Leitsatz (amtlich)

1. Hat der Versicherungsträger den Versicherten durch eine objektiv unrichtige Auskunft von einer Nachentrichtung von Beiträgen abgehalten, so hat er die Beiträge, wenn sie später nachentrichtet werden, als zu dem Zeitpunkt entrichtet zu behandeln, zu dem sie bei richtiger Auskunft entrichtet worden wären; dies gilt auch für Nachentrichtungen aufgrund des WGSVG (Fortführung von BSG 2.11.1983 11 RA 54/82 = SozR 2200 § 1290 Nr 18).

2. Es bleibt offen, ob § 44 Abs 4 SGB 10 seinem Grundgedanken nach auch in solchen Fällen Leistungen für die Vergangenheit über die dort gegebene Zeitgrenze hinaus ausschließt.

 

Orientierungssatz

Das Recht zur Beitragsnachentrichtung nach § 10 WGSVG besteht auch für den Zeitraum, der als Beschäftigungszeit iS von § 16 FRG berücksichtigt wird (Anschluß an BSG 14.5.1981 12 RK 73/79 = SozR 5070 § 10 Nr 16).

 

Normenkette

WGSVG § 10; WGSVGÄndG Art 4 § 2 Abs 2 Fassung: 1970-12-22; FRG § 16 Fassung: 1960-02-25; SGB 10 § 44 Abs 4 Fassung: 1980-08-18

 

Verfahrensgang

SG Berlin (Entscheidung vom 05.08.1983; Aktenzeichen S 15 An 2386/82)

 

Tatbestand

Streitig ist der Beginn einer neu festgestellten Rente.

Der 1909 geborene Kläger gehört zum Personenkreis des § 1 des Bundesergänzungsgesetzes zur Entschädigung für Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung (BEG); er lebt seit 1949 in Israel und besitzt die israelische Staatsangehörigkeit. Im Oktober 1975 beantragte er bei der Beklagten ua eine Nachentrichtung von Beiträgen nach § 10 des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG). Die Beklagte teilte ihm mit Schreiben vom 25. August 1978 "informatorisch" mit, daß grundsätzlich für neun Zeiträume mit insgesamt 350 Monaten zwischen Oktober 1933 bis Januar 1971 Beiträge nachentrichtet werden könnten; sie werde das Datum der Bereiterklärung als Zeitpunkt der Beitragsentrichtung gelten lassen, wenn innerhalb von sechs Monaten die erforderlichen genauen Angaben gemacht und dann innerhalb von sechs Monaten nach dem Zulassungsbescheid die Nachentrichtung vorgenommen würde.

Im September 1978 erklärte der Kläger seine Bereitschaft, für 83 der 350 Monate Beiträge nachzuentrichten. Die Beklagte stellte durch Bescheid vom 25. September 1978 fest, daß er in diesem Umfang zur Nachentrichtung berechtigt sei; danach zahlte der Kläger den angegebenen Gesamtbetrag von 1.494,-- DM im Oktober/ November 1978 an die Beklagte.

Inzwischen hatte er im Januar 1977 das Altersruhegeld beantragt. Die Beklagte bewilligte es ihm durch Bescheid vom 18. April 1979 unter Berücksichtigung der nachentrichteten Beiträge ab 1. November 1975. Dem Bescheid legte sie auch 41 Monate zwischen dem 1. September 1935 und dem 31. Juli 1939 als Beschäftigungszeiten nach § 16 des Fremdrentengesetzes (FRG) zugrunde; diese berücksichtigte sie gemäß § 98 Abs 2 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) aF jedoch nur bei der "Inlandsrente", nicht aber bei der dem Kläger zu zahlenden "Auslandsrente", die so lediglich 86,13 vH der Inlandsrente erreichte.

