Leitsatz (amtlich)

1. Sozialleistungen sind nach Rücknahme eines entgegenstehenden nicht begünstigenden Verwaltungsakts für die Vergangenheit nach § 44 Abs 1 S 1 SGB 10 auch dann nur gemäß Abs 4 S 1 aaO für einen Zeitraum bis längstens 4 Jahre vor der Rücknahme/Stellung des Zugunstenantrags zu erbringen, wenn den Sozialleistungsträger an der Rechtswidrigkeit des zurückgenommenen Bescheids ein Verschulden getroffen hat.

2. Zum "Recht", das nach § 44 Abs 1 S 1 SGB 10 unrichtig angewendet werden kann, gehört auch das Richterrecht (hier: zum Institut des Herstellungsanspruchs).

 

Normenkette

SGB 10 § 44 Abs 1 S 1 Fassung: 1980-08-18; SGB 10 § 44 Abs 4 S 1 Fassung: 1980-08-18

 

Verfahrensgang

LSG Baden-Württemberg (Urteil vom 12.12.1983; Aktenzeichen L 11 V 1021/83)

SG Karlsruhe (Entscheidung vom 16.05.1983; Aktenzeichen S 5 V 3205/82)

 

Tatbestand

Unter den Beteiligten ist streitig, ab wann der Klägerin eine Witwenversorgung wieder zu bewilligen ist.

Die 1921 geborene Klägerin war in erster Ehe mit dem kriegsverschollenen und 1952 für tot erklärten kaufmännischen Angestellten K. G. verheiratet gewesen. Ihre 1954 geschlossene zweite Ehe mit E. P. C. endet mit dessen Tod im Jahre 1958. Von der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) bezieht sie seither aus dessen Versicherungsverhältnis Witwenrente (AnV-Witwenrente).

Den Antrag der Klägerin auf Wiederbewilligung einer - früher schon zeitweilig gewährten - Witwenrente nach dem ersten Ehemann lehnte das Versorgungsamt (VA) mit einem Bescheid vom 21. Juni 1971 zunächst ab, weil nach Anrechnung der AnV-Witwenrente aus der Versicherung des zweiten Ehemannes nichts zu zahlen bleibe. Hiergegen hat die Klägerin keinen Rechtsbehelf eingelegt. Mit einem weiteren Bescheid vom 15. September 1972 bewilligte das VA der Klägerin wieder Witwenversorgung nach Kurt G. (Grund-, Ausgleichsrente und Schadensausgleich) von damals monatlich 278,-- DM, indem es die AnV-Witwenrente von damals monatlich 383,-- DM voll anrechnete. Auch hiergegen legte die Klägerin keinen Rechtsbehelf ein. Im Jahre 1981 betrugen die Versorgungsbezüge nach mehreren Neufeststellungen monatlich 572,-- DM (vgl zuletzt den Bescheid des VA vom 12. Januar 1981).

Am 28. September 1981 sprach die Klägerin beim VA vor und gab an, daß sie gegenüber der BfA einen Anspruch auf Witwenrente auch aus dem Versicherungsverhältnis ihres ersten Ehemannes Kurt G. habe, der freilich geringer sei als die Witwenrente nach dem zweiten Ehemann E. P. C. Sie beantragte, ihre Gesamtversorgung ab 1. November 1981 neu zu prüfen. Daraufhin stellte das VA die Hinterbliebenenbezüge der Klägerin mit dem streitigen Bescheid vom 21. September 1982 unter (teilweiser) Rücknahme der Bescheide vom 21. Juni 1971 und 15. September 1972 sowie der Folgebescheide neu auf einen insgesamt höheren Betrag fest. Im einzelnen bewilligte das VA der Klägerin ab 1. Januar 1977 Versorgungsbezüge nunmehr in der Weise, daß hierauf die Witwenrente nach ihrem zweiten Ehemann nicht mehr in voller, sondern "nur in der Höhe angerechnet" wurde, "als sie nicht zur Kürzung der Witwenrente nach dem ersten Ehemann geführt hat". Weiter berücksichtigte das VA bei den einkommensabhängigen Leistungen nur noch die AnV-Witwenrente nach dem ersten Ehemann. Hieraus ergab sich insgesamt eine rückwirkende Erhöhung der Witwenbezüge und eine Nachzahlung von 8.400,-- DM. Zur Frage des Beginns der höheren Bezüge heißt es im Bescheid, Sozialleistungen würden nach § 44 Abs 4 des Zehnten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB 10) längstens bis zu 4 Jahren vor der Rücknahme erbracht. Die Frist sei dabei vom Beginn des Jahres an zu rechnen, in dem der Antrag - hier: Antrag der Klägerin auf Zugunstenentscheidung vom 28. September 1981 - gestellt worden sei. Mit dem auf Leistungserhöhung bereits ab 1. April 1971 zielenden Widerspruch gegen diesen Bescheid drang die Klägerin nicht durch (Widerspruchsbescheid des Landesversorgungsamtes -LVersorgA-   vom 29. November 1982).

