Leitsatz (amtlich)

1. Hat der Versicherungsträger dem Versicherten eine unrichtige Rechtsauskunft erteilt und hat dieser darauf die Entrichtung von Beiträgen unterlassen, so hat der Versicherungsträger auf Verlangen des Versicherten den versicherungsrechtlichen Zustand herzustellen, der ohne die unrichtige Auskunft bestehen würde, ihm mithin die nachträgliche Entrichtung der Beiträge zu gestatten (Herstellungsanspruch).

2. Dieser Anspruch setzt auf seiten des Versicherungsträgers grundsätzlich kein Verschulden voraus, besteht also auch dann, wenn der Versicherungsträger im Zeitpunkt der Auskunftserteilung von der Richtigkeit seiner Rechtsansicht ausgehen durfte (Fortführung von BSG 1979-05-09 9 RV 20/78 = SozR 3100 § 44 Nr 11).

3. Mit dem Herstellungsanspruch kann nur verlangt werden, was in dem betreffenden Rechtsgebiet seiner Art nach zulässig ist, hingegen nicht Gestaltungen, die das Gesetz nicht kennt oder generell ausschließt.

 

Leitsatz (redaktionell)

Bei der Verpflichtung des Versicherungsträgers zur Auskunft, insbesondere zur Erteilung einer richtigen Auskunft, handelt es sich nicht um eine unbedeutende Nebenpflicht, sondern um eine Pflicht von zentraler Bedeutung für das Funktionieren des Systems der sozialen Sicherung.

 

Normenkette

BGB § 242 Fassung: 1896-08-18; AVG § 140 Abs. 1 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1418 Abs. 1 Fassung: 1957-02-23; SGB 1 § 14 Fassung: 1975-12-11, § 15 Abs. 1 Fassung: 1975-12-11

 

Verfahrensgang

LSG Berlin (Urteil vom 05.08.1977; Aktenzeichen L 1 An 163/76)

SG Berlin (Entscheidung vom 03.09.1976; Aktenzeichen S 15 An 3873/74)

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 5. August 1977 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat dem Kläger auch die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Gründe

I

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte verpflichtet ist, freiwillige Beiträge für die Jahre 1955 und 1956 noch entgegenzunehmen, weil die Entrichtung dieser Beiträge aufgrund einer unrichtigen, damals aber für richtig gehaltenen Auskunft der Beklagten unterblieben ist.

Der Kläger (geboren 1905) war von 1924 bis 1970 im wesentlichen als Bankangestellter beschäftigt, zuletzt als Vorsteher einer Depositenkasse. Vom 1. Oktober 1952 bis 28. Februar 1957 war er versicherungsfrei. Er entrichtete in dieser Zeit zunächst zwölf Monatsbeiträge für das Jahr 1953. In den Jahren 1954 bis 1957 entrichtete er dann aber die freiwilligen Beiträge nicht mehr für jeden Monat, sondern nur für einen Teil des Jahres (für 1954 acht, für 1955 und 1956 je sechs, für die beiden ersten Monate 1957 ein Beitrag). Diese Beiträge stockte er durch Beiträge der Höherversicherung auf (für 1954 vier, für 1955 und für 1956 je sechs und für die beiden ersten Monate 1957 ein Beitrag). Er erklärt diese veränderte Entrichtungsweise damit, daß er von der Beklagten (zuletzt im Jahre 1957) die Auskunft erhalten habe, daß es wegen der möglichen Anrechnung einer pauschalen Ausfallzeit günstiger sei, statt monatlicher Beiträge möglichst hohe Beiträge für einen Teil des Jahres zu entrichten. Diese Auskunft entsprach der damaligen Auffassung der Beklagten, daß sich die pauschale Ausfallzeit (Art 2 § 14 des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes -AnVNG- idF des Rentenversicherungs-Änderungsgesetzes -RVÄndG- vom 9. Juni 1965) unter Berücksichtigung. des zuletzt entrichteten freiwilligen Beitrags errechne. Diese Auffassung erwies sich später aufgrund der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) als unzutreffend (Urteil vom 25. Oktober 1963 - 1 RA 319/61 - BSGE 19, 223).

Eine vom Kläger zunächst beantragte Umwandlung der Höherversicherungsbeiträge in freiwillige Beiträge wurde abgelehnt. Klage und Berufung hatten keinen Erfolg (Urteil des Landessozialgerichts -LSG- Berlin vom 29. März 1974 - L 1 An 2/73 -).