Im November 1981 beantragte der Kläger, um die Auslandsrente zu erhöhen, zusätzlich die Nachentrichtung von Beiträgen nach § 10 WGSVG für die Beschäftigungszeiten, die die Beklagte im Schreiben vom 25. August 1978 nicht in die Nachentrichtungszeiträume einbezogen hatte. Durch Bescheid vom 16. Dezember 1981 stellte die Beklagte die Berechtigung zur Nachentrichtung für diese Zeiten fest, worauf der Kläger den angegebenen Gesamtbetrag von 758,50 DM im Februar 1982 an die Beklagte zahlte.

Im Hinblick hierauf berechnete die Beklagte mit Bescheid vom 5. April 1982 das Altersruhegeld des Klägers auf dessen Antrag unter Berücksichtigung auch dieser Nachentrichtung ohne Unterschied zwischen Inlands- und Auslandsrente neu; die neu festgestellte Rente ließ sie am 1. Dezember 1981 beginnen. Den Widerspruch, mit dem der Kläger die Rückwirkung ab November 1975 erstrebte, wies die Beklagte zurück.

Die dagegen erhobene Klage hatte vor dem Sozialgericht (SG) keinen Erfolg. Nach Art 4 § 2 Abs 2 WGSVG sei die Höhe der Rente frühestens ab dem auf die Nachentrichtung folgenden Monat zu zahlen. Ein früherer Beginn lasse sich weder aus § 44 des Sozialgesetzbuches - Verwaltungsverfahren - (SGB X) noch aus einem sozialrechtlichen Herstellungsanspruch ableiten. Soweit der Zulassungsbescheid vom 25. September 1978 für die Beschäftigungszeiten keine Beitragsnachentrichtung zugelassen habe, sei er nicht rechtswidrig gewesen, habe vielmehr auf einer vertretbaren Rechtsauslegung beruht. Daran habe das nicht überzeugende und überdies einen anderen Fall betreffende Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 14. Mai 1981 (SozR 5070 § 10 Nr 16) nichts geändert. Da die Beklagte im zweiten Zulassungsbescheid vom 16. Dezember 1981 den ersten Zulassungsbescheid vom 25. September 1978 nur mit Wirkung für die Zukunft zurückgenommen habe, müsse sie nicht nach Maßgabe des § 44 Abs 4 SGB X Sozialleistungen für die Vergangenheit erbringen. Eine Hinweispflicht habe sie nicht verletzt, weil bei Erlaß des ersten Zulassungsbescheides das zum Urteil des BSG vom 14. Mai 1981 führende Verfahren noch in der Berufungsinstanz geschwebt habe.

Mit der vom SG neben der Berufung zugelassenen Revision rügt der Kläger eine Verletzung von § 44 SGB X; es liege ein Fall des Abs 1 dieser Vorschrift vor. Das Urteil des BSG vom 14. Mai 1981 habe kein neues Recht geschaffen, sondern nur bestätigt, was bereits vorher rechtens gewesen sei. Gemäß § 44 Abs 4 SGB X sei die erhöhte Rente daher für vier Jahre zurück, also ab Januar 1977, zu zahlen. Das gebiete auch die Gleichbehandlung mit den Verfolgten, deren Nachentrichtungsverfahren im Mai 1981 noch nicht abgeschlossen gewesen seien.

Der Kläger beantragt, den Neufeststellungsbescheid vom 5. April 1982 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, die aufgrund der weiteren Nachentrichtung erhöhte Rente vom 1. Januar 1977 an zu zahlen.

Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers ist begründet.

