Entscheidungsstichwort (Thema)

Prüfung der Wirtschaftlichkeit der ärztlichen Behandlungs- und Verordnungsweise anhand von Durchschnittswerten der jeweiligen Arztgruppe

 

Leitsatz (amtlich)

1. Besteht zwischen den Verordnungskosten eines Kassenarztes bei Arzneimitteln und den durchschnittlichen Verordnungskosten seiner Vergleichsgruppe (Fachgruppe) ein offensichtliches Mißverhältnis, so können die Prüfungsinstanzen, nachdem sie die Unwirtschaftlichkeit der Verordnungsweise dem Grunde nach festgestellt haben, den Umfang der Unwirtschaftlichkeit im Wege der Schätzung ermitteln (Fortführung von BSG 1959-11-27 6 RKa 4/58 = BSGE 11, 102, BSG 1962-05-29 6 RKa 4/61 = BSGE 17, 89, BSG 1963-05-15 6 RKa 21/60 = BSGE 19, 123 und BSG 1974-07-03 6 RKa 29/73 = SozR 2200 § 368n Nr 3).

2. Dies gilt auch, soweit die Schätzung einen Bereich betrifft, der unterhalb der Grenze des offensichtlichen Mißverhältnisses liegt und die Zone der normalen Streuung jedenfalls noch nicht erfaßt; auch insoweit braucht deshalb die Unwirtschaftlichkeit nicht mit Einzelfällen belegt zu werden.

3. Zu der Frage, ob bei einer Überschreitung des Fachgruppendurchschnitts um ca 53 vH ein offensichtliches Mißverhältnis vorliegt.

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Zu der nach RVO § 368n Abs 5 nF vorzunehmenden Überwachung der Wirtschaftlichkeit der kassenärztlichen Versorgung im einzelnen gehört auch die Prüfung der Verordnungsweise; hierfür gelten im wesentlichen die gleichen Grundsätze, wie sie die Rechtsprechung für die Prüfung der Behandlungsweise entwickelt hat.

2. Die Wirtschaftlichkeit der kassenärztlichen Tätigkeit braucht nicht anhand einzelner Fälle geprüft zu werden, wenn die Behandlungs- oder Verordnungskosten des Kassenarztes in einem offensichtlichen Mißverhältnis zu den Durchschnittswerten seiner Fachgruppe stehen, es sei denn, daß Besonderheiten der jeweiligen Praxis den Mehraufwand ganz oder teilweise rechtfertigen oder der Mehraufwand für einen Minderaufwand in anderen Leistungsbereichen ursächlich ist.

3. Für die Wirtschaftlichkeitsprüfung sind zwei Verfahrensabschnitte zu unterscheiden, nämlich zum einen die Feststellung, ob überhaupt eine Unwirtschaftlichkeit der Behandlungs- oder Verordnungsweise vorliegt, und zum anderen, welchen Umfang die unwirtschaftlichen Mehrkosten ausmachen; nur für den ersten Verfahrensschritt kommt es darauf an, ob die Überschreitung der Durchschnittswerte noch im normalen Streubereich liegt oder ob sie schon die Übergangszone betrifft oder so offensichtlich ist, daß es zu ihrer Feststellung keiner weiteren Beweise bedarf.

4. Die sich aus einem Kostenvergleich ergebende Vermutung der Unwirtschaftlichkeit erstreckt sich auf die Behandlungs- oder Verordnungsweise des Kassenarztes im ganzen, ohne daß - eben weil keine Einzelfälle geprüft worden sind - einzelne Kostenbereiche als weniger betroffen ausgesondert werden können; der Umfang des unwirtschaftlichen Mehraufwandes ist dann zu schätzen, wobei sich die Schätzung auch auf einen Bereich erstrecken kann, der unterhalb der Grenze der offensichtlichen Unwirtschaftlichkeit liegt und die Zone der normalen Streuung jedenfalls noch nicht erfaßt.

 

Normenkette

RVO § 368n Abs. 4 Fassung: 1955-08-17, Abs. 5 Fassung: 1976-12-28

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 22.09.1976; Aktenzeichen L 1 Ka 2/73)

SG Düsseldorf (Entscheidung vom 29.09.1972; Aktenzeichen S 2 Ka 22/71)

 

Tenor

Auf die Revision des beklagten Beschwerdeausschusses wird das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 22. September 1976 aufgehoben, soweit über den Arzneimittelregreß für das zweite Quartal 1968 zugunsten von Ortskrankenkassen entschieden worden ist. Insoweit wird die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 29. September 1972 zurückgewiesen. Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten in der Revisionsinstanz noch um die Rechtmäßigkeit eines Arzneikostenregresses für das zweite Vierteljahr 1968 (II/68).