Parallel zu diesem Verfahren hatte der Kläger im Dezember 1972 einen Antrag auf Nachentrichtung von Beiträgen nach Art 2 § 49a Abs 2 AnVNG gestellt, und zwar eines Beitrags für das Jahr 1957, zwei Beiträgen für das Jahr 1956 (und drei Beiträgen für das Jahr 1970). Die Nachentrichtung wurde zugelassen (Bescheid vom 13. Februar 1973).

Entsprechend einem Hinweis im Urteil des LSG Berlin stellte der Kläger am 4. Mai 1974 einen weiteren Nachentrichtungsantrag für die Zeit von 1954 bis 1957. Diesem Antrag wurde mit Bescheid vom 17. Juli 1974 aufgrund des Art 2 § 49a Abs 2 AnVNG insoweit entsprochen, als die Nachentrichtung von vier Beiträgen für die Zeit ab 1. Januar 1956 zugelassen wurde. Die Entrichtung weiterer Beiträge wurde abgelehnt. Der Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 7. Oktober 1974).

Auf die Klage hat das Sozialgericht (SG) Berlin die Beklagte unter Aufhebung der angefochtenen Bescheide verurteilt, je sechs freiwillige Beiträge für 1956 und für 1955 entgegenzunehmen (Urteil des SG Berlin vom 3. September 1976). Den Antrag auf Entgegennahme von Beiträgen für 1954 hatte der Kläger bereits vor dem SG nicht mehr gestellt.

Das LSG hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen (Urteil des LSG Berlin vom 5. August 1977): Der Kläger habe wegen einer Pflichtverletzung der Beklagten einen Herstellungsanspruch auf Nachentrichtung der Beiträge; ihm sei im Frühjahr 1957 eine unrichtige Auskunft über die Anrechnung von pauschalen Ausfallzeiten gegeben worden; diese unrichtige Auskunft habe zu den für ihn ungünstigen Lücken im Versicherungsverlauf der Jahre 1955 und 1956 geführt. Für diese unrichtige Auskunft hafte die Beklagte. Dazu sei ein Verschulden des einzelnen Bediensteten nicht erforderlich; unrichtige Auslegungen des Gesetzes durch die Beklagte könnten auch dann, wenn sie als vertretbar anzusehen seien, nicht dem Versicherten angelastet werden, sondern seien ein Risiko der Behörde.

Mit der Revision macht die Beklagte geltend, daß zu den Voraussetzungen eines Schadensersatzanspruches - und um einen solchen handele es sich hier - stets Verschulden gehöre. Davon könne nur im Rahmen eines Folgenbeseitigungsanspruches abgesehen werden. Ein Folgenbeseitigungsanspruch komme aber nur bei Beeinträchtigung eines Freiheitsgrundrechts in Betracht, also bei Verletzung von Unterlassungspflichten, nicht aber bei der Verletzung von Leistungspflichten. Ein Verschulden könne der Beklagten aber wegen der Unrichtigkeit der 1957 gegebenen Auskunft nicht angelastet werden, weil der Inhalt der Auskunft der damals herrschenden Rechtsauffassung entsprochen habe. Selbst wenn man aber auf die Verschuldensvoraussetzung verzichte und diese durch eine Interessenabwägung nach Treu und Glauben ersetze, wie dies das LSG tue, so fehle es ebenfalls an den Voraussetzungen für eine Haftung; denn es widerspreche gerade Treu und Glauben, dem Versicherungsträger das Risiko für die Richtigkeit aller Rechtsauskünfte einschränkungslos zu übertragen. Dieses Risiko dürfe jedenfalls nicht auf solche Unrichtigkeiten ausgedehnt werden, die sich erst durch eine spätere Rechtsentwicklung ergaben.

Die Beklagte beantragt,

unter Aufhebung der Urteile des LSG Berlin vom 5. August 1977 und des SG Berlin vom 3. September 1976 die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er bezieht sich im wesentlichen auf das angefochtene Urteil des LSG.

II

Die Revision ist unbegründet.