In der Vorinstanz hatte die Klägerin dagegen Erfolg. Mit dem angefochtenen Urteil vom 12. Dezember 1983 hat das Landessozialgericht (LSG) die klageabweisende Entscheidung des Sozialgerichts (SG) vom 16. Mai 1983 auf ihre zugelassene Berufung aufgehoben und das beklagte Land unter Abänderung der angegriffenen Bescheide verurteilt, ihr auch für die Zeit vom 1. April 1971 bis zum 31. Dezember 1976 wiederaufgelebte Witwenrente unter Beachtung des in § 44 Abs 5 Satz 1 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) enthaltenen Verbots der Doppelanrechnung zu gewähren, ferner, ihr ab 1. Januar 1978 die gesetzlichen Zinsen zu zahlen. In der Begründung des Urteils ist ausgeführt, das VA habe im streitigen Bescheid richtig erkannt, daß es in den zurückgenommenen Bescheiden vom 21. Juni 1971 und 15. September 1977 (samt Folgebescheiden) das ab 1. Januar 1967 geltende "Verbot der Doppelanrechnung" gemäß § 44 Abs 5 aaO idF des Dritten Neuordnungsgesetzes (3. NOG) vom 28. Dezember 1966 (BGBl I S 750) nicht beachtet habe. Die auch aus dem - nunmehr anzuwendenden - § 44 Abs 4 SGB 10 ergebende zeitliche Begrenzung der Wirkungen der Rücknahme der rechtswidrigen belastenden Verwaltungsakte auf 4 Jahre vor der Rücknahme stehe dem Begehren der Klägerin auf rückwirkende Leistung bereits ab 1. Januar 1971 nicht entgegen. Der genannten "Formalvorschrift" übergeordnet sei nämlich der "rechtliche Gesichtspunkt des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs". Die Fehlerhaftigkeit der jetzt zurückgenommenen Bescheide (samt Folgebescheiden) sei nämlich allein dem Verschulden des Beklagten zuzurechnen, der bereits damals unschwer Bescheide mit richtiger Leistungshöhe hätte erlassen können. Es liege also ein Sachverhalt vor, der einen Herstellungsanspruch der Klägerin hätte begründen können. Herstellungsansprüche aber unterlägen keinen Verjährungsgrenzen. Es verstoße gröblichst gegen Treu und Glauben, wenn sich ein öffentlich-rechtlicher Leistungsträger auf formales Recht berufe, um einen in der Sache ungerechtfertigten Vorteil zu erhalten, den er nur durch eigene Fehlleistungen erlangt habe.

Das LSG hat in diesem Urteil die Revision zugelassen.

Das beklagte Land hat die Revision eingelegt. Es bringt zur Begründung vor, § 44 Abs 4 SGB 10 enthalte eine Ausschlußfrist. Soweit ein Herstellungsanspruch der Klägerin bestehen sollte, werde die Einrede der Verjährung geltend gemacht. Die Klägerin könne den Einwand unzulässiger Rechtsausübung "wegen eines Vertretenmüssens des Leistungsträgers" nicht mehr erheben.

Der Beklagte beantragt, das Urteil des Landessozialgerichts vom 12. Dezember 1983 aufzuheben und die Berufung der Klägerin zurückzuweisen.

Die Klägerin beantragt, die Revision kostenpflichtig zurückzuweisen.