Die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Neufeststellungsbescheides vom 5. April 1982 beurteilt sich nicht nach Vorschriften des SGB X (§§ 44, 48), sondern nach Art 4 § 2 WGSVG. Nach dessen Abs 1 ist auf Antrag eine Rente neu festzustellen, wenn durch das WGSVG - hier: aufgrund einer Nachentrichtung nach § 10 WGSVG - ein Anspruch auf eine höhere Rente begründet wird; nach Abs 2 ist die höhere Rente ua in den Fällen des § 10 WGSVG frühestens vom Ersten des Monats zu zahlen, der auf die Beitragsnachentrichtung folgt (aber nicht vor Inkrafttreten des WGSVG). Diese Regelung geht den einschlägigen Regelungen des SGB X vor, weil letztere nur gelten, soweit sich aus den besonderen Teilen des SGB, zu denen das WGSVG gehört (Art II § 1 Nr 5 SGB I), nichts anderes ergibt; das war bis zum Juni 1983 so in § 1 Abs 1 Satz 1 SGB X aF bestimmt und ist es seit Juli 1983 in § 37 Satz 1 SGB I idF vom 4. November 1982 (BGBl I 1450). Der Senat hat allerdings im Urteil vom 2. November 1983 - 11 RA 54/82 - (SozR 2200 § 1290 Nr 18) klargestellt, daß auch bei Nachentrichtungen nach anderen Sondervorschriften (dort: nach Art 2 § 49a Abs 2 des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes) für den Beginn der höheren Rente nichts anderes gelten könne als in Art 4 § 2 Abs 2 WGSVG normiert; nach den allgemeinen Bestimmungen des § 67 AVG über den Leistungsbeginn könnten nachentrichtete Beiträge grundsätzlich erst von dem auf die tatsächliche Entrichtung folgenden Monat an einen Anspruch auf eine höhere Rente begründen.

Damit wird jedoch nicht ausgeschlossen, daß nachentrichtete Beiträge in bestimmten Fällen als zu einem früheren Zeitpunkt entrichtet gelten müssen, so daß dann auch die höhere Rente von diesem früheren Zeitpunkt an zu zahlen ist. Die Rechtsprechung hat zB schon eine entsprechende Anwendung des in § 142 Abs 1 Nr 2 AVG (Bereiterklärung) zum Ausdruck kommenden Rechtsgedankens aus Billigkeitsgründen für geboten gehalten (s die Hinweise in SozR aaO); diesem Gedanken hat auch die Beklagte im vorliegenden Fall offensichtlich dadurch Rechnung getragen, daß sie die ersten Nachentrichtungsbeiträge als vor November 1975 und die zweiten als vor Dezember 1981 entrichtet behandelt hat. Hierzu braucht der Senat im einzelnen nicht Stellung zu nehmen. Nach dem Urteil vom 2. November 1983 ist den Beiträgen jedenfalls dann Rückwirkung beizumessen, wenn den Versicherten an der späten Entrichtung kein oder kein erhebliches Verschulden trifft, vor allem wenn der Versicherungsträger zu Unrecht das Recht zur Entrichtung bestritten und den Versicherten so von einer früheren Beitragsentrichtung abgehalten hat. Das muß, obgleich der Wortlaut des Art 4 § 2 Abs 2 WGSVG dem scheinbar entgegensteht, ebenso bei Nachentrichtungen nach § 10 WGSVG gelten. Art 4 § 2 Abs 2 WGSVG betrifft ersichtlich den Regelfall; er soll ausschließen, daß die Nachentrichtung generell auf frühere Zeitpunkte zurückbezogen wird, wofür sich möglicherweise Gründe aus dem Gedanken der Wiedergutmachung herleiten ließen. Daß Verzögerungen der Nachentrichtung durch ein Verhalten des Versicherungsträgers insoweit ebenfalls zu Lasten des Versicherten gehen sollten, ist Art 4 § 2 Abs 2 WGSVG nicht zu entnehmen; eine derartige Auffassung vertritt auch die Beklagte nicht.

Der vorliegende Fall ist in der gebotenen Rückwirkung der zweiten Beitragsnachentrichtung mit dem Sachverhalt vergleichbar, der dem Urteil vom 2. November 1983 zugrunde lag. Auch hier ist eine unrichtige Auskunft für die späte Nachentrichtung ursächlich gewesen. Soweit das SG in diesem Zusammenhang erörtert hat, ob die Beklagte den ersten Zulassungsbescheid vom 25. September 1978 im zweiten vom 16. Dezember 1981 nach § 44 SGB X nur mit Wirkung für die Zukunft zurücknehmen durfte, war dies verfehlt. Beide Zulassungsbescheide stellen jeweils nur die Berechtigung des Klägers zur Nachentrichtung für die in ihnen genannten Zeiträume fest; in keinem Zulassungsbescheid ist die Berechtigung für andere Zeiträume abgelehnt worden, so daß der zweite Zulassungsbescheid nichts "zurückzunehmen" brauchte und tatsächlich den ersten Zulassungsbescheid auch in keiner Hinsicht zurückgenommen hat. Anknüpfungspunkt für die Rückwirkung der zweiten Beitragsnachentrichtung kann daher nur das eine Auskunft darstellende "informatorische" Schreiben der Beklagten vom 25. August 1978 sein.