Das LSG hat zu Recht entschieden, daß der Kläger berechtigt ist, die fehlenden Beiträge für die Jahre 1955 und 1956 nachzuentrichten. Diese Befugnis ergibt sich daraus, daß die Beklagte dem Kläger im Jahre 1957 eine objektiv unrichtige Auskunft erteilt und ihn dadurch von der Entrichtung der Beiträge abgehalten hat. Auch wenn die Beklagte die Unrichtigkeit der Auskunft seinerzeit nicht erkennen konnte und deshalb nicht schuldhaft gehandelt hat, würde dies dem Anspruch des Klägers auf Einräumung der sozialrechtlichen Befugnisse, die er hätte, wenn die unrichtige Auskunft nicht erteilt worden wäre (Herstellungsanspruch), nicht entgegenstehen.

Die Rechtsprechung des BSG zum Herstellungsanspruch hat für diesen Anspruch bisher schon kein Verschulden gefordert (BSG SozR Nr 3 zu § 1233 Reichsversicherungsordnung -RVO-; BSGE 32, 60; 34, 124; SozR Nr 11 zu § 1276 RVO; Urteil vom 11. März 1976 - 7 RAr 152 /74 - unveröffentlicht; SozR 4100 § 72 Nr 1; Urteil vom 23. Juni 1976 - 12/7 RAr 105/74 - unveröffentlicht; SozR 4100 § 44 Nr 9; BSGE 44, 188, 190; Urteile vom 9. Mai 1979 - 9 RV 20/78 -, vom 20. Juni 1979 - 5 RKn 16/78 - und vom 17. Juli 1979 - 12 RAr 15/78 - sämtlich zur Veröffentlichung bestimmt).

Soweit der Herstellungsanspruch allerdings damit begründet worden ist, daß der Versicherungsträger eine Pflicht zur Beratung des Versicherten verletzt hat (vgl jetzt § 14 SGB 1), ist der Anspruch auf Fälle begrenzt worden, in denen der Versicherungsträger nicht auf rechtliche Gestaltungsmöglichkeiten hingewiesen hatte, die nach den dem Versicherungsträger bekannten tatsächlichen Umständen "klar zu Tage" lagen und deshalb für den Versicherungsträger "erkennbar" waren (vgl insbesondere BSGE 41, 126, 128; 46, 124, 126; BSG, Urteil vom 4. September 1979 - 7 RAr 115/78 -). Eine "Garantiehaftung" ist für solche Fälle (allerdings auch begrenzt auf diesen Bereich) abgelehnt worden. Auch insoweit ist indessen allein nach objektiven Merkmalen zu beurteilen, ob eine Gestaltungsmöglichkeit "klar zu Tage" liegt (BSG aaO); deshalb besteht ein Herstellungsanspruch auch dann, wenn bestimmte Gestaltungsmöglichkeiten nach der objektiven Rechtslage klar zu Tage liegen, der Versicherungsträger aber aufgrund eines Rechtsirrtums von einer anderen oder einer ungeklärten Rechtslage ausgegangen ist (vgl hierzu auch Urteil des BSG vom 12. September 1979 - 5 RJ 126/77).

Handelt es sich, wie hier, jedoch nicht um die Unterlassung einer nach den Umständen des Falles gebotenen Beratung, sondern um die Erteilung einer unrichtigen Auskunft, dann hat der Versicherungsträger - wie auch sonst, wenn es um die richtige Auslegung und Anwendung von Rechtsvorschriften geht - für die Richtigkeit der von ihm vertretenen Rechtsauffassung einzustehen. Dies gilt auch, wenn eine Auskunft zu einer objektiv ungeklärten Rechtsfrage erteilt wird. Der Versicherungsträger trägt auch in diesem Fall das Risiko für die Richtigkeit seiner Auskunft (s. besonders BSG, Urteil vom 20. Mai 1979 - 9 RV 20/78 -). Diesem Risiko kann er sich grundsätzlich auch nicht durch einen Vorbehalt oder einen (uU erforderlichen) Hinweis auf die Unsicherheit der Rechtslage entziehen. Es mag zwar Fälle geben, in denen solche Vorbehalte möglich oder gar geboten erscheinen. Ebenso wie im Leistungsrecht sind Vorbehalte aber nur zulässig, wo das Gesetz dies gestattet oder eine besondere Situation vorliegt, die eine endgültige Auskunft nicht zuläßt (vgl zum Vorbehalt im Leistungsrecht BSGE 7, 227, 228; 30,218,219; 37,155, 158; 40, 23, 24 f; 42,184, 189); denn es gehört zum Inhalt der Beratungspflicht, dem ratsuchenden Versicherten deutlich zu machen, welche Rechte ihm zustehen und in welcher Weise er sich verhalten muß, um seine Ansprüche verwirklichen zu können (BSG, Urteil vom 4. September 1979 - 7 RAr 115/78 -).

