Entscheidungsstichwort (Thema)

Behindertenbegriff. Rechtsänderung nach der letzten mündlichen Verhandlung im Berufungsverfahren und vor Einlegung der Revision. Salmonellendauerausscheider. Grenzen tatrichterlicher Überzeugungsbildung

 

Leitsatz (amtlich)

Eine Behinderung iS des Schwerbehindertengesetzes liegt selbst dann vor, wenn die zu Einschränkungen der Mobilität auf dem Arbeitsmarkt und/oder der Bewegungsfreiheit in der Gesellschaft führende körperliche, geistige oder seelische Regelwidrigkeit an sich nur geringfügig ist.

 

Orientierungssatz

1. Durch § 2a Abs 1 SchwbGÄndG 1 vom 24.7.1986, nunmehr § 3 Abs 1 SchwbG idF der Bekanntmachung vom 26.8.1986, ist erstmals dargelegt worden, was unter "Behinderung" zu verstehen ist. Obwohl das genannte Änderungsgesetz erst am 1.8.1986 und somit erst nach der letzten mündlichen Verhandlung im Berufungsverfahren und vor Einlegung der Revision in Kraft getreten ist, ist von dieser gesetzlichen Begriffsbestimmung auszugehen, denn bei Verpflichtungsklagen - wie hier - ist die Rechtsentwicklung im Laufe des gerichtlichen Verfahrens zu beachten.

2. Eine Salmonellendauerausscheidung ist eine Behinderung iS des § 3 Abs 1 SchwbG. Die von dieser Erkrankung für andere Personen ausgehende Ansteckungsgefahr führt zu einer konkreten Einschränkung sowohl der Mobilität auf dem Arbeitsmarkt wie auch der Bewegungsfreiheit in der Gesellschaft.

3. Das Berufungsgericht hat die Grenzen tatrichterlicher Überzeugungsbildung nicht überschritten, wenn es von der Schätzung der in erster bzw in zweiter Instanz gehörten Sachverständigen abgewichen ist, die die Salmonellendauerausscheidung mit einer MdE um 10 vH bewertet hatten, und bei der Feststellung der Gesamt-MdE von einem höheren Einzelwert ausgegangen ist, wie dies ein weiterer im Berufungsverfahren nach zahlreichen Ermittlungen gehörter Sachverständiger, der als Gesundheitsarzt in einer Großstadt mit der Seuchenbekämpfung maßgeblich befaßt ist, befürwortet hat.

 

Normenkette

SchwbG § 3 Abs 1 Fassung: 1986-08-26, § 4 Abs 3 Fassung: 1986-08-26; BSeuchG § 17 Abs 1 Nr 3; SGG § 128 Abs 1 S 1

 

Verfahrensgang

LSG Hamburg (Entscheidung vom 30.10.1985; Aktenzeichen IV VSBf 4/83)

SG Hamburg (Entscheidung vom 04.01.1983; Aktenzeichen 32 Vs 331/82)

 

Tatbestand

Streitig ist die Anerkennung einer Salmonellendauerausscheidung als Behinderung im Sinne des Schwerbehindertengesetzes (SchwbG) sowie die Schwerbehinderteneigenschaft.

Der 1945 geborene Kläger erkrankte im Alter von acht Jahren an Paratyphus. Als dessen Folge verblieb eine Salmonellendauerausscheidung durch Urin und Stuhl. Das Versorgungsamt stellte an Behinderungen mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 30 vH fest:

1) Postthrombotisches Syndrom im linken Bein, 2) recidivierendes HWS- und LWS-Syndrom.

Die Versorgungsbehörde erkannte die Salmonellendauerausscheidung nicht als Behinderung an.