Die Arzneimittelverordnungen des Klägers, eines zur kassenärztlichen Versorgung zugelassenen praktischen Arztes, überschritten in diesem Vierteljahr bei den Ortskrankenkassen den Durchschnittswert seiner Fachgruppe um 52,93 %; in drei Quartalen des Vorjahres (I, II und IV/67) hatten sie 42 %, 41 % und 45,3 % über den Durchschnittswerten gelegen, im dritten Quartal 1968 überschritten sie bei den Ortskrankenkassen den Durchschnittswert um 71,83 %, im zweiten Quartal 1968 bei den Betriebskrankenkassen um 91,78 %.

Der Kläger wurde deshalb auf Antrag der Beigeladenen wegen unwirtschaftlicher Verordnungsweise regreßpflichtig gemacht, und zwar für das streitige Quartal zugunsten der Ortskrankenkassen in Höhe von 20 % des Prozentsatzes, um den seine Verordnungskosten den Durchschnittswert überstiegen; zu Lasten der Ortskrankenkassen verblieben damit noch Kosten von 80 % des Überschreitungssatzes von 52,93 % = 42,33 %. Der Widerspruch des Klägers wurde vom beklagten Beschwerdeausschuß mit Bescheid vom 9. Februar 1971 zurückgewiesen, die dagegen erhobene Klage vom Sozialgericht (SG) mit Urteil vom 29. September 1972 als unbegründet abgewiesen.

Die Berufung des Klägers, die er für II/68 auf den 322,25 DM übersteigenden Teil der Regreßforderung beschränkte (in Höhe von 322,25 DM hielt er die von ihm verordneten Mittel selbst nicht mehr für verordnungsfähig), hatte Erfolg. In seiner Begründung hat das Landessozialgericht (LSG) unentschieden gelassen, ob eine Überschreitung der durchschnittlichen Verordnungskosten um 52,93 % noch zu den "angemessenen" Abweichungen gehöre, so daß in der Überschreitung noch kein offensichtliches Mißverhältnis gegenüber dem Durchschnittswert zu sehen sei. Der Bereich der angemessenen Abweichungen werde jedenfalls von einem Regreß erfaßt, der - wie im Falle des Klägers - die Verordnungskosten auf einen Überschreitungssatz von 42,33 % zurückführe. In diesem Bereich sei ein Regreß nur nach Feststellung des genauen Ausmaßes der unwirtschaftlichen Mehrkosten - über die der Regreß nicht hinausgehen dürfe - zulässig. Da solche Feststellungen hier nicht getroffen seien, müsse der Regreßbescheid aufgehoben werden; er könne auch nicht insoweit bestehenbleiben, als er ein bestimmtes, vom Kläger verordnetes Medikament (Polyerga) betreffe, dessen Wirksamkeit nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme nicht gesichert sei (Urteil vom 22. September 1976).

Gegen diese Entscheidung hat der Beklagte die vom Senat zugelassene Revision eingelegt, mit der er geltend macht: Das LSG habe zu Unrecht alle Überschreitungen der Durchschnittswerte, die unterhalb der Grenze des offensichtlichen Mißverhältnisses lägen, noch zu den "angemessenen" Abweichungen gerechnet. Diese Auffassung finde in den vom LSG zitierten Urteilen des Bundessozialgerichts (BSG) keine Stütze. Sie laufe praktisch darauf hinaus, daß für Regresse, denen eine - den Prüfungseinrichtungen in der Regel kaum mögliche - Feststellung des genauen Ausmaßes der Unwirtschaftlichkeit fehle, nur noch oberhalb der genannten Grenze Raum sei. Nach der Rechtsprechung des BSG genüge selbst in dem vom LSG so genannten Bereich der "angemessenen" Abweichungen eine Schätzung, um die Höhe des Regreßbetrages zu ermitteln.

Der Beklagte beantragt,

unter teilweiser Abänderung des Urteils des Landessozialgerichts die Klage betreffend den Arzneimittelregreß für das Quartal II/68 für den AOK-Bereich in vollem Umfange abzuweisen,

hilfsweise den Rechtsstreit insoweit zur neuen Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.

Die Beigeladenen haben sich den Anträgen und Ausführungen des Revisionsklägers angeschlossen.