Die Unabhängigkeit des Herstellungsanspruchs vom Verschulden der Behörde ergibt sich aus dem System öffentlich-rechtlichen Nachteilsausgleichs. Der Herstellungsanspruch ist ein weiterer Baustein in diesem System, das neben dem Amtshaftungsanspruch Regelungen über die Enteignungsentschädigung, einen Ausgleich für enteignungsgleiche Eingriffe, den Aufopferungsanspruch, den Folgenbeseitigungsanspruch (evtl auch eine Folgenbeseitigungslast) sowie die Rücknahme belastender Verwaltungsakte und die Verpflichtung zur Neufeststellung bei fehlerhaften Leistungsbescheiden enthält. Dieses System kennt das Verschulden als Voraussetzung nur bei dem Schadensersatzanspruch nach § 839 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB). Diese Besonderheit (die im übrigen nach dem Entwurf eines Staatshaftungsgesetzes -BT-Drucks 8/2079 - weiter zurückgedrängt werden soll, vgl dazu Janson, DÖV 1979, 696, bes. 700 ff), ist dadurch gerechtfertigt, daß im Rahmen von § 839 BGB voller Schadenersatz zu gewähren ist. Bei allen anderen Rechtsinstituten geht es hingegen um einen angemessenen Ausgleich für Verwaltungsunrecht - bei dem Herstellungsanspruch nur um die Herstellung (oder die Wiederherstellung) des dem Gesetz und seinen Zielen entsprechenden Zustandes.

Der Aufopferungsanspruch und als Unterfall hiervon der Anspruch auf Entschädigung wegen eines enteignungsgleichen Eingriffs (in Vermögenswerte eigentumsähnliche Rechte) haben ihre Grundlage darin, daß der Bürger durch Verwaltungsunrecht ungleich belastet worden ist (vgl zum enteignungsgleichen Eingriff: BGHZ 32, 208, 211 f; zum Aufopferungsanspruch; BGHZ 66, 118, 119 f). Eine solche (ungleiche) Belastung liegt schon bei Rechtswidrigkeit des Eingriffs vor. Für das Erfordernis des Verschuldens ist deshalb hier kein Platz. Die Verpflichtung und Befugnis der Behörde zur Rücknahme belastender Verwaltungsakte und zur (günstigeren) Neufeststellung von Leistungen knüpft ebenfalls allein an die Rechtswidrigkeit des ursprünglichen Verwaltungsakts an. Die Eingrenzung dieser Pflichten und Befugnisse erfolgt nicht nach dem Grad des Verschuldens, sondern in erster Linie unter Abwägung mit dem Bedürfnis nach Rechtssicherheit (wobei hier offen bleiben kann, ob Verschulden nicht im Rahmen eines Ermessens der Behörde auch zu berücksichtigen ist).

Ebenso beruht der Folgenbeseitigungsanspruch (Beseitigung der Folgen rechtswidrigen hoheitlichen Handelns mit hoheitlichen Mitteln) - unabhängig von seiner dogmatischen Begründung - auf dem Gedanken, daß der Staat eine widerrechtliche Beeinträchtigung zu beseitigen hat, soweit dies möglich ist, wenn er in Freiheitsgrundrechte eingreift oder gleichgestellte Ansprüche auf Unterlassen verletzt. (Weyreuther, Verhandlungen des 47. Deutschen Juristentages Band I B 91 und B 93; Bettermann MDR 57, 131; Wolff/Bachof, Verwaltungsrecht I § 54 II b; BVerwG DVBl 71, 858; BSGE 41, 126, 127 mwN)

