Entscheidungsstichwort (Thema)

Verbot der Schlechterstellung ("reformatio in peius") im Verfahren vor der Beschwerdekommission einer Kassenärztlichen Vereinigung

 

Leitsatz (amtlich)

Wird eine Honorarkürzung wegen unwirtschaftlicher Behandlungsweise nur von dem betroffenen Kassen- oder Vertragsarzt angefochten, so ist es dem Beschwerdeausschuß (der Beschwerdekommission) grundsätzlich verwehrt, den Gesamtbetrag der Kürzung zu erhöhen. Insoweit gilt im Widerspruchsverfahren das Verbot der "reformatio in peius".

 

Leitsatz (redaktionell)

Aus dem Grundsatz des Verbots der Schlechterstellung folgt jedoch nicht, daß es der Beschwerdekommission in jedem Falle verwehrt wäre, Kürzungen bei einzelnen Gebührenziffern (Leistungsarten) zu erhöhen oder erstmals festzusetzen. Zumindest dann, wenn die Prüfungskommission die Feststellung der Unwirtschaftlichkeit nicht auf bestimmte Leistungsarten oder -gruppen beschränkt, sondern die Unwirtschaftlichkeit der Behandlungsweise in ihrer Gesamtheit beanstandet hat, darf auch die Beschwerdekommission die gesamte Behandlungstätigkeit des Vertragsarztes in ihre Überprüfung einbeziehen. Sie ist in diesem Falle auch berechtigt, Kürzungen bei einzelnen Gebührenziffern im Rahmen ihres pflichtgemäßen Ermessens anders vorzunehmen als die Prüfungskommission. Sie ist lediglich gehalten, bei der Entscheidung über einen nur vom Vertragsarzt eingelegten Widerspruch den von der Prüfungskommission für ein Abrechnungsquartal festgesetzten Gesamtbetrag der Kürzungen nicht zu überschreiten.

 

Normenkette

RVO § 368n Abs. 4 Fassung: 1955-08-17, Abs. 5 Fassung: 1976-12-28; SGG § 77 Fassung: 1953-09-03, § 85 Fassung: 1953-09-03; SGB 10 § 39 Fassung: 1980-08-18, § 49 Fassung: 1980-08-18; BMV-Ä § 22 Fassung: 1959-10-01; EKV-Ä § 15 Nr. 6 Fassung: 1963-07-20

 

Verfahrensgang

LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 11.07.1979; Aktenzeichen L 10 Ka 1948/77)

SG Stuttgart (Entscheidung vom 31.08.1977; Aktenzeichen S 14b 4510/76)

 

Tatbestand

Umstritten sind Kürzungen des Ersatzkassenhonorars.

Der Kläger ist Facharzt für Urologie und als solcher an der vertragsärztlichen Versorgung der Ersatzkassen-Patienten beteiligt. Seine Abrechnungen für diese Tätigkeit in den Quartalen IV/1973 bis I/1975, IV/1975 und I/1976 wurden von der Prüfungskommission (PK) der beklagten Kassenärztlichen Vereinigung (KÄV) wegen unwirtschaftlicher Behandlungsweise gekürzt. Die Kürzungen bestanden zu einem Teil in einer prozentualen Herabsetzung des Ansatzes bei bestimmten Gebührenziffern (Leistungsarten), zum anderen Teil in einer prozentualen Umwandlung von in Ansatz gebrachten Gebührenziffern in Gebührenziffern für ähnliche ärztliche Leistungen mit niedrigerem Gebührenwert.

Den Kürzungsbescheiden, die auch dem beigeladenen Verband der Angestellten-Krankenkassen (VdAK) übersandt worden waren, widersprach jeweils nur der Kläger. Die PK half den Widersprüchen, die gegen die Kürzungen der Honorarforderungen für die Quartale IV/1975 und I/1976 gerichtet waren, teilweise ab. Hinsichtlich der übrigen Quartale setzte die Beschwerdekommission (BK) der Beklagten die Kürzungen neu fest (Beschluss vom 8. Dezember 1975, Mitteilung vom 18. Februar 1976). Bei einigen Gebührenziffern minderte die BK die Kürzung, bei anderen erhöhte sie sie und schließlich nahm sie bei weiteren Gebührenziffern erstmals Kürzungen bzw Umwandlungen vor. Auf diese Weise ergaben sich eine Erhöhung des Gesamtbetrages der Kürzungen für IV/1973 von DM 1.290,10 auf DM 1.985,10, für I/1974 von DM 4.266,55 auf DM 5.108,80 und für II/1974 von DM 3.669,25 auf DM 4.600,80 sowie eine Herabsetzung des Gesamtbetrages der Kürzungen für III/1974 von DM 4.273,80 auf DM 4.174,60, für IV/1974 von DM 5.893,65 auf DM 5.406,45 und für I/1975 von DM 4.093,40 auf DM 3.877,65. Das Sozialgericht (SG) hat den zur gemeinsamen Entscheidung verbundenen Klagen des Vertragsarztes nur teilweise entsprochen; es hat lediglich einige Einzelkürzungen (weiter) zurückgenommen.