 

Entscheidungsgründe

Der Senat hat über die Revision mit je einem ehrenamtlichen Richter aus den Kreisen der Kassenärzte und der Krankenkassen entschieden. Der angefochtene Regreßbescheid - in der Gestalt des Widerspruchsbescheides des Beklagten vom 9. Februar 1971 - ist von einem Ausschuß erlassen worden, der mit Kassenärzten und Vertretern der Krankenkassen besetzt war. Der Rechtsstreit betrifft deshalb eine Angelegenheit des Kassenarztrechts, nicht der Kassenärzte allein (§ 12 Abs 3 iVm § 33 Satz 2 und § 40 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -; BSGE 42, 268, 269 mit weiteren Nachweisen). Richtiger Beklagter ist in einem solchen Falle der Beschwerdeausschuß, nicht die Kassenärztliche Vereinigung (Urteil des Senats vom 7. Oktober 1976, 6 RKa 20/73, S 6 mit weiteren Nachweisen).

Die Revision des Beklagten ist begründet. Der angefochtene Bescheid ist rechtmäßig, soweit er vom erkennenden Senat zu überprüfen ist, dh hinsichtlich einer (322,25 DM übersteigenden) Regreßforderung in Höhe von 20 % der über dem Fachgruppendurchschnitt liegenden Verordnungskosten des Klägers für II/68.

Zu der im Gesetz vorgeschriebenen "Überwachung der Wirtschaftlichkeit der kassenärztlichen Versorgung im einzelnen" (§ 368 n Abs 4 der Reichsversicherungsordnung - RVO - aF bzw Abs 5 nF) gehört auch die Prüfung der kassenärztlichen Verordnungsweise, für die im wesentlichen die gleichen Grundsätze gelten wie für die Prüfung der Behandlungsweise. Diese Grundsätze sind weitgehend von der Rechtsprechung entwickelt worden (vgl insbesondere BSGE 11, 102, 112 ff; 17, 79; 19, 123). Danach braucht die Wirtschaftlichkeit der kassenärztlichen Tätigkeit nicht anhand einzelner Behandlungs- oder Verordnungsfälle geprüft zu werden, wenn die Behandlungs- oder Verordnungskosten des Kassenarztes in einem offensichtlichen Mißverhältnis zu den Durchschnittswerten seiner Fachgruppe stehen. In einem solchen Fall ergibt sich die Unwirtschaftlichkeit der Behandlungs- oder Verordnungsweise in der Regel schon aus einem Vergleich mit den Durchschnittswerten, es sei denn, daß Besonderheiten der jeweiligen Praxis den Mehraufwand ganz oder teilweise rechtfertigen oder der Mehraufwand für einen Minderaufwand in anderen Leistungsbereichen ursächlich gewesen ist (vgl SozR 2200 § 368 n Nr 3 S 9).

Von diesen Grundsätzen scheint auch das LSG ausgegangen zu sein. Bei der Entscheidung über das streitige Quartal hat es jedoch offengelassen, ob die Verordnungskosten des Klägers in einem offensichtlichen Mißverhältnis zum Durchschnittswert seiner Fachgruppe gestanden haben, weil selbst dann der festgesetzte Regreß nicht rechtmäßig wäre. Dabei hat das LSG weder Praxisbesonderheiten des Klägers noch "kompensationsfähige" Ersparnisse in anderen Leistungsbereichen festgestellt, sondern die Rechtswidrigkeit des Regresses allein damit begründet, daß dieser einen Bereich erfaßt habe, der noch zu den "angemessenen" Abweichungen vom Durchschnitt gehöre. Dem kann der Senat nicht folgen.

