Leitsatz (amtlich)

1. Eine Rechtsfrage ist klärungsbedürftig, wenn der Rechtsprechung des Revisionsgerichts in nicht geringfügigem Umfang widersprochen wird und gegen sie nicht von vornherein abwegige Einwendungen vorgebracht werden.

2. Zur Rechtsfrage der Rentenwiedergewährung nach dritter oder weiterer Ehe.

 

Normenkette

SGG § 160 Fassung: 1974-07-30, § 160a Fassung: 1974-07-30; BGB § 1360 S 2 Fassung: 1957-06-18; RVO § 1291 Abs 2 Fassung: 1972-10-16

 

Tatbestand

I.

Die am 17. Juni 1925 geborene Klägerin war dreimal verheiratet. Ihre erste am 10. Mai 1950 geschlossene Ehe mit dem Versicherten G. B. wurde auch dessen Tod am 16. November 1957 aufgelöst. Ihre zweite am 19. Juni 1961 geschlossene Ehe mit K. H. V. wurde im Jahre 1962 geschieden. Ihre dritte am 8. Juli 1969 geschlossene Ehe mit W. E. K. wurde durch Urteil des Landgerichts Hagen vom 5. März 1974 aus Verschulden des Ehemannes geschieden.

Bis zur zweiten Eheschließung (19. Juni 1961) bezog die Klägerin Witwenrente aus der Versicherung des ersten Ehemannes. Ferner erhielt sie antragsgemäß Witwenrentenabfindung. Nach der Scheidung der zweiten Ehe beantragte die Klägerin nicht, ihr Witwenrente wieder zu gewähren.

Die Beklagte lehnte es ab, der Klägerin Witwenrente aus der Versicherung des ersten Ehemannes nach der Scheidung der dritten Ehe zu gewähren, wie dies die Klägerin beantragt hatte (Bescheid vom 5. August 1974). Klage und Berufung der Klägerin sind erfolglos geblieben (Urteile des Sozialgerichts Dortmund vom 10. Dezember 1974 und des Landessozialgerichts - LSG - für das Land Nordrhein-Westfalen vom 22. April 1975). Das LSG hat die Revision nicht zugelassen. Das Berufungsgericht hat in den Entscheidungsgründen seines Urteils ua ausgeführt, die mit der Eheschließung mit K. H. V. weggefallene Rente hätte allenfalls nach Auflösung dieser (zweiten) Ehe wieder aufleben können, nicht aber nach Scheidung der dritten Ehe mit W. E. K. . Die dritte Ehe sei die Klägerin nicht als Witwe des Versicherten, sondern als geschiedene Ehefrau des K. H. V. eingegangen. Zur weiteren Begründung hat sich das LSG auf das Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 21. Januar 1971 - 4 RJ 227/70 - (SozR Nr 30 zu § 1291 der Reichsversicherungsordnung - RVO - = DRV 1971, 166 mit Besprechung durch Tannen) berufen, weil diese Entscheidung erkennbar dem Willen des Gesetzgebers entspreche. Zwar seien gegen dieses Urteil im Schrifttum Einwendungen erhoben worden; auch habe der Sozialpolitische Ausschuß zur Neuregelung des Unfallversicherungsgesetzes in der Drucks IV/928 offenbar eine anderweitige Ansicht vertreten. Gleichwohl sei der Wortlaut von § 1291 Abs 2 RVO weder durch das Rentenreformgesetz vom 16. Oktober 1972 noch durch das Rentenversicherungs-Änderungsgesetz vom 30. April 1973 in der hier interessierenden Frage geändert worden, was für die Übereinstimmung der Auslegung des Gesetzes durch das BSG mit der Auffassung des Gesetzgebers spreche. Das Berufungsgericht hat schließlich ausgeführt, dem von der Klägerin angeführten Beschluß des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 12. November 1974 - 1 BvR 505/68 - (SozR 3100 § 44 Nr 2 = NJW 1975, 341) sei nichts Gegenteiliges zu entnehmen.

Die Klägerin hat gegen die Nichtzulassung der Revision im Ber Rechtssache habe aus mehrfachem Grund grundsätzliche Bedeutung. Dies ergebe sich einmal daraus, daß das LSG Niedersachsen in seinem Urteil vom 20. Dezember 1972 - L 2 J 63/72 - (Breith 1973, 390) die Rechtsfrage anders entschieden habe. Das sei auch Gegenstand der mündlichen Verhandlung vor dem LSG gewesen; es müsse verwundern, daß darüber in den Urteilsgründen nichts zu finden sei. Zum anderen entnimmt die Klägerin die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache dem Beschluß des BVerfG vom 12. November 1974 (aaO). Danach verstoße es gegen den allgemeinen Gleichheitssatz (Art 3 Abs 1 des Grundgesetzes - GG -) iVm dem Sozialstaatsprinzip (Art 20 Abs 1 GG), daß § 44 Abs 2 BVG Kriegerwitwen, deren neue Ehe aus ihrem alleinigen oder überwiegenden Verschulden geschieden worden ist, vom Wiederaufleben der Witwenversorgung ausschließe. Schließlich leitet die Klägerin die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache noch daraus her, in der Regel habe die Witwe durch ihre Haushaltsführung ihre Verpflichtung erfüllt, durch Arbeit zum Unterhalt der Familie und damit auch zum Unterhalt des verstorbenen Ehemannes beizutragen (§ 1360 Satz 2 des Bürgerlichen Gesetzbuches - BGB -). Dadurch habe sie es erst dem versicherten Ehemann ermöglicht, Beiträge für die Rentenversicherung zu leisten. Um die so erlangte eigene Position rechtlicher und wirtschaftlicher Art dürfe sie nicht dadurch gebracht werden, daß ihre dritte Ehe geschieden worden sei.