Sie ist der Auffassung, die den zuständigen Sachbearbeitern beim VA unterlaufenen Bearbeitungsfehler seien zweifellos als grob nachlässige Fehlbearbeitung zu qualifizieren, die allein und ausschließlich der Verantwortlichkeitssphäre des Leistungsträgers zuzurechnen sei. Ihr wären die zu Unrecht vorenthaltenen Leistungen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bewilligt worden, wenn die Versorgungsverwaltung noch unter der Geltung des alten Rechts - also im Zeitraum zwischen 1971 und 1980 - die sachlich gebotene Überprüfung der in Frage stehenden Bescheide durchgeführt hätte. Wenn das Berufungsgericht die vorliegende Fallgestaltung dem sozialrechtlichen Herstellungsanspruch unterstelle und dabei mit überzeugenden Erwägungen die in der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze entsprechend erweitere, schließe es damit eine Lücke, die durch die Regelung des § 44 Abs 4 SGB 10 entstanden sei. Ob es eines Rückgriffs auf die Grundsätze des Herstellungsanspruchs im vorliegenden Fall überhaupt bedürfe, könne letztlich dahinstehen; im Ergebnis wäre dem Beklagten eine Berufung auf die im Gesetz vorgesehene Ausschlußfrist ebenso bei einer bereits unmittelbaren Anwendung des Rechtsgedanken des § 242 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB), mindestens aber über die Beachtung der Art 3 und 14 des Grundgesetzes (GG) versagt. Der Beklagte könne gegen den vom Berufungsgericht angenommenen Herstellungsanspruch die Einrede der Verjährung nicht erheben. Es wäre rechtsmißbräuchlich, in einem Fall wie dem vorliegenden zwar § 44 Abs 4 SGB 10 für unanwendbar zu halten, statt dessen aber die Verjährungseinrede zuzulassen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Beklagten ist zulässig und begründet.

Der Beklagte hat mit dem streitigen Bescheid des VA vom 21. September 1982 in der Gestalt des bestätigenden Widerspruchsbescheids des LVersorgA vom 29. November 1982 die der Klägerin Witwenversorgung nach Kurt G. nicht oder nur in zu geringer Höhe gewährenden Bescheide vom 21. Juni 1971 und 15. September 1972 samt den Folgebescheiden gemäß § 44 Abs 1 Satz 1 SGB 10 (teilweise) zurückgenommen und der Klägerin ab 1. Januar 1977, also rückwirkend, höhere Leistungen bewilligt. Insoweit hat die Klägerin den - begünstigenden - Rücknahmebescheid nicht angefochten; er ist daher in diesem Umfang bindend iS des § 77 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG).

Angegriffen hat die Klägerin den Bescheid dagegen insoweit, als er den Beginn des neu festgestellten Leistungsanspruchs betrifft.

Die Frage, für welchen in die Vergangenheit reichenden Zeitraum der Leistungsträger die Leistungen im Falle einer Zugunstenentscheidung nach § 44 Abs 1 Satz 1 SGB 10 zu bewilligen hat, regelt § 44 Abs 4 aaO. Nach Art II § 40 Abs 2 Satz 2 SGB 10, in Kraft getreten am 1. Januar 1981 (Art II § 40 Abs 1 Satz 1 aaO), steht der Anwendung von § 44 Abs 4 SGB 10 nicht entgegen, daß der "aufzuhebende Verwaltungsakt" - hier jeder der beiden Bescheide des VA vom 21. Juni 1971 und vom 15. September 1972 - "vor dem 1. Januar 1981 erlassen worden ist" (vgl dazu den Beschluß des Großen Senats des Bundessozialgerichts -BSG- vom 15. Dezember 1982 in BSGE 54, 223 = SozR 1300 § 44 Nr 3). Im einzelnen bestimmt § 44 Abs 4 Satz 1 SGB 10, daß nach der Rücknahme des rechtswidrigen nicht begünstigenden Verwaltungsakts mit Wirkung für die Vergangenheit Sozialleistungen längstens für einen Zeitraum bis zu 4 Jahren vor der Rücknahme erbracht werden. Nach Satz 3 aaO tritt an die Stelle der Rücknahme der Antrag, wenn die Rücknahme auf einen solchen Antrag erfolgt ist. Einen Antrag dieser Art hat die Klägerin bei ihrer Vorsprache beim VA am 28. September 1981 gestellt. Mithin stehen ihr nach der Rücknahme der beiden vorgenannten Bescheide die erhöhten Bezüge ab 1. Januar 1977 zu. Der streitige Bescheid ist sonach richtig.