Unzutreffend, mindestens mißverständlich ist es schon, wenn das LSG alle Behandlungs- oder Verordnungskosten eines Kassenarztes, die noch kein offensichtliches Mißverhältnis zu den Durchschnittswerten erkennen lassen, ohne weitere Unterscheidung zu den "angemessenen" Abweichungen rechnet. Richtig ist allerdings, daß um die (aus höheren und niedrigeren Einzelwerten ermittelten) Durchschnittswerte ein gewisser Streubereich liegt, innerhalb dessen für die Annahme einer unwirtschaftlichen Behandlungs- oder Verordnungsweise in der Regel, dh vorbehaltlich der Feststellung eines unwirtschaftlichen Verhaltens im Einzelfall, kein Raum ist (vgl BSG 19, 123, 128). Wie dieser Bereich einer "angemessenen" Streuung (mit entsprechenden Abweichungen von den Durchschnittswerten) näher abzugrenzen ist - der Beklagte scheint Abweichungen um 20 % von den Prüfrichtzahlen der zuständigen Kassenärztlichen Vereinigung noch für "normal" zu halten -, kann hier auf sich beruhen. Keinesfalls erstreckt er sich, wie das LSG offenbar angenommen hat, bis an die Grenze der durch ein offensichtliches Mißverhältnis zu den Durchschnittswerten gekennzeichneten Unwirtschaftlichkeit. Zwischen dem Bereich einer normalen Streuung und dem einer offensichtlichen Unwirtschaftlichkeit liegt vielmehr eine Übergangszone, die - wäre mit dem Beklagten eine Abweichung von den Durchschnittswerten bis zu 20 % als normal anzusehen - von hier bis zur Grenze der offensichtlichen Unwirtschaftlichkeit reicht. Liegen die Behandlungs- oder Verordnungskosten des Kassenarztes in dieser Übergangszone, so braucht zur Feststellung eines unwirtschaftlichen Verhaltens nicht, wie im Bereich der normalen Streuung, eine Prüfung nach Einzelfällen stattzufinden; andererseits darf allein aus der Überschreitung der Durchschnittswerte noch nicht, wie im Falle eines offensichtlichen Mißverhältnisses, ohne weiteres auf Unwirtschaftlichkeit geschlossen werden. Erforderlich, aber im allgemeinen auch ausreichend, ist vielmehr, daß die Unwirtschaftlichkeit anhand einer die Behandlungs- oder Verordnungsweise des Kassenarztes "genügend beleuchtenden Zahl von Beispielen" nachgewiesen wird (BSGE 19, 123 Leitsatz 3).

Wird unter Beachtung dieser Grundsätze ein unwirtschaftliches Verhalten des Kassenarztes festgestellt, so können die Prüfungsinstanzen den Umfang der unwirtschaftlich erbrachten oder verordneten Leistungen in der Regel im Wege der Schätzung ermitteln (BSGE 11, 102, 114 ff; SozR 2200 § 368 n Nr 3 am Ende). Das gilt nicht nur für den Fall, daß die Unwirtschaftlichkeit der Behandlungs- oder Verordnungsweise sich aus dem offensichtlichen Mißverhältnis zu den Vergleichswerten ergibt, sondern auch dann, wenn - innerhalb der genannten Übergangszone - der Nachweis der Unwirtschaftlichkeit erst anhand von Beispielen geführt wird. Auch in diesem Falle kann mithin der Umfang der unwirtschaftlichen Mehrkosten geschätzt werden; einer genauen Feststellung ihres Ausmaßes bedarf es - entgegen der Ansicht des LSG - nicht.

Für die Prüfung der Wirtschaftlichkeit sind demnach zwei Verfahrensabschnitte zu unterscheiden: Zunächst ist zu prüfen, ob überhaupt - dem Grunde nach - eine Unwirtschaftlichkeit der Behandlungs- oder Verordnungsweise vorliegt; ist dies der Fall, so ist in einem zweiten Schritt der Umfang der unwirtschaftlichen Mehrkosten zu bestimmen. Nur bei der ersten Fragestellung kommt es darauf an, welcher Art die Überschreitung der Durchschnittswerte durch den Kassenarzt ist, ob sie sich noch im normalen Streubereich bewegt, ob sie schon die genannte Übergangszone betrifft oder ob sie so offensichtlich ist, daß es zu ihrer Feststellung keiner weiteren Beweise bedarf. Je nachdem, welcher Sachverhalt vorliegt, sind die Voraussetzungen für eine Feststellung der Unwirtschaftlichkeit - Prüfung nach Einzelfällen, Anführung von Beispielen oder allein ein Kostenvergleich - verschieden.