Das Sozialgericht (SG) hat die Salmonellendauerausscheidung als Behinderung angesehen und die Gesamt-MdE mit 40 vH bewertet. Das Landessozialgericht (LSG) hat unter Berücksichtigung einer Einzel-MdE von 30 vH für die Behinderung "Salmonellendauerausscheidung" die Schwerbehinderteneigenschaft des Klägers mit 50 vH festgestellt. Der Ansicht des Beklagten, Gesundheitsstörungen seien nur dann Behinderungen im Sinne des SchwbG, wenn sie unmittelbar eine Funktionsstörung zur Folge hätten, könne nicht gefolgt werden. In den Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem SchwbG - 1983 - (Anhaltspunkte 1983) seien Gesundheitsstörungen als Behinderungen vermerkt, die - wie beispielsweise die Gesichtsentstellung - nicht mit einer Funktionsstörung einhergingen. Dieser Begriff sei vielmehr im Zusammenhang mit demjenigen der MdE zu sehen. Nach den Anhaltspunkten 1983 sei dies das Maß der Auswirkung eines Mangels an funktioneller Intaktheit, dh eines Mangels an körperlichem, geistigem und seelischem Vermögen, bezogen auf alle Lebensbereiche. Die Salmonellendauerausscheidung stelle einen regelwidrigen Körperzustand und damit einen Mangel an Intaktheit dar. Die Auswirkung der Behinderung erstrecke sich auf alle Lebensbereiche. Im Erwerbsleben könne sie nach dem Bundessozialgericht (BSG) zur Berufsunfähigkeit führen; im privaten Bereich ergebe sich eine erhebliche Einschränkung durch die Auflagen, die Ausscheider von Bakterien, beispielsweise nach dem Merkblatt des Bundesgesundheitsamtes für Ausscheider von Salmonellen (Merkblatt Nr 12, herausgegeben vom Bundesgesundheitsamt) zu beachten hätten. Das für die MdE-Bewertung entscheidende Ausmaß der Behinderung richte sich nach dem Ausmaß dieser objektiven Einschränkungen und der bei Offenbarung der Erkrankung zu erwarteten konkreten Einschränkungen am Arbeitsplatz. Der besonderen Schutzwürdigkeit des Klägers im Hinblick auf die nachteiligen Reaktionen der Umwelt werde eine MdE von 30 vH für die fragliche Gesundheitsstörung gerecht. Diese MdE-Einschätzung könne dem Kläger über die Gleichstellung nach § 2 SchwbG den Erhalt des Arbeitsplatzes sichern.

Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision rügt der Beklagte eine Verletzung materiellen Rechts. § 3 Abs 1 und Abs 3 SchwbG rechtfertige es nicht, eine Gesundheitsstörung als Behinderung anzuerkennen, die keine Funktions- oder Leistungseinbuße zur Folge habe. Eine Behinderung sei nicht schon dann gegeben, wenn die Gesundheitsstörung als Krankheit im Sinne der Reichsversicherungsordnung (RVO) zu gelten habe oder mit einer Minderung der Lebensqualität durch Einschränkungen im Berufsleben oder häuslichen Bereich einherginge. Ein Vergleich mit einer Gesichtsentstellung verbiete sich deshalb, weil diese die Funktion des Gesichts beeinträchtige und daher als eine körperliche Versehrtheit, dh eine beeinträchtigte körperliche Intaktheit, anzusehen sei. Selbst wenn die Salmonellendauerausscheidung als Behinderung im Sinne des SchwbG anzuerkennen wäre, ließe sich eine höhere MdE als 10 vH - wie von einem Sachverständigen in der ersten Instanz geschätzt - nicht begründen. Die vom LSG angenommene MdE von 30 vH sei nicht zu rechtfertigen. Eine solche setze nach dem in den Anhaltspunkten vorgegebenen Bewertungsrahmen eine - hier nicht gegebene - gravierende körperliche Beeinträchtigung voraus.

Der Beklagte beantragt, die Urteile des Landessozialgerichts und Sozialgerichts aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt, die Revision des Beklagten zurückzuweisen.

