Entscheidungsstichwort (Thema)

Beitragsnachentrichtung. Leistungsbeginn. Treu und Glauben

 

Orientierungssatz

Einer Beitragsentrichtung gemäß § 10 WGSVG ist schon dann nach Treu und Glauben eine Rückwirkung (Art 4 § 2 Abs 2 WGSVGÄndG) beizumessen, wenn den Versicherten an der späten Entrichtung kein oder kein erhebliches Verschulden trifft, vor allem wenn der Versicherungsträger zu Unrecht das Recht zur Entrichtung bestritten und den Versicherten so von einer früheren Beitragsentrichtung abgehalten hat (Festhaltung an BSG vom 28.8.1984 11 RA 50/83 = SozR 5075 Art 4 § 2 Nr 2).

 

Normenkette

WGSVG § 10; WGSVGÄndG Art 4 § 2 Abs 2 Fassung: 1970-12-22; BGB § 242 Fassung: 1896-08-18

 

Verfahrensgang

LSG Berlin (Urteil vom 20.01.1984; Aktenzeichen L 1 An 73/83)

SG Berlin (Entscheidung vom 13.05.1983; Aktenzeichen S 16 An 2612/82)

 

Tatbestand

Streitig ist der Rentenbeginn aus Beiträgen, die für Beschäftigungszeiten im Sinne des § 16 des Fremdrentengesetzes (FRG) nach § 10 des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG) nachentrichtet worden sind.

Die zum Personenkreis der rassisch Verfolgten gehörende, in Israel lebende Klägerin beantragte im November 1975 die Zulassung der Nachentrichtung von Beiträgen und die Gewährung von Altersruhegeld. Die Beklagte bezeichnete in einem Schreiben vom 14. September 1977 die Zeiträume, für die eine Beitragsnachentrichtung in Betracht komme, und zwar ohne Anführung der von ihr anerkannten Beschäftigungszeiten nach § 16 FRG.

Die Beklagte bewilligte nach einer Nachentrichtung von 71 Beiträgen flexibles Altersruhegeld für die Zeit ab Dezember 1975, das unter Anerkennung einer weiteren Ersatzzeit mit Bescheid vom 14. März 1979 neu festgestellt wurde, wobei die der Klägerin zu zahlende Auslandsrente 73,93 % der Inlandsrente betrug. Aufgrund des Urteils des Bundessozialgerichts (BSG) vom 14. Mai 1981 - 12 RK 73/79 - beantragte die Klägerin im November 1981 die Zulassung der Nachentrichtung für die Beschäftigungszeiten (57 Kalendermonate). Die Beklagte ließ die Nachentrichtung zu und stellte das flexible Altersruhegeld für die Zeit ab 1. Dezember 1981 unter Berücksichtigung der im März 1982 nachentrichteten Beiträge neu fest (Bescheid vom 12. Mai 1982; Widerspruchsbescheid vom 10. November 1982).

Die hiergegen auf Zahlung der erhöhten Rente schon ab Dezember 1975 erhobene Klage hatte nur hinsichtlich der Zeit ab 1. Januar 1977 Erfolg (Urteil des Sozialgerichts -SG- vom 13. Mai 1983). Die Berufung der Beklagten blieb erfolglos (Urteil des Landessozialgerichts -LSG- vom 20. Januar 1984). Das LSG hat die Verurteilung der Beklagten aufgrund des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs als gerechtfertigt angesehen. Die von der Beklagten mit Schreiben vom 14. September 1977 erteilte Auskunft sei objektiv unrichtig gewesen. Durch diese falsche Auskunft sei der Klägerin ein Schaden entstanden. Sie habe dadurch versäumt, bei der Konkretisierung des Nachentrichtungsantrags auch Beiträge für Beschäftigungszeiten nach § 16 FRG anzubieten. Der Herstellungsanspruch gehe somit auf die Zulassung der Nachentrichtung von Beiträgen für die Beschäftigungszeiten, wobei die Klägerin grundsätzlich so zu stellen sei, als ob sie auch insoweit den Nachentrichtungsantrag im November 1975 gestellt hätte. Das erhöhte Altersruhegeld stehe daher schon für die Zeit vor dem 1. Dezember 1981 zu. In entsprechender Anwendung des § 44 Abs 4 des Zehnten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB X) auf den Herstellungsanspruch habe das SG den Rentenbeginn zu Recht auf den 1. Januar 1977 festgestellt.