 

Entscheidungsgründe

II.

Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Berufungsgerichts ist begründet. Die Revision ist zuzulassen.

Wie die Klägerin ausreichend dargelegt hat, erblickt sie die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache darin, daß eine Witwenrente nach § 1291 Abs 2 RVO auch dann wieder auflebt, wenn eine dritte oder weitere Ehe durch Scheidung aufgelöst worden ist. Es kann offenbleiben, ob diese Rechtsfrage auf Grund des Beschlusses des BVerfG vom 12. November 1974 (SozR 3100 § 44 Nr 2) als klärungsbedürftig anzusehen ist. Jedenfalls ist sie, wie die Klägerin dargelegt hat, deshalb klärungsbedürftig, weil die bisherige Rechtsprechung des BSG zu § 1291 Abs 2 RVO sowie zu weiteren Vorschriften, wonach die Witwenrente aus der Versicherung des ersten Ehemannes nach Auflösung der dritten Ehe nicht wieder auflebt (BSG SozR Nr 30 zu § 1291 RVO), nicht nur Widerspruch erfahren hat - insoweit verweist die Klägerin auf das Urteil des LSG Niedersachsen vom 20. Dezember 1972 (L 2 J 63/72 (Breith 1973, 390)) -, sondern auch einen nicht so entfernt liegenden und durchaus erwägenswerten Gedanken vorgebracht hat. Die Klägerin hat nämlich darauf hingewiesen, regelmäßig habe die Rentenbewerberin in ihrer ersten Ehe durch ihre Haushaltsführung zum Familienunterhalt (§ 1360 Satz 2 BGB) beigetragen und dadurch auch die Beitragsleistung des Versicherten ermöglicht, worauf beim Wiederaufleben der Rente zurückgegriffen werde. Dieser Rückgriff auf die frühere Beitragsleistung des Versicherten könne nicht von der Zahl der Ehen abhängig gemacht werden. Allerdings ist eine Rechtsfrage in der Regel dann nicht mehr klärungsbedürftig, wenn sie vom Revisionsgericht bereits geklärt ist (Weyreuther, Revisionszulassung und Nichtzulassungsbeschwerde in der Rechtsprechung der obersten Bundesgerichte, 1971, S 29, Rd Nr 65 mit Nachweisen). Das bedeutet indessen nicht, daß die Rechtsfrage überhaupt nicht mehr einer weiteren Überprüfung durch das Revisionsgericht zugeführt werden kann (Weyreuther, aaO Rd Nr 66). Von der Regel kann abgewichen werden und die Klärungsbedürftigkeit einer Rechtsfrage ausnahmsweise bejaht werden, wenn der Rechtsprechung in nicht geringfügigem Umfang widersprochen wird und gegen sie keineswegs von vornherein abwegige Einwendungen vorgebracht werden. So ist es hier. Die Rechtsprechung des BSG zu der hier maßgeblichen Rechtsfrage der Rentenwiedergewährung nach dritter oder weiterer Ehe (BSGE 23, 124 = SozR Nr 5 zu § 1302 RVO = SGb 1966, 517 mit ablehnenden Anmerkungen von Hildegard Krüger; SozR Nr 30 zu § 1291 RVO = DRV 1971, 166 mit Besprechung durch Tannen; SozR Nr 2 zu § 83 des Reichsknappschaftsgesetzes; BSGE 12, 127 = SozR Nr 4 zu § 44 BVG; BSGE 15, 246 = SozR Nr 5 aaO; BSGE 17, 120 = SozR Nr 6 aaO; BSGE 26, 77 = SozR Nr 10 aaO = FamRZ 1967, 392 mit kritischer Anmerkung von Bosch; SozR Nr 19 aaO = FamRZ 1973, 640 mit ablehnender Anmerkung von Beitzke; SozR Nr 4 zu § 42 BVG) hat sowohl Zustimmung wie Ablehnung ausgelöst (zB Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Bd III, S 720q, Stand: Februar 1975 mit Nachweisen; VerbKomm § 1291 Anm 3; Söchting, SozVers 1971, 63; Trolldenier, Mitt LVA Rheinprovinz 1971, 350, 388, 395; Eichhorn, BG 1974, 36; Lauterbach, Unfallversicherung, 3. Aufl, Stand: 25. Lieferung September 1974, § 615 Anm 4e). Die Klägerin hat allerdings derartige Einzelheiten aus den Stimmen zur Rechtsprechung des BSG nicht angeführt. Sie hat aber - und dies reicht zur Darlegung der Klärungsbedürftigkeit der Rechtsfrage aus - auf das von der Rechtsprechung des BSG abweichende Urteil des LSG Niedersachsen vom 20. Dezember 1972 - L 2 J 63/72 - (Breith 1973, 390), das sich auf die Gegenstimmen von Spallek, SozSich 1961, 148, Lohmann, SozVers 1964, 9, Straub, SGb 1964, 113 und Söchting, aaO, 1961, 63 berufen hat (aaO 391), verwiesen und damit ausreichend die Problematik als solche gekennzeichnet. Selbst wenn man dies in dieser Form allein nicht gelten lassen wollte, wäre jedenfalls dieser Hinweis auf das Urteil des LSG Niedersachsen iVm dem oben erwähnten erwägenswerten Gedanken geeignet, die Klärungsbedürftigkeit der Rechtsfrage darzutun.

 

Fundstellen

NJW 1976, 911

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