Der Kläger hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Beklagten ist unbegründet. Nach der zutreffenden Beurteilung der Vorinstanzen ist die Salmonellendauerausscheidung eine Behinderung im Sinne des SchwbG. Der Kläger ist auch Schwerbehinderter (§ 1 SchwbG), wie vom LSG rechtsfehlerfrei festgestellt.

Das Gesetz zur Sicherung der Eingliederung Schwerbehinderter in Arbeit, Beruf und Gesellschaft vom 24. April 1974 (BGBl I 1981) in der hier maßgeblichen Fassung der Bekanntmachung vom 8. Oktober 1979 (BGBl I 1649) enthielt keine Bestimmung des Begriffs "Behinderung". Eine Begriffsbestimmung fehlte auch in den anderen Gesetzen, die an die Behinderung anknüpfen (ua §§ 10, 20 und 29 Sozialgesetzbuch - Allgemeiner Teil - SGB 1; § 1 Abs 1, § 2 Abs 1 Rehabilitationsangleichungsgesetz -RehaAnglG-; § 1 Sozialversicherungs-Behindertengesetz; § 205 Abs 2, §§ 1230, 1237 Abs 1 RVO; § 14b Abs 1 Angestelltenversicherungsgesetz; § 2 Abs 2 S 1 Nr 3 Bundeskindergeldgesetz; § 39 Bundessozialhilfegesetz). Erstmals § 2a Abs 1 des Ersten Gesetzes zur Änderung des Schwerbehindertengesetzes vom 24. Juli 1986 (BGBl I 1110), nunmehr § 3 Abs 1 idF der Bekanntmachung vom 26. August 1986 (BGBl I 1421, ber. 1550), sagt, was unter Behinderung zu verstehen ist. Danach ist sie die Auswirkung einer nicht nur vorübergehenden Funktionsbeeinträchtigung, die auf einem regelwidrigen körperlichen, geistigen oder seelischen Zustand beruht. Regelwidrig ist der Zustand, der von dem für das Lebensalter typischen abweicht.

Obwohl das genannte Änderungsgesetz erst am 1. August 1986 und somit erst nach der letzten mündlichen Verhandlung im Berufungsverfahren und vor Einlegung der Revision in Kraft getreten (Art 10 des Gesetzes) ist, ist von dieser Verpflichtungsklagen - wie hier - ist die Rechtsentwicklung im Laufe des gerichtlichen Verfahrens zu beachten. Abgesehen davon sollte mit der genannten Vorschrift eine an der Rechtsprechung des BSG orientierte Klarstellung in dem Sinne erreicht werden, wie schon bisher der Begriff der Behinderung zu verstehen war (BSGE 58, 243, 246 = SozR 1500 § 51 Nr 38).

Nach dieser Definition versteht man unter Behinderung nicht den regelwidrigen körperlichen, geistigen oder seelischen Zustand als solchen. Vielmehr ist mit diesem Begriff die Auswirkung von Funktionsstörungen erfaßt, die durch einen regelwidrigen Körper-, Geistes- oder Seelenzustand verursacht wurden. Demgegenüber stellt der Beklagte allein auf die körperliche Regelwidrigkeit selbst ab, die die Salmonellendauerausscheidung darstellt. Er meint, abgesehen davon, daß bei der Salmonellendauerausscheidung Bakterien über den Stuhl und/oder Urin ausgeschieden würden, seien keine weiteren Normabweichungen feststellbar; die fragliche Gesundheitsstörung führe nicht zu einer Schwächung des körperlichen Allgemeinzustandes und demgemäß auch nicht zu einer Funktions- bzw Leistungseinbuße. Der daraus gezogenen Schlußfolgerung des Beklagten, eine Behinderung liege demgemäß nicht vor, ist nicht beizupflichten. Ausgangspunkt für die Annahme einer Behinderung ist, wie vom LSG zutreffend erkannt, eine, wenn auch noch so geringe, körperliche Regelwidrigkeit. Eine solche liegt hier - unstreitig - vor. Ihr kommt nach Auffassung des 3. Senats des BSG sogar Krankheitswert zu (BSGE 33, 9, 10). Diese körperliche Regelwidrigkeit muß, damit sie als eine Behinderung im Sinne des SchwbG anerkannt werden kann, zu Beeinträchtigungen in Beruf und Gesellschaft führen. Dies ist mit der in § 3 Abs 1 SchwbG genannten Auswirkung der Funktionsbeeinträchtigung gemeint.

