Entscheidungsstichwort (Thema)

Grundsätzliche Bedeutung der Rechtsfrage bei vergleichbarer höchstrichterlicher Rechtsprechung. Anrechnung eines fiktiven Unterhaltsanspruchs bei wiederaufgelebter Witwenrente

 

Leitsatz (amtlich)

1. Eine die Bedeutung einer Norm betreffende Rechtsfrage ist nicht mehr klärungsbedürftig, wenn zur Auslegung vergleichbarer Regelungen schon höchstrichterliche Entscheidungen ergangen sind, die ausreichende Anhaltspunkte dafür geben, wie die konkret aufgeworfene Frage zu beantworten ist.

2. Es ist durch die Rechtsprechung zum Beamten- und Kriegsopferversorgungsrecht (vgl BVerwG vom 25.1.1961 - VI C 3.59 = BVerwGE 11, 350 und BSG vom 2.10.1975 - 10 RV 477/74 = BSGE 40, 260 = SozR 3100 § 44 Nr 5) hinreichend geklärt, daß auch im Bereich der gesetzlichen Rentenversicherung auf die wiederaufgelebte Witwenrente (hier § 1291 Abs 2 RVO) keine Anrechnung eines fiktiven Unterhaltsanspruchs der Witwe gegen ihren zweiten Ehemann stattfindet, wenn diese durch ein offensichtlich schwerwiegendes ehewidriges Verhalten gemäß § 1579 Nr 6 BGB einen nachehelichen Unterhaltsanspruch verwirkt hat.

 

Normenkette

SGG § 160 Abs. 2 Nr. 1; RVO § 1291 Abs. 2 S. 2; BGB § 1579 Nr. 6

 

Verfahrensgang

Bayerisches LSG (Entscheidung vom 02.06.1992; Aktenzeichen L 5 Ar 489/91)

SG Nürnberg (Entscheidung vom 30.04.1991; Aktenzeichen S 5 Ar 254/90)

 

Tatbestand

Im Ausgangsverfahren ist die Anrechnung eines fiktiven Unterhaltsanspruchs auf die wiederaufgelebte Witwenrente der Klägerin streitig.

Die 1940 geborene Klägerin bezog nach dem Tode ihres ersten Ehemannes bis zu ihrer Wiederheirat Witwenrente von der Beklagten. Die zweite Ehe wurde geschieden, nachdem sich die Klägerin einem anderen Mann zugewandt hatte und aus der ehelichen Wohnung ausgezogen war. Im Scheidungsverfahren verzichteten die Klägerin und ihr zweiter Ehemann wechselseitig auf nachehelichen Unterhalt.

Auf die der Klägerin gewährte, wiederaufgelebte Witwenrente rechnete die Beklagte mit Bescheid vom 7. August 1989 einen Unterhaltsanspruch der Klägerin gegen den zweiten Ehemann an. Der nach erfolglosem Widerspruch (Widerspruchsbescheid der Beklagten vom 21. Februar 1990) erhobenen Klage gab das Sozialgericht (SG) Nürnberg statt. Durch Urteil vom 30. April 1991 verpflichtete es die Beklagte, die Witwenrente ohne Anrechnung von Unterhaltsansprüchen zu gewähren. Die Berufung der Beklagten blieb ohne Erfolg. Nach dem Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts (LSG) vom 2. Juni 1992 läßt sich ein anrechenbarer Unterhaltsanspruch der Klägerin, der hier nach § 1579 Nr 6 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) wegen ihres ehewidrigen Verhaltens ausgeschlossen sei, auch nicht im Hinblick darauf unterstellen, daß die Klägerin ihn durch eigenes Verschulden verwirkt habe. Es gebe nach Inkrafttreten des Rentenreformgesetzes 1972 (RRG 1972) im Gesetz keinen Anknüpfungspunkt mehr für die Herstellung eines Zusammenhanges zwischen ehelichem oder nachehelichem Fehlverhalten in der zweiten Ehe und dem Anspruch auf wiederaufgelebte Witwenrente.

Mit ihrer Nichtzulassungsbeschwerde macht die Beklagte im wesentlichen eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache geltend. Die entscheidungserhebliche Frage, ob ein wegen groben ehelichen Fehlverhaltens vor der Scheidung verwirkter Unterhaltsanspruch gegen den zweiten Ehemann auf die wiederaufgelebte Witwenrente nach dem ersten Ehemann angerechnet werden kann, sei klärungsbedürftig.