Das Berufungsgericht hält dieses Ergebnis aus der Überlegung für nicht hinnehmbar, daß ein öffentlich-rechtlicher Leistungsträger nicht materielle Vorteile für sich behalten dürfe, die ihm durch eigene Fehlleistungen zugewachsen seien. Im Ergebnis nimmt das LSG an, daß § 44 Abs 4 Satz 1 SGB 10 in allen Fällen unanwendbar sei, in denen die Rechtswidrigkeit des nach § 44 Abs 1 Satz 1 SGB 10 zurückgenommenen nicht begünstigenden Verwaltungsakts auf einem erheblichen Verschulden (grober Fahrlässigkeit) des Leistungsträgers beruhe. Dieser Auffassung kann nicht gefolgt werden.

Die vom LSG angenommene Einschränkung der Anwendungsbreite des § 44 Abs 4 Satz 1 SGB 10 ist weder dem Text der Norm noch dem mit ihm zu verbindenden Normsinn zu entnehmen. Das Verschulden des im Verwaltungsverfahrens Beteiligten ist in § 44 aaO sehr wohl, jedoch allein in Abs 1 Satz 2 für rechtserheblich erklärt: Danach hat der Leistungsträger den Sozialleistungen rechtswidrig vorenthaltenden Verwaltungsakt nicht zurückzunehmen, wenn er auf Angaben beruht, "die der Betroffene vorsätzlich ...unrichtig oder unvollständig gemacht hat". Die Tatsache, daß das Verschulden des Leistungsträgers in Abs 4 aaO dagegen nicht genannt ist, kann mithin nicht einem Versehen angelastet werden; der Gesetzgeber hat dies offensichtlich bewußt und in Kenntnis des Umstandes getan, daß den Leistungsträger an der Rechtswidrigkeit des nach Abs 1 Satz 1 aaO zurückgenommenen Verwaltungsakts im Einzelfall ein Verschulden getroffen haben mag.

Dies bestätigt auch die Entstehungsgeschichte des § 44 Abs 4 SGB 10:

Am 4. Dezember 1974 hatte das BSG in BSGE 38, 224, 226 (= SozR 2200 § 29 Nr 2) entschieden, daß dann, wenn der Leistungsträger einen bindenden Ablehnungsbescheid rückwirkend aufgehoben hat, auch die die Unterbrechung der Verjährung beendigende Wirkung des Ablehnungsbescheids mit der Folge beseitigt werde, daß die durch den Rentenantrag eingetretene Unterbrechung der Verjährung jedenfalls dann weiterlaufe, wenn der Berechtigte zwischen Eintritt der Bindungswirkung des Ablehnungsbescheides und Einleitung des Neufeststellungsverfahrens noch keinen Anlaß hatte, ein solches Verfahren zu beantragen. In der Amtlichen Begründung des Regierungsentwurfs (RE) eines § 42 Abs 4 SGB 10 (BR-Drucks 170/78 S 34), der dem jetzigen § 44 Abs 4 Satz 1 aaO entspricht, ist unter Bezug auf diese Rechtsprechung ausgeführt: "Der Vierjahreszeitraum, der der Verjährungsfrist von Sozialleistungen nach I § 45 SGB entspricht, ist im Gesetz festgelegt, um sicherzustellen, daß nicht über diesen Zeitraum hinaus rückwirkend Leistungen zu erbringen sind (vgl BSG im Urteil vom 21. April 1974 - SozR 2200 § 29 Nr 2, wonach bei rückwirkender Aufhebung eines Verwaltungsakts auch eine schon eingetretene Verjährung wieder entfällt)". Abs 4 Satz 1 aaO enthält hiernach eine materiell-rechtliche Einschränkung des nachträglich bewilligten Anspruchs auf Sozialleistungen für die Vergangenheit, deren Wirkung über die der Verjährung nach § 45 SGB 1 hinausgeht und der einer Ausschlußfrist entspricht (ganz herrschende Meinung, vgl zB Hauck/ Haines, SGB X 1, 2, K § 44 RdNr 35 und SGB I K 45 RdNr 5 S 5 unten; Kaltenbach/Maier, Die Rentenversicherung im SGB, Band II, X, § 44 RdNr 44; Verbandskommentar zur gesetzlichen Rentenversicherung, SGB 10 § 44 RdNr 20; Zweng/Scheerer/Buschmann, Handbuch der Rentenversicherung 1, SGB X § 44 Anm VI 1; nicht ganz klar dagegen der Große Senat des BSG in der Entscheidung vom 15. Dezember 1982 -BSGE 54, 223, 231 = SozR 2200, 1300 § 44 Nr 3, der von einer "Leistungseinschränkung wegen Verjährung" spricht, möglicherweise aber "... wegen Zeitablaufs" meint). Bei einer von Amts wegen zu beachtenden materiell-rechtlichen Leistungseinschränkung, deren erklärter einziger Sinn und Zweck es ist "sicherzustellen", daß nach Zugunstenentscheidung Leistungen nicht über 4 Jahre hinaus rückwirkend gewährt werden, kann naturgemäß nicht von Belang sein, ob den Leistungsträger ein Verschulden an der Nichterbringung der Sozialleistung trifft (so auch Hauck/Haines und Verbandskommentar aaO; Eicher/Haase/Rauschenbach, Die Rentenversicherung der Arbeiter und der Angestellten, SGB I § 44 Anm 6). Daß ein solches Verschulden des Sozialleistungsträgers in einer Mehrzahl von Fällen Grund der "unrichtigen Rechtsanwendung" und sohin der unrechtmäßigen Vorenthaltung von Sozialleistungen iS von Abs 1 Satz 1 aaO sein wird, kann der Gesetzgeber nicht übersehen haben. Im übrigen besteht Anlaß zu dem Hinweis, daß sich der Schuldner auch auf Verjährung - Zeitablauf, der den Verpflichteten berechtigt, die Leistung zu verweigern (vgl § 222 BGB) - solange berufen kann, als nicht wegen eines groben Verstoßes gegen Treu und Glauben die Grenze zulässiger Rechtsausübung überschritten ist (vgl Münchner Kommentar zum BGB, Band 1, § 194 RdNr 8 und 10); bloße Fahrlässigkeit ist ohne Belang.