Entgegen der Meinung des Beklagten ist eine solche Funktionsbeeinträchtigung, die dem Begriffsmerkmal der Behinderung immanent ist, im Streitfall nicht zu verneinen. Sie erschließt sich aus dem Zweck des SchwbG, der aus der Gesetzesüberschrift "Eingliederung in Arbeit, Beruf und Gesellschaft" abzuleiten ist. Dieser auf Rehabilitation gerichteten Zielvorstellung wird das SchwbG in der Weise gerecht, daß es die globale Feststellung aller gesundheitlichen Erfordernisse ermöglicht, die geeignet sind, auf den genannten Gebieten Erleichterungen zu bewirken (BSGE 60, 11, 15 = SozR 3870 § 3 Nr 21). Das Sonderrecht für Schwerbehinderte hat die Aufgabe, die sozialen Benachteiligungen auszugleichen, denen Personen infolge eines Körperschadens in allen Bereichen des beruflichen und gesellschaftlichen Lebens ausgesetzt sind. Diese finale Funktion des SchwbG (BSG SozR 3870 § 3 Nr 4) ist zusätzlich in § 48 Abs 1 SchwbG normiert. Danach sind "die Vorschrift über Hilfen für Behinderte zum Ausgleich behinderungsbedingter Nachteile oder Mehraufwendungen (Nachteilsausgleich) so zu gestalten, daß sie der Art und Schwere der Behinderung Rechnung tragen." Nach der Konzeption des Gesetzes beziehen sich die funktionellen Auswirkungen eines regelwidrigen Zustands nicht nur auf das Erwerbsleben, sondern auch und gleichrangig auf den gesellschaftlichen Bereich (Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung 1986 S 558n; Brocke, Probleme der Behinderten im Rechtssystem der sozialen Sicherung in Schriftenreihe: "Sozialpolitik und Recht" Band 4, 1982 S 7 f; Runde, "Soziologie der Behinderten - Forschungsstand und Perspektiven", in: Chancengleichheit für Behinderte, herausgegeben von Peter Runde/Rolf G. Heinze, Hermann Luchterhand Verlag 1979 S 16 f). Darauf hat auch das Aktionsprogramm des Rates der Europäischen Gemeinschaft abgehoben, wenn als Ziel der Behindertenhilfe ua herausgestellt ist, daß "die Behinderten zur Führung eines normalen und unabhängigen Lebens zu befähigen und voll und ganz in der Gesellschaft zu integrieren sind" (Entschließung des Rats der Europäischen Gemeinschaft vom 27. Juni 1974 in: Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften, Nr C 80/30 f vom 9. Juli 1974; vgl dazu Kraus, Empfehlung und Entschließung des Europarats zur Rehabilitation der Behinderten und die Neuordnung des Behindertenrechts in der Bundesrepublik Deutschland in ZAS ÖST 1975, 43 f).