Die Parallele zum Folgenbeseitigungsanspruch bildet für den Bereich des Leistungsrechts der hier streitige Herstellungsanspruch. Er richtet sich ebenfalls auf eine Herbeiführung des Zustandes, der ohne das rechtswidrige Verhalten der Behörde bestanden hätte, soweit dies mit hoheitlichen Mitteln möglich ist. Der Unterschied zum Folgenbeseitigungsanspruch liegt lediglich darin, daß hier ein Verhalten zu beurteilen ist, das keinen hoheitlichen Eingriff darstellt, sondern ein - entweder unterlassenes oder fehlerhaft gewesenes - "schlichtes" Verwaltungshandeln im Rahmen der Daseinsfürsorge (Beratung, Auskunft uä). Dieser Unterschied ist jedoch nicht so gewichtig, daß deswegen überhaupt ein Anspruch versagt oder dieser von einem Verschulden der Behörde abhängig gemacht werden müßte. Der aus dem verfassungsrechtlichen Freiheitsschutz gewonnene Gedanke der Verpflichtung von Behörden zur Beseitigung rechtswidriger Beeinträchtigungen kann nicht an der Beseitigung von Eingriffsfolgen Halt machen, nachdem sich das Verfassungsverständnis wesentlich dahin gewandelt hat, daß die Freiheitsgrundrechte nicht mehr als bloße Abwehrrechte gegen den Staat begriffen werden, sondern erkannt ist, daß sie auch einenden Staat verpflichtenden, seine Tätigkeit steuernden Inhalt haben (K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 8. Aufl § 9 II 2 b; ferner BVerfGE 33, 303, 330 und Nachfolgeentscheidungen). Parallel dazu ist die Entwicklung zu sehen, sozialen Rechten in gewissem Umfang den Eigentumsschütz des Art 12 des Grundgesetzes (GG) zuzuerkennen (vgl BVerfGE 22, 135; 31, 185, 32, 111; 36, 73; BSGE 24, 236). Im Sinne dieser Rechtsentwicklung liegt es, den Ausgleich rechtswidriger Beeinträchtigungen von Rechten im Rahmen der Leistungsverwaltung in ähnlicher Weise auszugleichen wie bei rechtswidrigen Eingriffen in Freiheitsrechte und ihnen gleichgestellte Rechte (s. dazu auch Schnapp DAngVers 78, 538, 542). Einen gesetzlichen Ausdruck hat dieses Bedürfnis nach Herstellung eines dem objektiven Recht entsprechenden Zustandes für die Sozialversicherung in den Vorschriften über die Verpflichtung zur Neufeststellung von Leistungen bei klar zu Tage liegenden Fehlern gefunden (s. zB § 1300 RVO).

Aus diesen Gründen ist der Auffassung zu folgen, die den Herstellungsanspruch als eine Weiterentwicklung des Folgenbeseitigungsanspruchs ansieht (vgl dazu Haueisen DVBl 73, 739; Brackmann BKK 76, 301, 303; Jakumeit/Wilde SGb 71, 375, 376; Lüdtke AuB 76, 376, 377 f und letztlich auch Merten VSSR 1 (1973), 66, 76). Aus dieser Ableitung des Herstellungsanspruchs ergibt sich dann aber auch, daß ein Verschulden der Behörde nicht Voraussetzung des Anspruchs sein kann. Der früher - und gelegentlich auch noch heute - verwendete Ausdruck "sozialrechtlicher Schadenersatzanspruch" ist deshalb mißverständlich. Er verdeckt außerdem, daß es zwischen Verwaltung und betroffenem Bürger keinen Interessengegensatz gibt, der dem zwischen zwei Personen im Rahmen zivilrechtlicher Konflikte entspricht. Das Interesse der Verwaltung kann in diesem Zusammenhang kein Eigeninteresse - wie das Interesse einer Privatperson - sein. Sie ist nur Sachwalterin des Gesetzes und kann deshalb außerhalb ihrer Aufgabe, das Gesetz auszuführen und damit zur Erreichung seines Zweckes beizutragen, nur unter ganz besonderen Voraussetzungen legitime Interessen geltend machen (wozu zB ein besonderes öffentliches Interesse an Erhaltung von Rechtssicherheit gehören kann). Der Verschuldensgedanke, der den Umfang der sich aus rechtswidrigem Verwaltungshandeln ergebenden Ansprüche einengt, läßt sich zwar dort rechtfertigen, wo es, wie bei § 839 BGB, um umfassende Ersatzleistungen geht, nicht aber bei Ansprüchen, die lediglich die Erfüllung des Gesetzeszwecks sicherstellen sollen.

Nicht gefolgt werden kann aus diesen Gründen auch dem Versuch, den Herstellungsanspruch aus § 242 BGB abzuleiten. Überdies handelt es sich bei § 242 BGB nur um eine Blankettnorm, die ohnehin erst aus den besonderen Strukturen der sozialversicherungsrechtlichen Rechtsverhältnisse ausgefüllt werden müßte (s. dazu Lüdtke AuB 76, 376, 377).

