte den im Februar 1970 gestellten Rentenantrag des Klägers mit Bescheid vom 13. Juli 1970 ab, weil der Kläger weder erwerbs- noch berufsunfähig sei.

Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte am 18. Oktober 1973 verurteilt, dem Kläger unter Abänderung ihres Bescheides - ausgehend von einem am 4. April 1938 eingetretenen Versicherungsfall - Rente wegen Berufsunfähigkeit für die Zeit vom 1. Februar 1970 an zu gewähren. Das Landessozialgericht (LSG) hat mit Urteil vom 12. August 1976 die Berufung der Beklagten zurückgewiesen und auf die Anschlußberufung des Klägers das Urteil des SG geändert, den Bescheid der Beklagten aufgehoben und die Beklagte verurteilt, dem Kläger unter Zugrundelegung des Eintritts des Versicherungsfalles der Berufsunfähigkeit im Januar 1970 Rente wegen Berufsunfähigkeit seit dem 1. Februar 1970 zu gewähren. Das LSG hat zur Begründung im wesentlichen ausgeführt, der Kläger sei im Jahre 1938 nicht invalide im Sinne des § 1254 RVO aF gewesen. Zwar spreche vieles dafür, daß der Kläger schon damals nicht mehr einer Berufstätigkeit als Bäcker habe nachgehen können. Es könne aber nicht unberücksichtigt bleiben, daß der Kläger selbst erst einen späteren Zeitpunkt der Lösung vom Bäckerberuf angegeben habe, daß er die Meisterprüfung im Jahre 1939 abgelegt habe, daß er von 1940 bis 1945 aktiven Kriegsdienst geleistet habe und daß er nach seiner Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft immerhin auch Tätigkeiten als Bäcker und auch solche ausgeübt habe, die nicht nur leichter Art gewesen seien. Es sei jedoch nicht zweifelhaft, daß der Kläger zumindest seit Anfang 1970 berufsunfähig sei. Auszugehen sei von dem Beruf eines Bäckers. Diesen Beruf habe der Kläger erlernt, in ihm die Meisterprüfung abgelegt und ihn auch in den Jahren 1947 und 1953 bis 1956 sporadisch mit Unterbrechungen ausgeübt. Diesen Beruf habe er aus Gesundheitsgründen aufgeben müssen. Nach dem Gutachten des Dr. ..., das insoweit von Dr. ... bestätigt worden sei, habe schon nach dem Unfall im April 1938 Veranlassung bestanden, den erlernten Beruf eines Bäckers aufzugeben, weil eine Verschlechterung des Gesundheitszustandes zu befürchten oder eine unzumutbare Anspannung der verbliebenen Kräfte damit verbunden gewesen sei. Auf die Dauer sei der Kläger dem Beruf eines Bäckers wegen der Unfallfolgen nicht gewachsen gewesen. Die Leistungsfähigkeit des Klägers sei durch die Unfallfolgen, dann im Laufe der Zeit durch die Folgen eines Tablettenmißbrauchs, durch anfallartige Erscheinungen und Alterungsvorgänge schließlich so gemindert worden, daß der Versicherungsfall eingetreten sei, ohne daß für seinen Eintritt ein bestimmtes Datum nachzuweisen wäre. Spätestens sei er aber im Januar 1970 eingetreten. Die vom Kläger bei der Firma ... ausgeübte Tätigkeit sei ihm nicht zuzumuten. Es handele sich um körperlich leichte und geistig einfache Arbeiten untergeordneter Art, die keine Fachkenntnisse erforderten und nicht mit Verantwortung verbunden seien. Der Kläger stehe in keinem besonderen Vertrauensverhältnis; seine Arbeit habe ihn nicht aus dem Kreis der übrigen Mitarbeiter heraus. Sein Gehalt betrage monatlich 1.371,- DM; demgegenüber würde er als Betriebsassistent (Meister) monatlich 1.808,- DM verdienen. Die Tätigkeit als Terminsachbearbeiter sei also auch wegen der wesentlich geringeren Bezahlung nicht zumutbar.