 

Entscheidungsgründe

Die Beschwerde der Beklagten ist nicht begründet.

Die Revision kann nur aus den in § 160 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) genannten Gründen - grundsätzliche Bedeutung, Abweichung, Verfahrensmangel - zugelassen werden. Die Beklagte beruft sich sowohl auf eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache als auch auf eine Abweichung von einer Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG). Damit kann sie keinen Erfolg haben.

Grundsätzlich bedeutsam im Sinne des § 160 Abs 2 Nr 1 SGG ist eine Rechtssache, wenn sie eine Rechtsfrage grundsätzlicher Art aufwirft, die klärungsbedürftig ist. Die Frage darf sich nicht unmittelbar und ohne weiteres aus dem Gesetz beantworten lassen oder bereits von der höchstrichterlichen Rechtsprechung entschieden sein (vgl BSG SozR 1500 § 160a Nr 4). Diese Voraussetzung erfüllt die von der Beklagten herausgestellte Frage nicht. Das BSG hat diese Frage zwar noch nicht ausdrücklich entschieden, es sind jedoch zur Auslegung vergleichbarer Regelungen schon höchstrichterliche Entscheidungen ergangen, die ausreichende Anhaltspunkte zu ihrer Beantwortung geben (vgl allgemein Kummer, Die Nichtzulassungsbeschwerde, 1990, RdNr 117). Dabei ist mit dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) davon auszugehen, daß die Wiederauflebensregelung im Sozialversicherungsrecht mit den entsprechenden Bestimmungen im Beamten- und Kriegsopferversorgungsrecht vergleichbar ist, weil hier das gleiche familienpolitische Problem vom Gesetzgeber übereinstimmend gelöst worden ist (vgl BVerfGE 38, 187, 203 ff, 205). Mithin kann die zu den anderen Rechtsgebieten vorliegende höchstrichterliche Rechtsprechung auch für die Beurteilung der Anrechnung von (fiktiven) Unterhaltsansprüchen im Rahmen des § 1291 Abs 2 Satz 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) herangezogen werden. Insofern ist zu beachten, daß nach einer Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) vom 25. Januar 1961 (BVerwGE 11, 350) das Witwengeld der wiederverheirateten Beamtenwitwe nach der Scheidung der zweiten Ehe auch dann wiederauflebt, wenn die Ehegatten eigens zu diesem Zweck die Scheidung betrieben haben. In solch einem Fall dürfen selbst tatsächliche Zuwendungen des geschiedenen zweiten Ehemannes, auf die kein Anspruch besteht, nicht den in der Wiederauflebensregelung behandelten Unterhaltsansprüchen gleichgestellt und wie diese auf das Witwengeld angerechnet werden (vgl BVerwGE 11, 350, 354). Dieser Rechtsprechung hat sich das BSG bereits für den Bereich der Kriegsopferversorgung angeschlossen. In seinem Urteil vom 2. Oktober 1975 hat es ausgeführt, daß der Anspruch auf Witwenversorgung seit Inkrafttreten des RRG 1972 umso sicherer, ungefährdeter und vollständiger - nämlich ohne Anrechnung etwaiger Unterhaltsansprüche - wiederauflebt, wenn die Ehe aus dem Alleinverschulden der Frau geschieden worden ist (vgl BSGE 40, 260, 262 = SozR 3100 § 44 Nr 5 Seite 14). Da keine Gesichtspunkte ersichtlich sind, warum diese Beurteilung nicht auch in der gesetzlichen Rentenversicherung Geltung beanspruchen kann, ist insofern keine weitere höchstrichterliche Klärung erforderlich.

Auch die gerügte Abweichung des LSG von dem Urteil des BSG vom 25. Mai 1971 (BSG SozR Nr 31 zu § 1291 RVO) liegt nicht vor (vgl § 160 Abs 2 Nr 2 SGG). Denn die letztgenannte Entscheidung ist zu der alten, durch das RRG 1972 geänderten Fassung des § 1291 RVO ergangen. Zwar ist der Wortlaut der Anrechnungsbestimmung selbst gleichgeblieben, jedoch wird deren Auslegung durch den Wegfall der Verschuldensklausel in der Wiederauflebensregelung entscheidend beeinflußt (vgl BSGE 40, 260, 264 = SozR 3100 § 44 Nr 5 Seite 16).

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1652694

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