Aus der Erkenntnis, daß Verschulden nicht Voraussetzung des Herstellungsanspruchs ist, läßt sich allerdings nicht ohne weiteres folgern, daß jedes rechtswidrige Verwaltungshandeln zu korrigieren wäre. Abgesehen von den Einschränkungen s die sich aus der Abwägung mit dem Bedürfnis nach Rechtssicherheit ergeben (s. dazu auch § 79 Abs 2 BVerfGG), kann ein Herstellungsanspruch nur Insoweit begründet sein, als der Fehler noch nachträglich durch Vornähme einer Amtshandlung zu korrigieren ist. Diese Möglichkeit besteht nur dort, wo eine rückwirkende Korrektur - wenn auch auf einer anderen Rechtsgrundlage - ihrer Art nach überhaupt rechtlich zugelassen ist. Nicht verlangt werden können Verwaltungsentscheidungen, für die das Recht keinerlei Grundlage bietet (vgl H. Bogs in Sozialrechtsprechung, Festschrift zum 25 jährigen Bestehen des BSG, Bd 1, S. 149 ff, hier S. 176; ferner Peters, Sozialgesetzbuch Allgemeiner Teil, § 14 Anm 10, S. 199 unten). So hat zB das LSG in seinem Urteil vom 29. März 1974 - L 1 An 2/73 - mit Recht entschieden, daß die Umbuchung der entrichteten Höherversicherungsbeiträge in freiwillige Beiträge für andere Monate auch im Wege des Herstellungsanspruchs nicht verlangt werden kann; denn das Beitragsrecht der Sozialversicherung schließt die nachträgliche Verschiebung und ebenso die Heraufsetzung oder Herabsetzung entrichteter Beiträge aus (BSG SozR Nr 3 zu § 1407 RVO; BSGE 35, 178; SozR Nr 8 zu § 1418 RVO mwN; ferner zum Nachentrichtungsrecht nach den Neuregelungsgesetzen SozR Nr 33 zu Art 2 § 42 ArVNG; SozR Nr 10 zu Art 2 § 52 ArVNG; DAngVers 1968, 67; Urteil vom 30. November 1978 - 12 RK 43/76 - zur Veröffentlichung bestimmt; Urteil vom 8. März 1979 - 12 RK 5/78 -; Urteil vom 4. April 1979 - 12 RK 36/78 - und Urteil vom 13. September 1979 - 12 RK 39/78 -).

Der vom Kläger nunmehr erhobene Anspruch geht aber dahin, der Beklagten die Berufung darauf zu versagen, daß die Frist für die Entrichtung von freiwilligen Beiträgen nach § 140 Abs 1 Angestelltenversicherungsgesetz abgelaufen sei. Damit verlangt er etwas, was im Recht - wenn auch meist unter dem Gesichtspunkt von Treu und Glauben - grundsätzlich anerkannt ist, nämlich die Versagung der Berufung auf den Ablauf einer Frist, auch einer Ausschlußfrist (s. dazu zB BSGE 32, 60; BSG SozR Nr 11 zu § 1276 RVO; SozR 4100 § 72 Nr 2).

Nicht relevant für den Herstellungsanspruch ist jedoch die Unterscheidung danach, ob eine Haupt- oder eine Nebenpflicht verletzt wurde. Dementsprechend hat das LSG mit Recht erkannt, daß auch eine unrichtige Auskunft einen Herstellungsanspruch auszulösen vermag. Bei der Verpflichtung zur Auskunft, insbesondere zur Erteilung einer richtigen Auskunft, handelt es sich überdies nicht um eine unbedeutende Nebenpflicht, sondern um eine Pflicht von zentraler Bedeutung für das Funktionieren des Systems der sozialen Sicherung. Nur über Auskunft und Beratung (s. dazu nunmehr §§ 14 und 15 SGB 1) können den Versicherten die Kenntnisse vermittelt werden, die sie benötigen, um die ihnen gesetzlich zustehenden Rechte voll auszuschöpfen.

Die genannten Voraussetzungen des Herstellungsanspruchs sind auf der Grundlage der Feststellungen des LSG im vorliegenden Fall sämtlich gegeben. Der Kläger kann deshalb verlangen, daß ihm die Beklagte die versicherungsrechtlichen Möglichkeiten erneut einräumt, die ihm infolge der falschen Auskunft entgangen sind. Das bedeutet, daß die Beklagte verpflichtet ist, die fraglichen Beiträge für 1953 und 1956 noch entgegenzunehmen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1653933

BSGE, 76

Breith. 1980, 863

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