Das LSG kann sich für seine entgegenstehende Auffassung auch nicht auf den sozialrechtlichen Herstellungsanspruch (zu Terminologie und inhaltlicher Begriffsbestimmung vgl statt vieler BSG in BSGE 49, 76, 78 = SozR 2200 § 1418 Nr 6) berufen. Bei ihm handelt es sich um ein von der Rechtsprechung im Wege der Fortbildung des geschriebenen Rechts entwickeltes Rechtsinstitut im System des öffentlich-rechtlichen Nachteilsausgleichs (zur Entwicklungsgeschichte im einzelnen vgl Funk, DAngVers 1981, 26 ff). Dieses Rechtsinstitut ist daher nicht anders als ein in einem deutschen Gesetz niedergelegter Rechtssatz Bestandteil des deutschen - geschriebenen und ungeschriebenen - Rechts (zu "Recht und Gesetz" vgl auch Art 20 Abs 3 GG; vgl im übrigen Hauck/Haines, SGB X, K § 44 RdNr 7). "Das Recht unrichtig angewandt" iS von § 44 Abs 1 Satz 1 SGB 10 hat mithin der Sozialleistungsträger auch dann, wenn sein aufgehobener belastender Verwaltungsakt "rechtswidrig" allein deshalb war, weil er gegen Richterrecht - hier: zum Institut des Herstellungsanspruchs - verstoßen hätte. § 44 Abs 4 aaO, der für alle Fälle rechtswidriger Vorenthaltung von Sozialleistungen nach Rücknahme eines belastenden Verwaltungsakts gilt, regelt mithin auch den vorliegenden Fall unter dem denkbaren Gesichtspunkt des Herstellungsanspruchs (so auch Maier/Kaltenbach und Verbandskommentar aaO; offengelassen vom Großen Senat des BSG aaO, S 332 und im Anschluß hieran in den Urteilen des BSG vom 28. August 1984 -11 RA 50/83- und vom 13. Dezember 1984 -9a RV 60/83-).

Bei dieser Rechtslage könnte noch zu prüfen sein, ob die Begrenzung der der Klägerin rückwirkend zuerkannten Leistungen auf einen Zeitraum von 4 Jahren verfassungsrechtlich zu beanstanden wäre. Diese Frage hat indessen der Große Senat des BSG aaO (S 231) bereits ausdrücklich verneint und darauf hingewiesen, daß Sozialleistungen immer schon "der Verjährung" unterworfen gewesen seien, so daß auch im Falle des § 44 Abs 4 SGB 10 zugunsten des Leistungsberechtigten ein Vertrauensschutz nicht zu begründen sei.

Nach alledem hat das SG den streitigen Bescheid und den bestätigenden Widerspruchsbescheid des Beklagten in seinem Urteil vom 16. Mai 1983 zutreffend bestätigt. Auf die Revision des Beklagten war daher das entgegenstehende Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen die Entscheidung des SG zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1661832

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