Die Beklagte hat dieses Urteil mit der - vom LSG zugelassenen - Revision angefochten. Sie ist der Ansicht, das LSG sei zu Unrecht von der Tätigkeit eines Bäckers ausgegangen. Selbst wenn man unterstelle, daß der Kläger mit diesem Beruf die Wartezeit erfüllt habe, so könne sie doch nicht Ausgangspunkt für die Prüfung der Berufsunfähigkeit sein, weil der Kläger sich von ihr gelöst habe. Der Kläger habe seinen Lehrberuf spätestens im Jahre 1956 aufgegeben, ohne daß dafür unmittelbare gesundheitliche Gründe ursächlich gewesen seien. Er könne daher auf sämtliche Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsfeldes verwiesen werden. Im übrigen sei dem Kläger aber auch seine jetzige Tätigkeit als Terminsachbearbeiter selbst dann zumutbar, wenn man von der Tätigkeit eines gelernten Bäckers ausgehe. Es sei ohne Bedeutung, daß sie keine besonderen Fachkenntnisse erfordere, denn zu berücksichtigen seien auch andere Kriterien wie die Sicherheit des Arbeitsplatzes, Sauberkeit der Arbeit, Fehlen körperlicher Belastung und negativer Umwelteinflüsse. Die geringere Entlohnung sei für die Zumutbarkeit ohne Bedeutung.

Die Beklagte beantragt,

das angefochtene Urteil sowie das Urteil des Sozialgerichts Berlin aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision der Beklagten zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil im Ergebnis und in der Begründung für richtig und ist der Ansicht, die Revision der Beklagten sei unbegründet.

 

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision der Beklagten hat auch Erfolg. Das LSG hat die Beklagte zu Unrecht verurteilt, dem Kläger die Rente wegen Berufsunfähigkeit zu gewähren.

Entgegen der Ansicht des LSG ist nach § 1246 Abs 2 RVO bei der Prüfung der Berufsunfähigkeit nicht von dem Beruf eines Bäckermeisters auszugehen. Der Kläger hat zwar die Prüfung als Bäckermeister abgelegt, jedoch nach den Feststellungen des LSG zu keiner Zeit als Meister gearbeitet. Nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats sind Vorbildung und berufliche Kenntnisse eines Versicherten - soweit es sich um die Bestimmung seines bisherigen Berufs handelt - nur insoweit von Belang, als sie in einer entsprechenden, der Versicherung unterliegenden Erwerbsarbeit von gewisser Dauer- und Regelhaftigkeit ihren Niederschlag gefunden haben (vgl SozR Nr 29 zu § 1246 RVO).