Dagegen hat allein der Kläger Berufung eingelegt. Er hat den Antrag gestellt, ihm das von seinen Abrechnungen einbehaltene Resthonorar auszuzahlen, soweit sich die Kürzungen nicht auf die Gebührenziffern 65 und 590 bzw 590a E-Adgo beziehen. Die Beklagte und der Beigeladene haben die Zurückweisung der Berufung beantragt. Das Landessozialgericht (LSG) hat die zusätzlichen Einzelkürzungen und Umwandlungen der BK bezüglich der Quartale IV/1973 bis III/1974 und I/1975 - einschließlich der die Gebührenziffern 590a betreffenden Umwandlungen - aufgehoben, im übrigen aber die Berufung zurückgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt: Durch die zusätzlichen Kürzungen habe die BK gegen das Verbot der Schlechterstellung ("reformatio in peius") verstoßen. Dieses Verbot gelte grundsätzlich auch im Widerspruchsverfahren. Davon seien nur die Fälle ausgenommen, in denen ein Wiederaufnahmegrund des § 1744 der Reichsversicherungsordnung (RVO) vorliege oder ein beteiligter Dritter ebenfalls Widerspruch eingelegt habe. Da es sich hier nicht um einen dieser Fälle handele, seien die zusätzlichen Kürzungen der BK rechtswidrig. Das Verbot der Schlechterstellung beschränke sich nicht auf den Gesamtbetrag der Kürzungen, es sei vielmehr auf die Kürzungen bzw Umwandlungen der konkreten Gebührenziffern abzustellen. Bei diesen handele es sich nicht lediglich um Rechnungsposten, die - wie jede Begründung - auswechselbar seien. Die PK habe die Unwirtschaftlichkeit der Behandlungsweise in Bezug auf die konkret bezeichneten Leistungen festgestellt. Nur diese Kürzungen seien Gegenstand des Widerspruchsverfahrens vor der BK gewesen. Wollte man eine "reformatio in peius" erst bei einem Überschreiten des Gesamtbetrages der Kürzungen annehmen, so würde dies dazu führen, daß im Widerspruchsverfahren und möglicherweise noch im anschließenden sozialgerichtlichen Verfahren die gesamte Quartalsabrechnung nochmals überprüft werden könnte und müßte, falls sich die ursprüngliche Kürzung als unberechtigt herausstellen sollte. Hinsichtlich der sonstigen Kürzungen habe das SG zutreffend entschieden.

Gegen das Berufungsurteil wendet sich nur der Beigeladene. Mit der vom Senat zugelassenen Revision rügt er eine Verletzung des § 85 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG), des § 15 des Arzt/Ersatzkassen-Vertrages (EKV) und vor allem des diesen Vorschriften zu entnehmenden Grundsatzes der Zulässigkeit der "reformatio in peius" im Verfahren vor der BK. Er macht geltend: Er sei an den Widerspruchsverfahren als Dritter beteiligt gewesen, so daß schon deshalb die BK die angefochtenen Bescheide der PK zum Nachteil des Klägers habe ändern dürfen. Dem stehe nicht entgegen, daß er selbst keinen Widerspruch (mit umgekehrter Zielrichtung) eingelegt habe. Nach § 12 Ziff 6 EKV werde die Forderung des Vertragsarztes erst nach Durchführung der Prüfung fällig. Wie sich aus den §§ 14 bis 16 EKV ergebe, sei der BK nicht nur die Funktion einer Rechtskontrollinstanz zugewiesen. Die nach dem Vertrag vorgesehene Überprüfung der Wirtschaftlichkeit sei vielmehr erst mit der Entscheidung der BK abgeschlossen. Gemäß Beschluß der Arbeitsgemeinschaft nach § 19 EKV sei vor der BK das gesamte Verfahren, so wie in erster Instanz durchgeführt, zu wiederholen. Es komme dabei nicht darauf an, von welcher Seite - vom Arzt oder VdAK - der Widerspruch eingelegt worden sei.