Mit der vom LSG zugelassenen Revision hat die Beklagte zunächst Verletzung der von der Rechtsprechung zum Herstellungsanspruch entwickelten Grundsätze gerügt und insoweit ausgeführt, daß die unterlassene Beratung der Klägerin über die Nachentrichtungsmöglichkeit für Beschäftigungszeiten unter Berücksichtigung des damaligen Meinungsstandes nicht pflichtwidrig gewesen sei und deshalb keinen Herstellungsanspruch auslösen könne. Im Hinblick auf die Urteile des BSG vom 28. August 1984 - 11 RA 50/83 - und vom 15. Mai 1984 - 12 RK 26/83 - hat sie innerhalb der Revisionsbegründungsfrist die Verletzung der ihr obliegenden Beratungspflicht eingeräumt und nunmehr geltend gemacht, da die Klägerin den ihr im unvollständigen Informationsschreiben eingeräumten Belegungszeitraum von 369 Kalendermonaten nur teilweise genutzt habe, könne nicht unterstellt werden, daß sie bei richtiger Belehrung die anerkannten Beschäftigungszeiten mit Beiträgen belegt hätte. Insoweit hat sie eine Verletzung der Aufklärungspflicht nach § 103 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) gerügt.

Die Beklagte beantragt, die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt, die Revision der Beklagten zurückzuweisen.

Die Beteiligten haben einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung zugestimmt.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist zurückzuweisen.

Die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Neufeststellungsbescheides vom 12. Mai 1982 beurteilt sich nicht nach Vorschriften des SGB X (§§ 44, 48), sondern nach Art 4 § 2 des Gesetzes zur Änderung und Ergänzung der Vorschriften über die Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung vom 22. Dezember 1970 (WGSVÄndG). Nach dessen Abs 1 ist auf Antrag eine Rente neu festzustellen, wenn durch das WGSVG - hier aufgrund einer Nachentrichtung nach § 10 WGSVG - ein Anspruch auf eine höhere Rente begründet wird; nach Abs 2 ist die höhere Rente ua in den Fällen des § 10 WGSVG frühestens vom Ersten des Monats zu zahlen, der auf die Beitragsnachentrichtung folgt (aber nicht vor Inkrafttreten des WGSVG). Insoweit ist jedoch einer Beitragsentrichtung schon nach Treu und Glauben dann eine Rückwirkung beizumessen, wenn den Versicherten an der späten Entrichtung kein oder kein erhebliches Verschulden trifft, vor allem wenn der Versicherungsträger zu Unrecht das Recht zur Entrichtung bestritten und den Versicherten so von einer früheren Beitragsentrichtung abgehalten hat, wie der erkennende Senat unter Hinweis auf frühere Rechtsprechung im Urteil vom 28. August 1984 - 11 RA 50/83 - (SozR 5075 Art 4 § 2 Nr 2) entschieden hat, so daß sich eine Anwendung des Herstellungsanspruchs erübrigt. Hieran hält der Senat auch trotz der von Hötzel (DAngVers 1985, 204, 207) dagegen erhobenen Einwände fest. Anhaltspunkte für ein Verschulden der Klägerin sind nicht ersichtlich. Daß die Beratung über die Nachentrichtungsmöglichkeit im Schreiben vom 14. September 1977 objektiv unrichtig war, wird von der Beklagten nicht mehr in Abrede gestellt (vgl hierzu die Urteile des 12. Senats vom 15. Mai 1984 -12 RK 26/83- und -12 RK 9/83-). Darauf, ob von der Beklagten damals, vor Erlaß der einschlägigen Urteile des Bundessozialgerichts, schon eine zutreffende Beratung zu erwarten war, könnte es nur ankommen, wenn eine unrichtige Beratung unterblieben wäre und der Beklagten nur die Unterlassung einer richtigen Beratung anzulasten wäre.