Ist hiernach ein unwirtschaftliches Verhalten des Kassenarztes festgestellt worden, so hat es für die weitere Frage, welchen Umfang die unwirtschaftlichen Mehrkosten erreichen, keine Bedeutung mehr, unter welchen Voraussetzungen die Feststellung der Unwirtschaftlichkeit dem Grunde nach getroffen worden ist. Das gilt insbesondere für den - hier vorliegenden - Fall, daß diese Feststellung allein auf einem Kostenvergleich beruht. Die Vermutung der Unwirtschaftlichkeit erstreckt sich dann auf die Behandlungs- oder Verordnungsweise des Kassenarztes im ganzen, ohne daß - gerade weil keine Einzelfälle überprüft worden sind - einzelne Kostenbereiche als weniger betroffen ausgesondert werden können. Die Vermutung der Unwirtschaftlichkeit beschränkt sich also nicht auf einen Kostenbereich, der oberhalb der Grenze der offensichtlichen Unwirtschaftlichkeit liegt. Deshalb brauchen, soweit eine Honorarkürzung oder ein Arzneimittelregreß auch den Bereich unter dieser Grenze erfassen soll, nicht wie das LSG meint, besondere Voraussetzungen ("Feststellung des genauen Ausmaßes der Unwirtschaftlichkeit") vorzuliegen. Entgegen der Auffassung des LSG kann vielmehr, wenn das Mißverhältnis zwischen den Behandlungs- oder Verordnungskosten des Kassenarztes und den Durchschnittswerten seiner Fachgruppe offensichtlich ist, der Umfang des unwirtschaftlichen Mehraufwandes stets geschätzt werden, wobei sich die Schätzung auch auf einen Bereich erstrecken kann, der unterhalb der Grenze der offensichtlichen Unwirtschaftlichkeit liegt und die Zone der normalen Streuung jedenfalls noch nicht erfaßt. Das hindert die Prüfungsinstanzen nicht, im Rahmen des ihnen zustehenden Ermessens ihre Schätzung mit Beispielen aus der Behandlungs- oder Verordnungspraxis des Arztes zu belegen; dies kann vor allem dann zweckmäßig sein, wenn die Behandlungs- oder Verordnungskosten jene Grenze nur unwesentlich überschreiten. Auch in einem solchen Falle muß indessen die Unwirtschaftlichkeit nicht mit Beispielen begründet werden; es ist auch nicht erforderlich, ihr "genaues Ausmaß" festzustellen, was im übrigen für die Prüfungsinstanzen, soweit überhaupt möglich, in der Regel mit unverhältnismäßigen Schwierigkeiten verbunden wäre.

In dem streitigen Quartal haben die Verordnungskosten des Klägers den Durchschnitt seiner Fachgruppe um fast 53 % überschritten. Ob eine solche Überschreitung in jedem Falle ein offensichtliches Mißverhältnis gegenüber dem Durchschnittswert bedeutet, läßt der Senat unentschieden (vgl BSGE 19, 123, 128, wo für Überschreitungen der Durchschnittsbeträge "um etwa 15 bis 40 % - dieses nur in einem Falle" - kein offensichtliches Mißverhältnis angenommen worden ist; vgl ferner die Übersicht über die einschlägige Rechtsprechung der Landessozialgerichte bei Heinemann/Liebold, Kassenarztrecht, 4. Aufl Stand: Dezember 1976, Bd II S IV 61 ff). Im vorliegenden Falle erhält die erhebliche Überschreitung des Durchschnittswertes durch den Kläger im zweiten Quartal 1968 dadurch ein zusätzliches Gewicht, daß die Verordnungskosten des Klägers schon in drei Quartalen des Vorjahres mit 42 %, 41 % und 45,3 % über dem Durchschnitt gelegen hatten und er im folgenden Quartal (III/68) den Durchschnittswert um fast 72 %, bei den Betriebskrankenkassen in II/68 sogar um über 90 % überschritten hat. Die Überschreitung um ca 53 % im streitigen Quartal war mithin keine Ausnahme oder eine mehr oder weniger vereinzelte Erscheinung, sondern fügt sich in eine Linie mit noch dazu deutlich steigender Tendenz ein. Unter diesen Umständen hat der Senat keine Bedenken, die vom LSG offengelassene Frage zu bejahen, ob in der Überschreitung des Durchschnittswerts um fast 53 % ein offensichtliches Mißverhältnis zu sehen ist.

Dann haben aber die Prüfungsinstanzen, wie das SG im Ergebnis zutreffend entschieden hat, den vom Kläger zu ersetzenden Regreßbetrag schätzen dürfen, ohne verpflichtet zu sein, diese Schätzung mit Beispielen aus der Verordnungspraxis des Klägers oder sonstigen "besonderen" Feststellungen über den genauen Umfang der Unwirtschaftlichkeit näher zu belegen. Im übrigen hat der beklagte Beschwerdeausschuß eine große Zahl von Einzelfällen überprüft - nach Ansicht des LSG allerdings nicht genügend konkret - und dabei die schon aus dem Kostenvergleich gewonnene Vermutung der Unwirtschaftlichkeit bestätigt gefunden. Auf die Revision des Beklagten hat der Senat hiernach das Urteil des LSG aufgehoben, soweit es den Regreß zugunsten der Ortskrankenkassen für das streitige Quartal betrifft, und hat insoweit die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG zurückgewiesen.

Über die Kosten der Revision ist nach § 193 des Sozialgerichtsgesetzes entschieden worden.

 

Fundstellen

BSGE, 136

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