Der Beigeladene beantragt, das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 11. Juli 1979 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 31. August 1977 zurückzuweisen.

Der Kläger und die Beklagte stellen keine Anträge.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Beigeladenen ist teilweise begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Berufungsurteils und zur Zurückverweisung an die Vorinstanz, soweit die von der BK der Beklagten vorgenommenen zusätzlichen Kürzungen der Honorarforderungen des Klägers für die Quartale IV/1973, III/1974 und I/1975 aufgehoben worden sind. Hinsichtlich der im gleichen Sinne geänderten Honorarkürzungen bezüglich der übrigen noch streitbefangenen Quartale I/1974 und II/1974 hat die Revision keinen Erfolg. Soweit das LSG die Berufung des Klägers zurückgewiesen hat, ist seine Entscheidung unangefochten geblieben und damit rechtskräftig geworden.

Das LSG ist bei seiner die Honorarkürzungen abändernden Entscheidung zwar zutreffend davon ausgegangen, daß das Verbot der Schlechterstellung ("reformatio in peius") grundsätzlich auch im Verfahren vor der BK der KÄV gilt. Daraus folgt jedoch nicht - wie das LSG meint -, daß es der BK in jedem Falle verwehrt wäre, Kürzungen bei den einzelnen Gebührenziffern (Leistungsarten) zu erhöhen oder erstmals festzusetzen. Zumindest dann, wenn die PK, wie im vorliegenden Fall, die Feststellung der Unwirtschaftlichkeit nicht auf bestimmte Leistungsarten oder Leistungsgruppen beschränkt hat, darf auch die BK die gesamte Behandlungstätigkeit des Vertragsarztes in ihre Überprüfung einbeziehen. Sie ist in diesem Falle auch berechtigt, Kürzungen bei den einzelnen Gebührenziffern - soweit die rechtlichen Voraussetzungen hierfür gegeben sind - im Rahmen ihres pflichtgemäßen Ermessens anders vorzunehmen als die PK. Sie ist lediglich gehalten, bei der Entscheidung über einen nur vom Vertragsarzt eingelegten Widerspruch den von der PK für ein Abrechnungsquartal festgesetzten Gesamtbetrag der Kürzungen nicht zu überschreiten. Bei den Abrechnungen für die Quartale IV/1973, III/1974 und I/1975 hat das LSG mit der Aufhebung aller zusätzlichen Einzelkürzungen der BK auch den Gesamtbetrag der Kürzungen der PK (weiter) herabgesetzt. Diese Entscheidung läßt sich mit dem Verbot der "reformatio in peius" nicht rechtfertigen. Bei den Abrechnungen für die Quartale I/1974 und II/1974 hat das LSG mit der Aufhebung der zusätzlichen Einzelkürzungen der BK nur die den Gesamtbetrag der Kürzungen der PK übersteigenden Honorarkürzungen zurückgenommen. Diese Entscheidung ist nicht zu beanstanden. Die vom SG vorgenommene Minderung der Kürzungen ist nicht Gegenstand der Berufungsentscheidung gewesen, denn sie ist weder von der Beklagten noch vom Beigeladenen angefochten worden.