"Bisheriger Beruf" des Klägers im Sinne des § 1246 Abs 2 RVO ist aber auch nicht die Tätigkeit eines gelernten Bäckers. Der Kläger hat diese Tätigkeit zwar erlernt und nicht nur vorübergehend ausgeübt. Gleichwohl kann sie nicht Ausgangspunkt für die Prüfung der Berufsunfähigkeit sein. Der Kläger hat die Berufstätigkeit eines Bäckers im April 1939 aufgegeben, bevor er die Wartezeit von 60 Beitragsmonaten erfüllt hatte. Die Wartezeit galt auch nicht als erfüllt. Es mag dahingestellt bleiben, ob § 1263 a RVO aF, dem § 1252 RVO nF im wesentlichen entspricht, auf solche Arbeitsunfälle anzuwenden ist, die sich vor dem Inkrafttreten im Jahre 1942 ereignet haben. Der Kläger war jedenfalls infolge des Arbeitsunfalls noch nicht invalide im Sinne des § 1254 RVO aF, denn nach den nicht angegriffenen Feststellungen des LSG ist der Kläger später trotz der Unfallfolgen noch in der Lage gewesen, andere versicherungspflichtige Tätigkeiten zu verrichten, auf die er nach § 1254 RVO aF verwiesen werden konnte. Das hat er im übrigen auch durch die Tat bewiesen. War bei Aufgabe der Bäckertätigkeit im Jahre 1938 die Wartezeit aber noch nicht erfüllt, so kann diese Tätigkeit auch dann nicht als der "bisherige Beruf" des Klägers angesehen werden, wenn er sie aus gesundheitlichen Gründen aufgeben mußte (vgl BSG in SozR Nr 22 zu § 35 Reichsknappschaftsgesetz - RKG - aF; Nr 73 zu § 1246 RVO). Allerdings hat der Kläger nach Erfüllung der Wartezeit noch als gelernter Bäcker gearbeitet. Das ist aber für die Ermittlung des "bisherigen Berufs" im Sinne des § 1246 RVO rechtlich deshalb ohne Bedeutung, weil der Kläger nach den Feststellungen des LSG gesundheitlich zu dieser Zeit schon nicht mehr in der Lage war, als Bäcker zu arbeiten. Das LSG hat aufgrund der eingeholten medizinischen Gutachten des Dr. ... und des Dr. ... festgestellt, für den Kläger habe aufgrund seines Unfalls im April 1938 Veranlassung bestanden, den Beruf eines Bäckers aufzugeben, weil mit der Verrichtung eine Verschlechterung des Gesundheitszustandes zu befürchten oder eine unzumutbare Anspannung der verbliebenen Kräfte verbunden wäre; der Kläger sei wegen der erlittenen Hirnquetschung auf die Dauer dem Beruf eines Bäckers nicht gewachsen gewesen. Zwar kann nicht jede - auch noch so ferne - Gefahr der Verschlechterung des Gesundheitszustandes die Annahme rechtfertigen, der Versicherte sei zur Verrichtung einer bestimmten Tätigkeit nicht in der Lage. Vielmehr muß mit der Ausübung der Tätigkeit eine unmittelbare und konkrete Gefahr der Verschlechterung des Gesundheitszustandes in dem Sinne verbunden sein, daß die Tätigkeit "auf Kosten der Gesundheit" verrichtet wird (vgl hierzu BSG in SozR Nr 20 zu § 45 RKG). So aber sind die Feststellungen des LSG im vorliegenden Fall zu verstehen. In dem nervenfachärztlichen Gutachten des Dr. ... vom 9. Februar 1973, das das LSG neben dem Gutachten des Dr. ... zur Grundlage seines Urteils gemacht hat, ist ausgeführt worden, daß der Kläger auf Kosten der Gesundheit gearbeitet hat, wenn er nach dem Kriege immer wieder vorübergehend in seinem Beruf als Bäcker gearbeitet habe. Diese vom LSG übernommene Feststellung wird noch dadurch unterstrichen, daß der Kläger seit dem Unfall im April 1938 stets nur jeweils kurze Zeit als Bäcker gearbeitet und im übrigen den Beruf häufig gewechselt hat. Eine Tätigkeit aber, die der Versicherte nach Erfüllung der Wartezeit nur unter der unmittelbaren Gefahr der Verschlechterung seines Gesundheitszustandes auf Kosten der Gesundheit verrichtet hat, kann nicht als "bisheriger Beruf" Ausgangspunkt für die Prüfung der Berufsunfähigkeit sein (vgl. hierzu BSG in SozR Nr 24 zu § 35 RKG aF).

Scheiden aber die Tätigkeiten eines Bäckermeisters und eines gelernten Bäckers als bisheriger Beruf aus, so ist es gleichgültig, von welcher der sonstigen Tätigkeiten des Klägers man bei der Prüfung der Berufsunfähigkeit ausgeht. Bei keiner der bis zur Antragstellung verrichteten Tätigkeiten handelt es sich um einen anerkannten Ausbildungsberuf oder um eine tariflich gleichbewertete Tätigkeit. Dem Kläger sind daher alle seit der Antragstellung bei der Firma ... verrichteten Tätigkeiten zumutbar. Für die seit Mai 1970 im Angestelltenverhältnis verrichtete Tätigkeit eines Terminsachbearbeiters gilt das - entgegen der Ansicht des LSG - selbst dann, wenn man von der Tätigkeit eines Facharbeiters ausgeht. Nach dem Anhang zum Gehaltstarifvertrag für die Angestellten der Berliner Metallindustrie sind für die Tätigkeiten der Gehaltsgruppe 2, zu der die Tätigkeit des Klägers gehört, Berufskenntnisse erforderlich, wie sie in der Regel durch eine abgeschlossene einschlägige Ausbildung oder durch eine angemessene einschlägige Berufstätigkeit erworben werden. Die in dieser Gehaltsgruppe enthaltenen Tätigkeiten sind also - wie auch die aufgeführten Beispiele zeigen - mindestens den sonstigen Ausbildungsberufen (angelernte Tätigkeiten), die eine abgeschlossene Ausbildung von weniger als zwei Jahren oder eine entsprechende betriebliche Anlernung erfordern, zuzuordnen. Diese Tätigkeiten sind aber auch einem Facharbeiter zumutbar iS des § 1246 Abs 2 RVO (vgl Urt. des erkennenden Senats vom 30. März 1977 - 5 RJ 98/76 -).

Der Senat hat auf die danach begründete Revision der Beklagten die Urteile der Vorinstanzen aufgehoben und die Klage abgewiesen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1651495

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