Die Salmonellendauerausscheidung läßt sich unschwer dem vorgenannten Behindertenbegriff unterordnen. Die von dieser Erkrankung für andere Personen ausgehende Ansteckungsgefahr führt zu einer konkreten Einschränkung sowohl der Mobilität auf dem Arbeitsmarkt wie auch der Bewegungsfreiheit in der Gesellschaft. Dies hat das Berufungsgericht gerade im Hinblick auf die nach dem Merkblatt des Bundesgesundheitsamtes für Ausscheider von Salmonellen dem Kläger gemachten Auflagen zutreffend und umfassend begründet. Infolge des regelwidrigen Körperzustandes ist dem Kläger ein Teil der Erwerbsmöglichkeiten, so etwa auf dem Nahrungsmittelsektor (Hinweis auf § 17 Abs 1 Nr 3 BSeuchG) verschlossen. Seine Lebensführung wird durch erhöhte hygienische Anforderungen am Arbeitsplatz, aber auch im häuslichen und gesellschaftlichen Bereich erheblich beeinträchtigt. Infolge der notwendigen besonderen Hygiene dürfte sich das Bekanntwerden der Erkrankung am Arbeitsplatz nicht vermeiden lassen. Aber auch außerhalb des Erwerbslebens wird die Umwelt dem Kläger gegenüber wegen der Ansteckungsgefahr ablehnend gegenüberstehen. Daß er aufgrund dessen zusätzlichen psychischen Belastungen ausgesetzt ist, läßt sich nach den wohlbegründeten Feststellungen des LSG nicht ernstlich in Zweifel ziehen. Im übrigen haben auch die Anhaltspunkte 1983 beispielsweise bezüglich der Lärmbehinderung darauf abgestellt, daß das Ausmaß der Behinderung durch die Umwelt mit allen Auswirkungen auf die sozialen Einwirkungsmöglichkeiten geprägt wird (S 45).

All dies hat das Berufungsgericht bei der Bewertung der vorhandenen Behinderungen mit einer Gesamt-MdE um 50 vH rechtsfehlerfrei berücksichtigt. Es hat nach einer natürlichen, wirklichkeitsorientierten und funktionalen Betrachtungsweise (Hinweis auf § 4 Abs 3 SchwbG; zum alten Recht vgl BSG SozR 3870 § 3 Nr 4) alle Behinderungsmomente in einer Gesamtschau unter Beachtung ihrer wechselseitigen Beziehungen eingeschätzt. Eine solche Bewertung bei mehreren vorhandenen Behinderungen war schon bisher nach § 3 Abs 3 SchwbG aF vorzunehmen (BSG SozR 3870 § 3 Nr 4) und ist in der Neufassung des § 4 Abs 3 SchwbG nunmehr gesetzlich vorgeschrieben. Das Berufungsgericht hat bedacht, daß die Würdigung aller Umstände nach freier Überzeugung vorzunehmen ist, wie sie dem Verfahren des § 287 Zivilprozeßordnung (ZPO) entspricht (BSG SozR 3870 § 3 Nr 5 mwN). Wenn es dabei von der Schätzung der in erster bzw in zweiter Instanz gehörten Sachverständigen abgewichen ist, die die Salmonellendauerausscheidung mit einer MdE um 10 vH bewertet hatten, und bei der Feststellung der Gesamt-MdE von einem höheren Einzelwert ausgegangen ist, wie dies ein weiterer im Berufungsverfahren nach zahlreichen Ermittlungen gehörter Sachverständiger, der als Gesundheitsarzt in einer Großstadt mit der Seuchenbekämpfung maßgeblich befaßt ist, befürwortet hat, läßt dies entgegen der Meinung des Beklagten nicht den Schluß zu, daß das LSG die gesetzlichen Grenzen seines Rechts zur freien Beweiswürdigung überschritten hat (BSGE 6, 267, 268). In dieser dem Tatrichter nach § 128 Abs 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) obliegenden Entscheidungsfindung vermag das Revisionsgericht nur einzugreifen, wenn die Grenzen tatrichterlicher Überzeugungsbildung überschritten, insbesondere für die Beurteilung wesentliche Kriterien unbeachtet geblieben sind (Urteil des erkennenden Senats SozR 3870 § 3 Nr 5 S 16), oder der Richter etwa gegen Erfahrungssätze des täglichen Lebens oder gegen Denkgesetze verstoßen hätte (BSGE 2, 236, 237). Das ist ersichtlich nicht der Fall.