Das Verfahren vor der BK der KÄV ist ein Vorverfahren - Widerspruchsverfahren - iS des SGG (§ 15 Nr 7 EKV; hinsichtlich des Verfahrens vor dem für den kassenärztlichen Bereich zuständigen Beschwerdeausschuß vgl § 368n Abs 5 Satz 7 RVO). Die im SGG und auch in der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) nicht geregelte Frage, ob im Vorverfahren eine Änderung der angefochtenen Verwaltungsentscheidung zum Nachteil des den Rechtsbehelf einlegenden Verfahrensbeteiligten - eine "reformatio in peius" - zulässig ist, wird in Rechtsprechung und Schrifttum unterschiedlich beantwortet. Das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) hat von der grundsätzlichen Zulässigkeit gesprochen, weil während des Rechtsbehelfsverfahrens die Beteiligten ihr Verhalten auf die Unbeständigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes einrichten könnten und deshalb einen geringeren Schutz verdienten (BVerwGE 14, 175, 178 ff; 30, 132, 133 f; 49, 244, 250; Buchholz 424.01 Nr 4 zu § 60). Es hat aber auch auf die Begrenzung der Zulässigkeit einer "reformatio in peius" durch den Kernbestand der Grundsätze des Vertrauensschutzes und von Treu und Glauben hingewiesen (BVerwGE 51,310, 313 ff; 30, 132, 134; einschränkend insoweit aber BVerwGE 14, 175, 179; 21, 142, 145; 31, 67, 69). Vor allem der Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes und die besondere Bedeutung der Rechtssicherheit im Sozialrecht sind für das Bundessozialgericht (BSG) und den überwiegenden Teil des sozialversicherungsrechtlichen Schrifttums bestimmend gewesen, ein grundsätzliches Verbot der "reformatio in peius" nicht nur für das sozialgerichtliche Verfahren, sondern bereits für das vorgeschaltete Widerspruchsverfahren anzunehmen (vgl Schroeder-Printzen, Die Sozialgerichtsbarkeit, 1966, 391 ff mwH; BSGE 13, 86, 88; SozR Nr 44 zu § 77 SGG). Im Steuerrecht ist für das Einspruchsverfahren ausdrücklich gesetzlich bestimmt, daß der Verwaltungsakt auch zum Nachteil dessen, der den Einspruch eingelegt hat, geändert werden kann; jedoch muß dieser vorher auf die Möglichkeit einer verbösernden Entscheidung unter Angabe von Gründen hingewiesen und ihm die Möglichkeit gegeben worden sein, sich hierzu zu äußern (§ 367 Abs 2 Satz 2 der Abgabenordnung -AO-), also auch der angekündigten Verböserung durch Rücknahme des Einspruchs zu begegnen. Da eine entsprechende Regelung für das Beschwerdeverfahren fehlt, wird angenommen, daß hier eine Verböserung nicht zulässig ist, soweit nicht die allgemeinen Vorschriften eine Änderung der Entscheidung zulassen (Schwarz, AO, Komm., Stand: Dezember 1981, RdNr 6 zu § 368, Hübschmann/Hopp/Spitaler, Komm. zu AO und Finanzgerichtsordnung -FGO-, Stand: November 1981 RdNr 12 zu § 368; Tipke/Kruse, Komm. zur AO und FGO, Stand: Dezember 1981, Anm 2 zu § 368).

Für das sozialgerichtliche Verfahren ergibt sich das grundsätzliche Verbot der "reformatio in peius" aus der gesetzlichen Bestimmung, daß das Gericht über die vom Kläger bzw Rechtsmittelkläger erhobenen Ansprüche entscheidet (§§ 123, 153, 165 SGG; vgl § 88 VwGO). Das Gericht ist zwar nicht an die Fassung der Anträge, jedoch an das Begehren des (Rechtsmittel-)Klägers gebunden. Es darf daher ungünstigstenfalls die Klage bzw das Rechtsmittel zurückweisen, nicht aber die angefochtene Entscheidung zum Nachteil des (Rechtsmittel-)Klägers ändern, es sei denn, die Entscheidung ist auch von der Gegenseite oder einem beteiligten Dritten mit entgegengesetzter Begehrensrichtung angefochten worden. Eine solche Begrenzung auf die gestellten Anträge ist für das Vorverfahren nicht vorgeschrieben. Daraus folgt jedoch nicht, daß in einem Vorverfahren eine "reformatio in peius" grundsätzlich zulässig wäre. Der 4. Senat des BVerwG hat entschieden, daß die VwGO die "reformatio in peius" im Widerspruchsverfahren weder zulasse noch ausschließe, sondern daß der Gesetzgeber die Regelung anderweitiger Normierung überlassen habe (BVerwGE 51, 310, 313 f). Der 5. Senat des BVerwG hat sich in ähnlicher Weise dahingehend geäußert, daß das Verbot der "reformatio in peius" zwar kein Wesensmerkmal eines jeden Rechtsbehelfs sei, es vielmehr darauf ankomme, wie sich der Gesetzgeber zu dieser Frage stelle; das Verbot gelte auch ohne ausdrückliche Regelung, wenn sich ein entsprechender Wille des Gesetzgebers sonst eindeutig ergebe (BVerwGE 14, 175, 178). Der erkennende Senat sieht wie andere Senate des BSG eine weitgehende Begrenzung der Zulässigkeit einer "reformatio in peius" vor allem in der Bindungswirkung der Verwaltungsakte begründet, die dem Bedürfnis nach Rechtssicherheit Rechnung trägt.