Inwieweit die Anwendung der Grundsätze von Treu und Glauben in derartigen Fällen eine Kausalität zwischen der unterbliebenen Beitragsentrichtung und der unrichtigen Beratung voraussetzt, bedarf hier keiner Entscheidung. Denn die Klägerin hätte nach den Feststellungen des LSG bei richtiger Beratung die später tatsächlich aufgrund der Bereiterklärung vom 9. November 1981 für die Beschäftigungszeiten nachentrichteten Beiträge schon im Rahmen der ersten Nachentrichtung bewirkt. Das LSG hat entgegen der Auffassung der Beklagten zum Herstellungsanspruch einen ursächlichen Zusammenhang zwischen der fehlerhaften Beratung und dem Schaden bejaht. Dabei hat es auf das hypothetische Verhalten eines "verständigen Versicherten" abgestellt; es komme deshalb darauf an, ob bei einer richtigen Bearbeitung durch die Beklagte jeder verständige Versicherte in sachgemäßer Wahrung seiner Interessen bei der Konkretisierung den Nachentrichtungsantrag auch auf die Nachentrichtung von Beiträgen für Beschäftigungszeiten gemäß § 16 FRG ausgedehnt hätte; das müsse hier bejaht werden; da die Klägerin in Israel lebe, könne ihre Rente aus den angerechneten Beschäftigungszeiten gemäß § 16 FRG nicht gezahlt werden. Das ist als Feststellung einer hypothetischen Tatsache zu verstehen, wobei das LSG im Rahmen der Beweiswürdigung davon ausging, daß die Klägerin wie ein verständiger Versicherter reagiert haben würde.

Die Beklagte rügt zu Unrecht, die Argumentation des LSG zum Ursachenzusammenhang beschränke sich auf den Satz, daß jeder Versicherte, der Beitragslücken nicht oder nicht vollständig belege, in Auslandsfällen Beiträge für FRG-Beschäftigungszeiten nachentrichtet hätte; die vom LSG angenommenen Überlegungen eines verständigen Versicherten zur Auswirkung der Beitragsnachentrichtung für Beschäftigungszeiten auf die Höhe der Auslandsrente seien nur teilweise zutreffend. Die Beklagte verkennt dabei, daß das LSG nur speziell für den Fall der Klägerin festgestellt hat, daß eine Nachentrichtung für Beschäftigungszeiten günstiger war als eine Nachentrichtung für andere offene Zeiträume, und daß in einem solchen Falle jeder verständige Versicherte die Nachentrichtung auf Beschäftigungszeiten ausgedehnt hätte (vgl dazu Hötzel, aa0 S 206; nach seinen Darlegungen ist die Nachentrichtung für die Beschäftigungszeiten "meistens günstiger" gewesen). Die Einwendungen der Beklagten richten sich im Kern gegen die Beweiswürdigung des LSG, das der späteren tatsächlichen Beitragsentrichtung für die Beschäftigungszeiten einen höheren Beweiswert für eine hypothetische frühere Entrichtung bei richtiger Beratung beigemessen hat als der dagegen sprechenden Tatsache, daß die Klägerin die ihr hinsichtlich der übrigen Zeiten eingeräumte Nachentrichtungsmöglichkeit nur teilweise genutzt hatte. Soweit die Beklagte rügt, das LSG habe den Ursachenzusammenhang unter Verletzung des § 103 SGG festgestellt, fehlt schon die Darlegung, welche Aufklärungsmaßnahme sich dem LSG hätte aufdrängen müssen. Im übrigen hatte die Klägerin schon in ihrer Widerspruchsbegründung behauptet, wenn sie im September 1977 zutreffend informiert worden wäre, so hätte sie bereits damals nachentrichtet zusätzlich, wie dies später erfolgt sei (Bl 370 der Rentenakte). Die Beklagte ist dem niemals entgegengetreten. Unter diesen Umständen war das LSG weder zu einer näheren Begründung der getroffenen Feststellung noch zu weiteren Ermittlungsmaßnahmen verpflichtet.

Hiernach braucht nicht mehr erörtert zu werden, ob die Beklagte einen Ursachenzusammenhang zwischen der unvollständigen Auskunft und dem früheren Unterlassen der Nachentrichtung nicht schon bei der auf der Grundlage eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruches beruhenden nachträglichen Zulassung der Nachentrichtung für die Beschäftigungszeiten prüfen mußte oder sogar geprüft hat (Hötzel aa0 S 206, linke Spalte); in diesem Falle würde die nunmehrige Berufung auf den fehlenden Zusammenhang erst recht einen Verstoß gegen Treu und Glauben bedeuten.

Die Revision der Beklagten war daher mit der Kostenfolge aus § 193 SGG zurückzuweisen.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1661180

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