Das Berufungsgericht hat sich bei der Bewertung der körperlichen Erschwernisse, die dem Kläger - wie ausgeführt - im arbeits-, berufs- und gesellschaftlichen Leben deutlich belasten, des zutreffenden Rechtsmaßstabs bedient. Es hat die zu § 30 Abs 1 letzter Satz Bundesversorgungsgesetz (BVG) für erhebliche äußere Körperschäden festgesetzten Mindest-Vom-Hundert-Sätze (vgl BSGE 29, 41, 42 = SozR Nr 35 zu § 30 BVG) und die davon abgeleiteten allgemeinen MdE-Sätze zugrunde gelegt. Es hat dabei vergleichsweise die Einschätzung der Gesichtsentstellung herangezogen, wie sie in den Anhaltspunkten 1983 enthalten ist. Diese in den Anhaltspunkten 1983 enthaltenen Richtwerte stellen allerdings nach dem Regelungszweck des BVG auf den Ausgleich von Schäden und damit auf das Erwerbsleben ab. Hingegen strebt das SchwbG die "Eingliederung Schwerbehinderter in Arbeit, Beruf und Gesellschaft" an, wie bereits ausgeführt. Ungeachtet dieser unterschiedlichen Zielrichtung hat der Gesetzgeber in § 3 Abs 1 Satz 2 SchwbG aF bzw nunmehr in § 3 Abs 3 SchwbG nF die Übernahme der MdE-Bemessung aus praktischen Gründen angeordnet (BSG 3870 § 1 Nr 4). Dieser Maßstab findet wegen des nach dem SchwbG umfassenderen Aufgabenbereichs "entsprechend" der Einstufung der Versehrtheit nach dem BVG Anwendung (BSG 48, 84 f = SozR 3870 § 3 Nr 4).

Die tatrichterliche Ermessensausübung ist im Streitfall dadurch erschwert, daß die Anhaltspunkte 1983 keine MdE-Sätze für die Salmonellendauerausscheidung enthalten. In Fällen dieser Art ist es zur Vermeidung sachfremder Erwägungen geboten, sich an allgemein gültigen Bewertungskriterien zu orientieren. Sie sind beispielsweise in den Anhaltspunkten 1983 verzeichnet, wie vom Berufungsgericht richtig erkannt (zur MdE-Schätzung im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung: BSGE 43, 53, 54 = SozR 2200 § 581 Nr 9). Das LSG hat bedacht, daß die Reaktion der Umwelt und die dadurch verursachten psychischen Belastungen bei der MdE-Bemessung ein nicht unerheblicher Stellenwert zuzubilligen ist. Davon gehen auch die Anhaltspunkte 1983 aus. Danach wirkt sich etwa die Ansteckungsfähigkeit einer tuberkulosen Erkrankung und die damit verbundene eingeschränkte Teilnahme am gesellschaftlichen Leben erhöhend auf den Grad der Behinderung aus (Anhaltspunkte 1983 S 65). Auch seelische Begleiterscheinungen, die nach dem entsprechend anwendbaren § 30 Abs 1 Satz 1 Halbsatz 2 BVG zu berücksichtigen sind, haben in den Anhaltspunkten 1983 Berücksichtigung gefunden. Dies gilt nicht nur etwa für die vom LSG vergleichsweise angeführte Gesichtsentstellung (Anhaltspunkte 1983 S 40), sondern auch für Erkrankungen im Afterbereich oder bei Erkrankungen der Harnorgane (Anhaltspunkte 1983 S 77 und 81). Hier ist gerade die Einschränkung der Gesellschaftsfähigkeit bzw die notwendige Beschränkung in der Lebensführung ein zu beachtendes Faktum bei der MdE-Bemessung. Das LSG hat sich unter Beachtung dieser Umstände nicht von sachfremden Erwägungen leiten lassen, wenn es bei der Gesamtschau in bezug auf die vorhandenen Behinderungen den Grad der Behinderung auf 50 vH festgestellt und damit dem Kläger die Schwerbehinderteneigenschaft (§ 1 SchwbG) zuerkannt hat.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

BSGE, 209

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