Für die Rechtsgebiete des Sozialgesetzbuches (SGB) - also auch für die gesetzliche Krankenversicherung einschließlich das den vorliegenden Rechtsstreit betreffende Kassenarztrecht - stellt das das Verwaltungsverfahren regelnde SGB X vom 18. August 1980 (BGBl I 1469) klar, daß ein Verwaltungsakt schon mit seiner Bekanntgabe Bindungswirkung entfaltet. Nach § 39 dieses Gesetzes wird ein Verwaltungsakt gegenüber demjenigen, für den er bestimmt ist oder der von ihm betroffen wird, in dem Zeitpunkt wirksam, in dem er ihm bekanntgegeben wird (Abs 1 Satz 1). Der Verwaltungsakt wird mit dem Inhalt wirksam, mit dem er bekanntgegeben wird (Abs 1 Satz 2). Er bleibt wirksam, solange und soweit er nicht zurückgenommen, widerrufen, anderweitig aufgehoben oder durch Zeitablauf oder auf andere Weise erledigt ist (Abs 2). Nur ein nichtiger Verwaltungsakt ist unwirksam (Abs 3). Die Wirksamkeit eines Verwaltungsaktes ist zwar nicht gleichbedeutend mit seiner Rechtsverbindlichkeit. Ein wirksamer Verwaltungsakt darf aber von der erlassenden Behörde, wenn nichts anderes bestimmt ist, nur in den Fällen des §§ 44 bis 49 SGB X und unter den dort genannten Voraussetzungen zurückgenommen oder widerrufen werden. Ist die Behörde nicht zur Rücknahme oder Widerruf berechtigt, so ist sie an ihre Entscheidung gebunden. Die eingeschränkte Befugnis zur Rücknahme und zum Widerruf erstreckt sich auf den Verwaltungsakt, "auch nachdem er unanfechtbar geworden ist" (vgl jeweils Abs 1 der §§ 44 bis 49 SGB X), sie gilt also ebenfalls für den noch anfechtbaren Verwaltungsakt. Die einseitige - begrenzte - Bindung der Behörde an den von ihr erlassenen Verwaltungsakt tritt sonach bereits mit der Bekanntgabe ein. Die Anfechtbarkeit gibt dem vom Verwaltungsakt Betroffenen die Möglichkeit, eine Änderung zu seinen Gunsten herbeizuführen. Sie begründet aber kein Recht der Behörde, ihre Entscheidung zum Nachteil des Anfechtenden zu ändern (vgl Schroeder-Printzen aaO). Demgemäß enthalten die gesetzlichen Regelungen über das Vorverfahren nur Vorschriften über eine Abhilfe des Widerspruchs (§ 85 SGG; §§ 72, 73 VwGO) und nicht auch solche über eine Korrektur zum Nachteil des Widerspruchsführers. Allerdings kann die Anfechtbarkeit, vor allem eine erfolgte Anfechtung und damit eine noch nicht eingetretene Rechtsverbindlichkeit iS des § 77 SGG ein Umstand sein, der bei der Prüfung der Rücknehmbarkeit eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes nach § 45 SGB X - bei Abwägung des schutzwürdigen Vertrauens des vom Verwaltungsakt Begünstigten auf den Bestand des Verwaltungsaktes mit dem öffentlichen Interesse an der Rücknahme des Verwaltungsaktes - zu berücksichtigen ist. Daß die Einlegung des Widerspruchs der Verwaltungsbehörde grundsätzlich nicht das Recht gibt, eine Änderung zum Nachteil des Widerspruchsführers vorzunehmen, wird schließlich durch § 49 SGB X bestätigt. Diese Vorschrift gestattet eine solche Änderung lediglich bei einem Verwaltungsakt mit Drittwirkung, und zwar nur unter der Voraussetzung, daß der Verwaltungsakt vom Dritten selbst angefochten worden ist und durch die Änderung dem Widerspruch abgeholfen wird. Ist aber die den Verwaltungsakt erlassende Behörde (Ausgangsbehörde) nicht zur Rücknahme bzw Widerruf des Verwaltungsaktes - und damit auch nicht zu einer Änderung zum Nachteil des vom Verwaltungsakt Begünstigten - berechtigt, so steht grundsätzlich auch der Widerspruchsstelle ein solches Recht nicht zu. Ist zugunsten des Verwaltungsakts-Adressaten eine Bindung der Behörde an den Verwaltungsakt eingetreten, so muß diese Rechtsposition auch in einem von dem Verwaltungsakt-Adressaten angestrengten Rechtsbehelfsverfahren beachtet werden. Zwar wenden sich die Vorschriften der §§ 44 ff SGB X unmittelbar an die Ausgangsbehörde; der Widerspruchsstelle können aber - wenn nicht auch die Gegenseite oder ein beteiligter Dritter Widerspruch eingelegt hat - keine weitergehenden Befugnisse als der Ausgangsbehörde zustehen. Ob etwas anderes gilt, wenn die Widerspruchsstelle gleichzeitig die Aufsichtsbehörde ist, kann hier dahingestellt bleiben, weil dies bei der BK nicht der Fall ist.

Das SGB X findet zwar auf die hier umstrittenen Verwaltungsentscheidungen aus den Jahren 1974 bis 1977 noch keine Anwendung (Art 2 § 40 Abs 1 und 2 SGB X; vgl BSG Urteil vom 5. März 1981 - 9 RV 39/80-). Bei der dargelegten Regelung dieses Gesetzes, daß der Verwaltungsakt mit seiner Bekanntgabe wirksam wird und die Behörde bindet, handelt es sich aber um einen bereits vorher vom BSG anerkannten Rechtsgrundsatz (BSGE 7, 8, 11; 14, 154, 158; SozR Nr 36 zu § 77 SGG; SozR 1500 § 77 SGG Nr 18; vgl § 24 Abs 2 KOV- VfG; Hennig/Danckwerts/König, SGG, Komm., Stand: April 1981, Anm 3.2 zu § 77; Meyer-Ladewig, SGG mit Erläuterungen, 2. Aufl, RdNr 36 nach § 54; Peters/Sautter/Wolff, Komm zur Sozialgerichtsbarkeit, Stand: September 1981, Anm 3 zu § 77, S 258/22). Die Bindungswirkung war auch vor Inkrafttreten des SGB X eingeschränkt, soweit das Gesetz anderes bestimmte, insbesondere der Behörde das Recht einräumte, den erlassenen Verwaltungsakt aufzuheben. Spezialregelungen dieser Art gab es für den Bereich der Sozialversicherungsleistungen mit § 1744 RVO und für den Bereich der Kriegsopferversorgung mit den §§ 40 bis 42 KOV-VfG. Fehlte für ein Rechtsgebiet eine gesetzliche Spezialregelung, so wurden die ungeschriebenen Rechtsgrundsätze des allgemeinen Verwaltungsrechts für anwendbar gehalten (BSGE 7, 8, 16; 7, 51 ff; 8, 11 ff; 18, 22, 28; 47, 288, 289 mwN). Nach diesen Grundsätzen konnte ein belastender Verwaltungsakt jederzeit zurückgenommen werden, ein begünstigender Verwaltungsakt dagegen nur, wenn dem öffentlichen Interesse an der Beseitigung des rechtswidrigen Verwaltungsakts - Bindung der Verwaltung an Gesetz und Recht - der Vorrang einzuräumen war gegenüber den schutzwürdigen Interessen des Begünstigten, der auf den Bestand des Verwaltungsakts vertraute -Rechtssicherheit(BVerwGE 30, 132, 134; BSGE 14, 10, 16 ff; 15, 252, 255 ff; 31, 190, 196). Diese Rechtsgrundsätze sind in die §§ 44 bis 49 SGB X eingegangen.

Bei der dem Vertragsarzt und dem VdAK mitzuteilenden Entscheidung über die Kürzung des Ersatzkassenhonorars (§ 15 Ziff 5 EKV) handelt es sich um einen Verwaltungsakt, der sowohl gegenüber dem Vertragsarzt als auch gegenüber dem VdAK und den von diesem repräsentierten Ersatzkassen Bindung erlangt (BSGE 17, 89, 93 ff; 26, 170, 172; 31, 24, 27 ff). Den für die Rechtsbeziehungen zwischen den Ersatzkassen, der KÄV und dem Vertragsarzt maßgebenden vertraglichen Regelungen - vor allem dem EKV - ist insoweit keine von den allgemeinen Verwaltungsrechtsgrundsätzen abweichende Regelung zu entnehmen. Die PK ist daher an ihre Entscheidung gebunden. Die Bindungswirkung erstreckt sich auch auf die BK, da sich aus den vertraglichen Regelungen nicht ergibt, daß ihr weitergehende Rechte zustehen. Bei den Bescheiden der PK der Beklagten handelt es sich, soweit sie Kürzungen der Honorarforderungen enthalten, um belastende, soweit sie die Honorarforderungen bestätigen, um begünstigende Verwaltungsakte. Eine weitere Kürzung durch die BK würde den begünstigenden Teil der Bescheide der PK beeinträchtigen. Eine solche Änderung wäre nur zulässig, wenn der Beklagten das Recht zur Rücknahme oder zum Widerruf zustünde. Dies wird jedoch von ihr selbst nicht behauptet. Den Bescheiden der BK ist nicht einmal zu entnehmen, ob die Bescheide der PK, soweit sie zum Nachteil des Klägers geändert worden sind, für rechtswidrig gehalten werden. Die BK durfte die Bescheide der PK auch nicht wegen ihrer Drittwirkung zum Nachteil des Klägers ändern, denn die von ihnen betroffenen Dritten (Ersatzkassen bzw VdAK) hatten keinen Widerspruch eingelegt.

Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG erstreckt sich die Bindungswirkung jedoch nicht auf den gesamten Bescheid, sondern nur auf seinen Verfügungssatz (BSGE 46, 236, 237 mwN). Was dem Verfügungssatz zuzurechnen ist und ob ein Bescheid unter Umständen mehrere Verfügungssätze enthält, kann im Einzelfall zweifelhaft sein. Mit dem 5. Senat des BSG (BSGE aaO) hält es auch der erkennende Senat für geboten, im Zweifelsfalle darauf abzustellen, inwieweit durch die in Betracht kommenden rechtlichen Regelungen - im Ersatzkassenrecht vor allem durch die vertraglichen Regelungen (EKV) - dem Bedürfnis nach Vertrauensschutz der Vorrang eingeräumt wird.

Bei den von der BK der Beklagten abgeänderten Bescheiden der PK spricht schon der Wortlaut eher dafür, daß nur die Gesamtbeträge der Kürzungen und der im übrigen anerkannten Honorarforderungen, dagegen nicht die Einzelkürzungen bei den verschiedenen Gebührenziffern Bestandteile des Verfügungssatzes sind. Im Entscheidungstenor werden nur die Gesamtbeträge angegeben. Zwar wird auch auf die nachfolgenden Feststellungen verwiesen. Diese fassen jedoch das Ergebnis der Überprüfung mit der allgemeinen Feststellung zusammen, daß ein starker (weiterer) Anstieg des Falldurchschnitts bzw eine sehr (besonders) aufwendige Praxisführung vorliege. Es werden dann exemplarische Behandlungsfälle angeführt und schließlich bei einigen Leistungsarten prozentuale Kürzungen oder Umwandlungen vorgenommen, die den jeweiligen Gesamtkürzungsbetrag ergeben.Damit wird die Unwirtschaftlichkeit der Behandlungstätigkeit des Klägers in ihrer Gesamtheit beanstandet, jedoch die Kürzung nur gezielt bei einzelnen Gebührenziffern vorgenommen.

Dieses Vorgehen steht in Einklang mit den rechtlichen Regelungen, die für die wirtschaftliche Prüfung im Ersatzkassenbereich maßgebend sind. Nach § 14 Ziff 1 EKV entscheidet die PK, ob die ärztliche Behandlungs- und Abrechnungsweise im einzelnen und insgesamt nach den Regeln der ärztlichen Kunst dem Erfordernis der Notwendigkeit und Wirtschaftlichkeit genügt. Wie der Senat in ständiger Rechtsprechung entschieden hat, kann sich die Prüfung der Wirtschaftlichkeit - wie im vorliegenden Fall geschehen - auf einen Kostenvergleich beschränken, wenn die Behandlungskosten des Arztes in einem offensichtlichen Mißverhältnis zu den Durchschnittswerten der Fachgruppe des Arztes stehen. In einem solchen Fall ergibt sich in der Regel schon aus dem offensichtlichen Mißverhältnis die Unwirtschaftlichkeit, es sei denn, daß Besonderheiten der Praxis den Mehraufwand ganz oder teilweise rechtfertigen oder der Mehraufwand für einen Minderaufwand ursächlich gewesen ist (BSGE 46, 136, 137 mwN). Ist ein offensichtliches Mißverhältnis für einzelne Leistungsarten festgestellt worden, so kann in der Regel dennoch nicht auf eine Gesamtwürdigung des Praxisverhaltens des Arztes verzichtet werden (BSGE 17, 79, 86; SozR 2200 § 368n RVO Nr 3; BSGE 50, 84, 87). Die Vermutung der Unwirtschaftlichkeit erstreckt sich dann auf die Behandlungsweise des Arztes im ganzen, ohne daß einzelne Kostenbereiche als weniger betroffen ausgesondert werden können (BSGE 46, 136, 139). Das schließt nicht aus, mit der Honorarkürzung nur bei bestimmten Leistungsgruppen oder Leistungsarten anzusetzen. Die Prüfungsinstanzen haben nach pflichtgemäßem Ermessen über die Honorarkürzungen zu entscheiden (BSGE 17, 79, 89; SozR 2200 § 368n RVO Nr 3 und Nr 19). Sie können in diesem Rahmen auch von Kürzungen absehen oder Kürzungen gezielt bei einzelnen Gebührenziffern vornehmen. Es handelt sich aber auch dann noch um eine einheitliche Honorarkürzung, der eine Unwirtschaftlichkeit der ärztlichen Behandlungsweise im ganzen zugrunde liegt. Davon ist auch im vorliegenden Fall auszugehen, denn die PK der Beklagten hat die Feststellung der Unwirtschaftlichkeit der Behandlungsweise des Klägers nicht auf bestimmte Leistungsgruppen oder Leistungsarten beschränkt.

Die BK hat als Widerspruchsstelle nicht nur Rechtskontrolle auszuüben, sondern auch die Ermessensentscheidung der PK zu überprüfen (vgl § 15 Ziff 6 und 7 EKV sowie die dazu ergangenen Beschlüsse bzw getroffenen Feststellungen der nach § 19 EKV zuständigen Arbeitsgemeinschaft). Es war deshalb auch die BK der Beklagten befugt, die Honorarkürzungen neu festzusetzen, soweit diese sich im Rahmen des auf die Unwirtschaftlichkeit entfallenden Mehraufwands halten und den Gesamtbetrag der von der PK für jedes Quartal festgesetzten Kürzungen nicht übersteigen.

Das LSG konnte sonach wegen des Verbots der "reformatio in peius" nur insoweit die zusätzlichen Kürzungen der BK aufheben, als diese zu einer Erhöhung des jeweiligen Gesamtbetrages der Kürzungen der einzelnen Quartalsabrechnungen des Klägers führten. Da die BK bezüglich der Quartale IV/1973, III/1974 und I/1975 auch Einzelkürzungen der PK herabsetzte bzw strich, führte hier die Erhöhung von Einzelkürzungen nicht zu einer entsprechenden Erhöhung des Gesamtkürzungsbetrages. Die vom LSG angeordnete Aufhebung aller zusätzlichen Einzelkürzungen der BK - unter Beibehaltung der von der BK vorgenommenen Minderung von Einzelkürzungen - ergibt somit, daß der Gesamtbetrag der von der PK festgesetzten Kürzungen unterschritten wird. Diese Entscheidung ist durch das Verbot der "reformatio in peius" nicht gerechtfertigt. Ob andere Gründe die Herabsetzung unter den von der PK festgesetzten Gesamtkürzungsbetrag rechtfertigen, hat das LSG aufgrund seiner Rechtsauffassung nicht geprüft und deshalb insoweit auch keine Tatsachenfeststellungen getroffen. Dieser Teil des Rechtsstreits ist daher an die Vorinstanz zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen.

Dem Berufungsgericht bleibt auch die Entscheidung über die Kosten des gesamten Rechtsstreits vorbehalten.

 

Fundstellen

BSGE, 284

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