In diesem Schreiben hat die Beklagte dem Kläger alle Zeiträume nennen wollen, die für eine Nachentrichtung nach dem WGSVG in Betracht kommen. Zu ihnen hat sie zu Unrecht nicht die Zeiten gerechnet, die Beschäftigungszeiten iS des § 16 FRG sind; denn auch für sie durfte der Kläger Beiträge nach § 10 WGSVG nachentrichten. Das hat der 12. Senat des BSG im Urteil vom 14. Mai 1981 (SozR 5070 § 10 Nr 16) entschieden; der erkennende Senat hält dieses Urteil, dem die Beklagte folgt, im Gegensatz zum SG für überzeugend und schließt sich ihm an. Damit hat die Beklagte den Kläger davon abgehalten, schon bei der ersten Beitragsnachentrichtung im Oktober/November 1978 ebenfalls Beiträge für die Beschäftigungszeiten nachzuentrichten. Das ist unter den Beteiligten nicht streitig und liegt auf der Hand, weil der zusätzliche Betrag von nur 758,50 DM dem Kläger den deutlichen Vorteil der ungekürzten Auslandsrente verschaffte. Hätte der Kläger die im Februar 1982 für die Beschäftigungszeiten nachentrichteten Beiträge ebenfalls schon im Oktober/November 1978 entrichtet, so hätte die Beklagte diese Beiträge nicht anders behandelt als die seinerzeit nachentrichteten; sie ist daher nach Treu und Glauben gehalten, sie auch hinsichtlich des Beginns der durch sie erhöhten Rente ebenso zu berücksichtigen.

Dem kann die Beklagte nicht entgegenhalten, daß das Urteil des 12. Senats des BSG erst lange nach der Auskunft vom 25. August 1978 ergangen ist und daß ihre damalige Auffassung zur Nachentrichtung für Beschäftigungszeiten durchaus vertretbar war. Denn bei der Beurteilung, ob die nachentrichteten Beiträge nach Treu und Glauben als früher entrichtet gelten müssen, kommt es hierauf nicht an; entscheidend ist dafür nur, daß die von der früheren Entrichtung abhaltende Auskunft objektiv unrichtig war.

Da sonach die im Februar 1982 nachentrichteten Beiträge hier ebenfalls als vor November 1978 entrichtet gelten müssen, ist der vom Kläger geltend gemachte Anspruch auf Zahlung der erhöhten Rente ab dem 1. Januar 1977 berechtigt. Es kann daher dahingestellt bleiben, ob bei anderer Betrachtungsweise der Kläger dasselbe Ergebnis schließlich auch mit Hilfe des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs erreichen könnte, der bei - wie hier - ohne Vorbehalt erteilten unrichtigen Auskünften ebenfalls kein Verschulden des Versicherungsträgers voraussetzt (BSGE 49, 76, 78).

Da der Kläger das Klagebegehren in der Revision auf die Zeit ab dem 1. Januar 1977 beschränkt hat, braucht der Senat nicht darüber zu entscheiden, ob § 44 Abs 4 SGB X in der Einschränkung rückwirkender Leistungen einen allgemeinen Grundgedanken ausdrückt, der auch in anderen Fällen, wie etwa dem hier gegebenen, rückwirkende Leistungen über die dortige Zeitgrenze hinaus ausschließt.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1661428

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Deutsches Anwalt Office Premium. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge