Leitsatz (amtlich)

1. Durch die Entscheidung des BVerfG vom 1974-11-12 (1 BvR 505/68 = BVerfGE 38, 187), wonach die Witwenversorgung gemäß BVG § 44 Abs 2 ohne Rücksicht auf ein etwaiges Verschulden der Kriegerwitwe an der Scheidung der neuen Ehe wiederauflebt, ist der früheren Rechtsprechung des BSG zur Anrechnung fiktiver Unterhaltsansprüche, wenn die Witwe den Unterhaltsanspruch nachträglich gemäß EheG § 66 verwirkt hat (vergleiche BSG 1971-09-21 8 RV 311/70 = SozR Nr 16 zu § 44 BVG), die Grundlage entzogen worden.

2. Ein Fehlverhalten der Witwe nach Auflösung der neuen Ehe, das sich als Auswirkung der persönlichen Beziehungen der Ehegatten darstellt und zum Verlust des Unterhaltsanspruchs nach dem Scheidungsfolgenrecht führt, ist versorgungsrechtlich unbeachtlich.

 

Normenkette

BVG § 44 Abs. 2 Fassung: 1975-06-09, Abs. 5 S. 1 Fassung: 1966-12-28, S. 3 Fassung: 1973-12-18; EheG § 66 Fassung: 1946-02-20; BVG § 44 Abs. 2 Fassung: 1974-08-23

 

Tenor

Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 1. August 1974 wird zurückgewiesen.

Der Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Tatbestand

Die Klägerin erstrebt die Gewährung von Witwenversorgung nach ihrem ersten Ehemann ohne Anrechnung eines Anspruchs auf - fiktive - Unterhaltsleistungen ihres geschiedenen zweiten Ehemannes.

Der erste Ehemann der Klägerin, der Bäckermeister St., ist am 21. Januar 1944 als Soldat verstorben. Die Klägerin erhielt Familienunterhalt und vom 1. Juni 1945 an Witwen- und Waisenversorgung. Im Oktober 1947 ging die Klägerin eine zweite Ehe mit Alfred J. ein. Diese Ehe wurde durch Urteil des Landgerichts (LG) Kiel vom 15. Mai 1956 aus der alleinigen Schuld des Ehemannes geschieden. Dieser verpflichtete sich durch notariellen Vertrag, der Klägerin ab 16. Mai 1956 eine monatlich im voraus zu zahlende Unterhaltsrente von 90,- DM zu zahlen. Mit Bescheid des Versorgungsamtes F vom 25. März 1958 wurde der Klägerin rückwirkend vom 1. Juni 1957 an eine Witwenbeihilfe unter Anrechnung eines Unterhaltsanspruchs gegen J. von monatlich 90,- DM gewährt. Diese Versorgungsleistung wurde gemäß § 44 Abs. 2 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) in der Fassung des Ersten Neuordnungsgesetzes (1. NOG) vom 1. Juni 1960 an in eine Witwenrente umgewandelt.

Mit Schreiben vom 4. Oktober 1962 teilte die Klägerin dem Versorgungsamt mit, daß sie seit dem 1. März 1962 dem Hausmeister Sp. gegen freie Unterkunft und Verpflegung und ohne Barleistungen den Haushalt führe. Auf Grund eines Urteils des Amtsgerichts (AG) Kiel vom 19. Juni 1962 erhalte sie von ihrem geschiedenen Ehemann keinen Unterhalt mehr. In diesem Urteil heißt es u. a., die Klägerin lebe mit Sp. in einem eheähnlichen Verhältnis; das gelte insbesondere für die Haushaltsführung und die Haushaltskosten. Die Klägerin habe aus dem Zusammenleben mit Sp. einen nicht unerheblichen wirtschaftlichen Nutzen. Unter den gegebenen Verhältnissen müsse der Anspruch gegen J. auf Zahlung von Unterhalt als verwirkt angesehen werden. Die Klägerin sei unter Berücksichtigung ihrer Versorgungsrente von 130,- DM und der Zuwendungen, die sie von Sp. erhalte, auch nicht mehr als unterhaltsbedürftig anzusehen. Das Versorgungsamt stellte durch mehrere Bescheide (vom 12. Oktober 1962, 10. Januar 1963, 21. April und 22. April 1964) die vom Einkommen abhängigen Leistungen neu fest. Die freie Station bei Sp. wurde mit 120,- DM monatlich bewertet; ein Unterhaltsanspruch gegen J. wurde unter Berücksichtigung der Einkommensverhältnisse der Klägerin nicht angerechnet.

Am 12. August 1965 teilte die Klägerin dem Versorgungsamt mit, daß sie sich von Sp. getrennt habe. Es erging der Neufeststellungsbescheid vom 20. August 1965; die Versorgungsbezüge (einschließlich Schadensausgleich) beliefen sich ab 1. September 1965 auf 387,- DM monatlich. Das Versorgungsamt prüfte in der Folgezeit die Unterhaltsfähigkeit des geschiedenen zweiten Ehemannes und stellte eine zumutbare Unterhaltsleistung von monatlich 240,- DM fest. Diesen Betrag rechnete das Versorgungsamt auf die der Klägerin ab 1. Dezember 1966 zu gewährenden Versorgungsbezüge an (Zahlbetrag monatlich 172,- DM). Eine Unterhaltsklage der Klägerin gegen ihren geschiedenen Ehemann wurde durch Urteil des AG Kiel vom 22. November 1967 mit der Begründung abgewiesen, eine Unterhaltszahlung sei im Hinblick auf dessen Gesamtverpflichtungen nicht zumutbar. Daraufhin erging der Abhilfebescheid vom 13. April 1967; ein Unterhaltsbetrag des geschiedenen Ehemannes wurde nicht mehr in Anrechnung gebracht.

Mit Schreiben vom 18. Februar 1971 forderte das Versorgungsamt die Klägerin auf, ihre Unterhaltsansprüche gegen den geschiedenen Ehemann erneut gerichtlich geltend zu machen, weil der gemeinsame Sohn Bernd seit November 1970 verheiratet sei und keinen Unterhalt mehr von seinem Vater beziehe. Ein Armenrechtsantrag der Klägerin wurde vom AG Kiel und vom LG Kiel mit Rücksicht auf die Versorgungsbezüge der Klägerin abgelehnt. Der gleichwohl durchgeführte Unterhaltsrechtsstreit blieb erfolglos. Das AG Kiel hat die Klage durch Urteil vom 7. Februar 1973 abgewiesen. Das LG Kiel hat die Berufung der Klägerin durch Urteil vom 4. Mai 1973 zurückgewiesen: Der Unterhaltsanspruch der Klägerin sei nach dem rechtskräftig gewordenen Urteil des AG Kiel vom 19. Juni 1962 gem. § 66 Ehegesetz (EheG) verwirkt.

Das Versorgungsamt K rechnete in dem angefochtenen Bescheid vom 11. Juni 1971 mit Wirkung vom 1. August 1971 einen zumutbaren Unterhaltsbeitrag des geschiedenen Ehemannes von - vorläufig - 100,- DM monatlich an. Das Landesversorgungsamt wies den Widerspruch der Klägerin durch Bescheid vom 16. November 1971 zurück.

Das Sozialgericht (SG) hat den Beklagten durch Urteil vom 9. November 1972 verpflichtet, der Klägerin einen Bescheid zu erteilen, nach welchem ihr über den 31. Juli 1971 hinaus Versorgungsbezüge ohne Anrechnung von Unterhaltsleistungen des geschiedenen Ehemannes J. zu gewähren sind; das SG hat die Berufung zugelassen. Das Landessozialgericht (LSG) hat durch Urteil vom 1. August 1974 die Berufung des Beklagten zurückgewiesen. Eine fiktive Unterhaltsleistung des geschiedenen Ehemannes dürfe nicht angerechnet werden. Die zweite Ehe der Klägerin sei aus der Alleinschuld des Ehemannes geschieden worden; daher sei der Anspruch der Klägerin auf Witwenversorgung gemäß § 44 Abs. 2 BVG wieder aufgelebt. Einen Unterhaltsverzicht habe die Klägerin zu keinem Zeitpunkt ausgesprochen. Der Verlust des zivilrechtlichen Unterhaltsanspruchs beruhe auf der in dem rechtskräftigen Urteil des AG Kiel vom 19. Juni 1962 ausgesprochenen Verwirkung. Entgegen der Auffassung des Beklagten seien die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit bei der Entscheidung über einen anderen Streitgegenstand und zwischen anderen Beteiligten an die Rechtskraft eines Urteils der ordentlichen Gerichtsbarkeit nicht gebunden, sondern hätten Vorfragen, hier die Verschuldensfrage für die Verwirkung, selbständig zu prüfen. Eine Ausnahme gelte lediglich für den Schuldausspruch in einem Scheidungsurteil; das beruhe jedoch auf der Statuswirkung dieses Urteils. Ungeachtet der Rechtskraft des Urteils des AG Kiel vom 19. Juni 1962 habe daher der Senat von sich aus prüfen müssen, ob die Klägerin durch ihr Verschulden die Voraussetzungen für die Verwirkung des Unterhaltsanspruchs gegen ihren zweiten Ehemann im Sinne des § 66 EheG erfüllt habe, d. h. ob ihr ein ehrloser oder unsittlicher Lebenswandel nach rechtskräftiger Ehescheidung vorgeworfen werden könne. Das sei jedoch nach heutiger Auffassung eindeutig nicht der Fall. Die Klägerin müsse daher nach dem gesamten Sachverhalt so gestellt werden, als ob sie ihre Versorgungsansprüche aus der neuen Ehe nicht verwirklichen könne.

Hiergegen richtet sich die vom LSG zugelassene Revision des Beklagten.

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des 2. Senats des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 1. August 1974 sowie das Urteil des Sozialgerichts Kiel vom 9. November 1972 aufzuheben und die Klage in vollem Umfang abzuweisen.

Er rügt eine Verletzung des § 44 Abs. 5 BVG und trägt dazu vor, die Klägerin habe ihren Unterhaltsanspruch gegen ihren geschiedenen zweiten Ehemann auf Grund des rechtsverbindlichen Urteils des AG Kiel vom 19. Juni 1962 verwirkt, weil die Voraussetzungen für eine Verwirkung, nämlich schwere Verfehlungen im Sinne des § 66 EheG, seinerzeit als erfüllt angesehen worden seien. Die Vorschrift des § 44 Abs. 2 BVG zeige, daß es für ein Wiederaufleben der Witwenrente entscheidend auf das (schuldhafte) Verhalten der Witwe ankomme. Die Anrechnungsvorschrift des § 44 Abs. 5 BVG charakterisiere die Witwenrente nach § 44 Abs. 2 BVG als eine subsidiäre Leistung. Das BSG habe in seinen Urteilen vom 26. Mai 1971 und 21. September 1971 der nachträglichen Verwirkung von Unterhaltsansprüchen im Sinne des § 66 EheG keine andere rechtliche Bedeutung beigemessen als dem unverständigen Verzicht auf solche Forderungen. Der Beklagte als Verwaltung und die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit seien an die Entscheidungen der Zivilgerichte über die Verwirkung eines Unterhaltsanspruchs nach § 66 EheG gebunden. Andernfalls klaffe eine Lücke zwischen "zivilgerichtlicher Verwirkung" und "versorgungsrechtlicher Verwirkung" auf, die vom Gesetzgeber, der die wiederaufgelebte Witwenrente subsidiär ausgestaltet habe, nicht gewollt sein könne. Sowohl der Schuldausspruch im Scheidungsurteil als auch die Verwirkung eines Unterhaltsanspruchs im Sinne des § 66 EheG hingen entscheidend vom Verhalten der Witwe ab, wie auch die Gewährung der Witwenrente nach § 44 Abs. 2 BVG und die zwingend vorgeschriebene Anwendung des § 44 Abs. 5 BVG vom Verhalten der Witwe abhingen. Eine Trennung zwischen der Schuld an der Scheidung und der Schuld an der Verwirkung nach § 66 EheG mit der Folge, daß die Schuld an der Scheidung nicht nachprüfbar, die Schuld an der Verwirkung dagegen nachprüfbar sei, sei deshalb gerade wegen der Subsidiarität der Rente nach § 44 Abs. 2 BVG nicht zulässig.

Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die durch Zulassung gemäß § 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) aF statthafte Revision ist vom Beklagten frist- und formgerecht eingelegt und begründet worden (§§ 164, 166 SGG); sie ist daher zulässig. Der Beklagte konnte mit seinem Rechtsmittel jedoch keinen Erfolg haben. Das LSG hat im Ergebnis zutreffend entschieden, daß der Klägerin Witwenversorgung auch über den 31. Juli 1971 hinaus ohne Anrechnung eines - fiktiven - Unterhaltsbeitrags ihres geschiedenen zweiten Ehemannes zu gewähren ist.

Der erste Ehemann der Klägerin (St.) ist als Soldat an einem Kriegsleiden verstorben. Der Klägerin stand daher ein Anspruch auf Versorgung nach den früheren versorgungsrechtlichen Vorschriften zu (vgl. WFVG vom 26. August 1938, RGBl I S. 1077). Dieser Anspruch entfiel mit der Wiederheirat der Klägerin im Oktober 1947. Die - zweite - Ehe der Klägerin ist durch Urteil des LG Kiel vom 15. Mai 1956 aus dem Alleinverschulden des Ehemannes geschieden worden. Der Klägerin konnte daher gemäß § 44 Abs. 4 BVG (in der Fassung des 5. Gesetzes zur Änderung des BVG vom 6. Juni 1956, BGBl I S. 463) eine Beihilfe in Höhe von zwei Dritteln der Witwenrente gewährt werden. Aufgrund der Neufassung des § 44 BVG durch das 1. NOG (vom 27. Juni 1960, BGBl I S. 453) lebte der Anspruch auf Witwenrente (vgl. 3. NOG: Anspruch auf "Witwenversorgung") in voller Höhe wieder auf (vgl. § 44 Abs. 2 BVG n. F.). Für die folgende Zeit kann dahinstehen, ob die Versorgungsverwaltung einen Unterhaltsanspruch gegen den geschiedenen zweiten Ehemann mit Rücksicht auf die Einkommensverhältnisse der Klägerin (durch ihre Haushaltstätigkeit bei Sp.) verneint und ob sie später geglaubt hat, an das Urteil des AG Kiel vom 22. November 1967, durch das die Unterhaltsklage der Klägerin abgewiesen worden war, gebunden zu sein. Jedenfalls hat die Versorgungsverwaltung in dem Abhilfebescheid vom 13. April 1967 einen Unterhaltsbeitrag des geschiedenen Ehemannes nicht mehr in Anrechnung gebracht.

Die von dem Beklagten in dem angefochtenen Bescheid vom 11. Juni 1971/Widerspruchsbescheid vom 16. November 1971 vorgenommene Anrechnung eines - fiktiven - Unterhaltsbeitrags des geschiedenen Ehemannes in Höhe von 100,- DM monatlich ist rechtswidrig. Der Beklagte hat sich insoweit nicht auf die mit Urteil des AG Kiel vom 19. Juni 1962 ausgesprochene "Verwirkung" des Unterhaltsanspruchs stützen können. Nach § 44 Abs. 5 BVG (in der hier maßgebenden Fassung des 3. NOG vom 28. Dezember 1966, BGBl I S. 750) sind Unterhaltsansprüche, die sich aus der neuen Ehe herleiten, auf die Witwenrente nach Absatz 2 anzurechnen, "soweit sie zu verwirklichen sind". Hat die Witwe ohne verständigen Grund auf einen Unterhaltsanspruch verzichtet, so ist der Betrag anzurechnen, den der frühere Ehemann ohne den Verzicht zu leisten hätte (Satz 2). Diese Bestimmung kann auf die Klägerin schon deshalb nicht unmittelbar angewendet werden, weil sie zu keinem Zeitpunkt einen Verzicht auf ihre Unterhaltsansprüche ausgesprochen hat. Diese sind ihr vielmehr durch das Urteil des AG Kiel vom 19. Juni 1962 rechtskräftig aberkannt worden (vgl. auch Urteil des LG Kiel vom 4. Mai 1973). Nach der Rechtsprechung des BSG (vgl. Urteile vom 26. Mai 1971, SozR RVO Nr. 31 zu § 1291, und vom 21. September 1971, SozR BVG Nr. 16 zu § 44) ist jedoch ein infolge Auflösung der zweiten Ehe erworbener Unterhaltsanspruch auch dann - als fiktives Einkommen - auf die wiederaufgelebte Witwenrente nach § 44 Abs. 5 BVG anzurechnen, wenn die Witwe den Unterhaltsanspruch nachträglich gem. § 66 EheG verwirkt hat. Der nachträglichen Verwirkung von Unterhaltsansprüchen im Sinne des § 66 EheG ist also die gleiche rechtliche Bedeutung beigemessen worden wie dem unverständigen Verzicht auf einen solchen Anspruch.

Für die rechtliche Beurteilung kann dahinstehen, ob die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit im Rahmen des § 44 Abs. 2 und 5 BVG nur an den Schuldausspruch im Scheidungsurteil gebunden sind (vgl. BSGE 10, 171; 17, 283; 30, 220) oder ob sich die Bindungswirkung, wie der Beklagte meint, auch auf die von einem Zivilgericht ausgesprochene Verwirkung des Unterhaltsanspruchs nach § 66 EheG erstreckt. - Bedenken gegen diese Auffassung bestehen im vorliegenden Falle insbesondere deshalb, weil das Urteil des AG Kiel vom 19. Juni 1962 nicht eindeutig erkennen läßt, ob darin tatsächlich eine Verwirkung ausgesprochen oder ob der Unterhaltsanspruch der Klägerin deshalb entzogen worden ist, weil sie im Hinblick auf den "nicht unerheblichen wirtschaftlichen Nutzen" aus dem Zusammenleben mit Sp. nicht mehr als unterhaltsbedürftig angesehen wurde. - Auf eine Entscheidung dieser Frage kommt es im vorliegenden Fall deshalb nicht mehr an, weil durch die Entscheidung (Beschluß) des Bundesverfassungsgerichts(BVerfG) vom 12. November 1974 (vgl. BVerfGE 38, 187 = SozR 3100 Nr. 2 zu § 44 BVG) eine neue Rechtslage geschaffen und damit der gesamte Komplex der wideraufgelebten Witwenrente einer neuen Betrachtung zugeführt worden ist. Nach dieser Entscheidung verstößt es gegen den allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz - GG -) i. V. m. dem Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG), daß § 44 Abs. 2 BVG Kriegerwitwen, deren neue Ehe aus ihrem alleinigen oder überwiegenden Verschulden geschieden worden ist, vom Wiederaufleben der Witwenversorgung ausschließt. Das BVerfG hat die Verschuldensklausel in dieser Vorschrift für nichtig erklärt mit der Folge, daß dadurch die gesetzliche Anspruchsgrundlage erweitert worden und nunmehr allen Witwen nach Auflösung der neuen Ehe wieder Witwenversorgung zu gewähren ist. Versorgungsgrund für das Wiederaufleben der Witwenversorgung ist nach der Auffassung des BVerfG "immer nur der als Schädigungsfolge anerkannte Tod des ersten Mannes" (vgl. auch Bundesverwaltungsgericht - BVerwG - E 31, 197). Es darf nicht Aufgabe des Versorgungsrechts sein, vermittels einer staatlichen Leistung, deren Ansatzpunkt ganz außerhalb der ehelichen Gemeinschaft zwischen der Witwe und ihrem neuen Ehepartner liegt, auf das Verhalten (Verschulden) der Witwe und auf die Entscheidung der Parteien über die Lösung der Ehe Einfluß zu nehmen (vgl. BVerfG aaO).

Die Entscheidungen des BVerfG haben gemäß § 94 Abs. 2 GG i. V. m. § 31 Abs. 2 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht (BVerfGG) Gesetzeskraft. Mit der Entscheidung des BVerfG vom 12. November 1974 ist die erwähnte Vorschrift des BVG rückwirkend von Anfang an als nichtig erklärt worden (vgl. BVerfGE 7, 387; BSGE 29, 186); § 44 Abs. 2 BVG ist daher auch für die Vergangenheit ohne die Verschuldensklausel zu lesen und anzuwenden. Der bisher bestehende Zusammenhang zwischen dem eherechtlichen Unterhaltsanspruch (§ 58 EheG) und dem Versorgungsanspruch nach § 44 Abs. 2 BVG - Ehescheidung aus dem alleinigen oder überwiegenden Verschulden der Frau; alsdann kein Unterhaltsanspruch gegen den geschiedenen Ehemann, aber auch kein Anspruch auf Wiederaufleben der Witwenrente - ist damit kraft Gesetzes aufgelöst worden (vgl. auch § 1291 Abs. 2 RVO i. d. F. des Rentenreformgesetzes - RRG - vom 16. Oktober 1972, BGBl I S. 1965). Nunmehr lebt der Anspruch auf die Witwenversorgung um so sicherer, ungefährdeter und vollständiger - nämlich ohne Anrechnung etwaiger Unterhaltsansprüche - wieder auf, wenn die Ehe aus dem Alleinverschulden der Frau (Kriegerwitwe) geschieden worden ist. Wie das BVerwG für das Beamtenrecht bereits entschieden hat (vgl. BVerwGE 31, 197 = FamRZ 1969, 277; s. auch 11, 350), gelangt eine Frau in den Genuß der wiederaufgelebten Witwenrente auch dann, wenn sie wissentlich und schuldhaft, ja vielleicht sogar zielstrebig ihre (zweite) Ehe und damit im Ergebnis auch ihre Existenzsicherung innerhalb dieser Ehe zerstört hat.

Kommt es aber für das Wiederaufleben der Witwenversorgung auf ein Verschulden der Ehefrau nicht an, dann muß auch ein Fehlverhalten der Witwe nach Auflösung der zweiten Ehe, das sich als Auswirkung der persönlichen Beziehungen zwischen den geschiedenen Ehegatten darstellt, als versorgungsrechtlich unbeachtlich angesehen werden. Eingriffe in den Persönlichkeitsbereich der Witwe und "Sanktionen" wegen ihre Lebenswandels sind sowohl für die Zeit vor als auch nach der Scheidung unstatthaft. Wenn das BVerfG die bisherige - verfassungswidrige - Regelung des § 44 Abs. 2 BVG ausdrücklich als "Scheidungsstrafe" bezeichnet hat, dann fehlt für eine Auslegung des § 44 Abs. 5 BVG, die an § 44 Abs. 2 orientiert war, nicht nur die Rechtsgrundlage, sondern eine derartige Verwirkung muß als "Nachscheidungsstrafe" qualifiziert werden (vgl. im übrigen zur Verwirkung von Unterhaltsansprüchen der geschiedenen Frau durch ein eheähnliches Zusammenleben mit einem anderen Mann RGZ 165, 26, 29 und insbesondere BGHZ 31, 210, 216; nach dieser Entscheidung des BGH, die bereits am 11. November 1959 ergangen ist, hätte das Urteil des AG Kiel vom 19. Juni 1962 mit der darin ausgesprochenen "Verwirkung" des Unterhaltsanspruchs nicht ergehen dürfe).

Soweit das BVerfG das Wideraufleben der Witwenversorgung für alle Witwen "vorbehaltlich des § 44 Abs. 5 BVG" ausgesprochen hat, hat es ersichtlich nur die in dieser Vorschrift unmittelbar geregelten Tatbestandsvoraussetzungen im Auge gehabt. Das ergibt sich einmal aus dem Hinweis des BVerfG, daß sich die Anrechnung fiktiver Unterhaltsleistungen, auf die die Witwe ohne verständigen Grund verzichtet hat (§ 44 Abs. 5 BVG), aus dem Bestreben erklärt, "Manipulationen" der geschiedenen Ehegatten auszuschalten. Es wird besonders deutlich durch die weiteren Ausführungen des BVerfG, wonach der mit der gesetzlichen Regelung (§ 44 Abs. 2 BVG) verfolgte Zweck - nämlich aus familienpolitischen Gründen das soziale Phänomen der sog. Onkelehen zu bewältigen -, am wirksamsten dadurch erreicht werden kann, wenn das in Aussicht gestellte Wiederaufleben des Versorgungsanspruchs der Witwe jede Besorgnis nimmt, eine neue, später etwa scheiternde Ehe könne sich auf die dann wieder in Betracht kommende Versorgung nachteilig auswirken (vgl. BVerfGE 25, 142, 148; BVerwGE 26, 15, 19).

Der gesetzgeberische Zweck des § 44 Abs. 5 BVG beruht auf dem Gedanken, daß die Witwe nach Auflösung der neuen Ehe versorgungsrechtlich nicht schlechter, aber auch nicht besser stehen soll als vor der Wiederheirat; sie soll keinen doppelten Unterhalt bekommen (vgl. BVerfGE 25, 142, 149; 38, 187; BVerwGE 42, 40; BT-Drucks. IV/2174 Anlage 1). Dieser gesetzgeberische Zweck erfordert es nicht, daß Unterhaltsansprüche, die der Witwe gegen ihren Willen entzogen werden und demnach "nicht zu verwirklichen" sind, weiterhin angerechnet werden und zu einer Kürzung des - unbedingten - Versorgungsanspruchs nach § 44 Abs. 2 BVG führen. Andernfalls würde eine Witwe, deren Ehe aus dem (alleinigen oder überwiegenden) Verschulden des Mannes geschieden worden ist, - und der deshalb nach § 58 EheG ein Unterhaltsanspruch zusteht, - eindeutig gegenüber einer Witwe benachteiligt sein, deren Ehe aus ihrem eigenen Verschulden geschieden worden ist. Letztere braucht mit einer Minderung oder gar einem Verlust ihres (vollen) Versorgungsanspruchs nach § 44 Abs. 2 BVG auch für die Zukunft nicht zu rechnen. Eine derartige Ungleichbehandlung bei gleicher Ausgangslage für den Versorgungsanspruch - nämlich Kriegstod des ersten Ehemannes - kann nicht rechtens sein.

Einer Anrufung des Großen Senats des BSG gemäß § 42 SGG bedarf es nicht, da sowohl der 12. Senat (Urteil vom 26. Mai 1971 in SozR RVO § 1291 Nr. 31) als auch der 8. Senat (Urteil vom 21. September 1971 in SozR BVG § 44 Nr. 16) ihre Entscheidung auf die Verschuldensklausel in § 68 Abs. 2 AVG (= § 1291 Abs. 2 RVO) bzw. § 44 Abs. 2 BVG aF gestützt haben. Diese Verschuldensklausel ist aber sowohl im Rentenrecht (vgl. Art. 1 § 1 Nr. 20 RRG) als auch im Versorgungsrecht (durch die Entscheidung des BVerfG vom 12. November 1974) nachträglich entfallen. Diese Gesetzesänderung hat unmittelbare Auswirkungen auch auf die Auslegung und Anwendung des § 44 Abs. 2 BVG bzw. des § 1291 Abs. 2 Reichsversicherungsordnung (RVO).

Die vom Beklagten ausgesprochene Divergenz zwischen dem zivilrechtlichen Unterhaltsanspruch - der z. Zt. im Umbruch begriffen ist - und dem versorgungsrechtlichen Anspruch auf die wiederaufgelebte Witwenrente beruht daher nicht auf einer verschiedenartigen Auslegung der gesetzlichen Vorschriften, sondern ergibt sich unmittelbar aus dem Gesetz. Die Gewährung der Witwenrente nach § 44 Abs. 2 BVG hängt - entgegen dem bisherigen Gesetzeswortlaut und der darauf gestützten Auffassung des Beklagten - nicht (mehr) vom Verhalten der Witwe ab. Ob unter diesen Umständen noch von einer echten "Subsidiarität" dieses Versorgungsanspruchs gesprochen werden kann, mag dahinstehen (vgl. auch BVerfGE 38, 187). Jedenfalls hat § 44 Abs. 5 BVG lediglich insoweit Bedeutung, als eine Doppelversorgung vermieden werden soll. Daher ist nur eine "selbstgeschaffene Versorgungslücke" - durch einen freiwilligen Verzicht der Witwe ohne verständigen Grund (vgl. Urteil BSG vom 22.8.1975, 11 RA 150/74) - versorgungsrechtlich zu beachten, nicht aber ein Entzug des Unterhaltsanspruchs durch Richterspruch, wobei die Verwirkung aus einem "ehrlosen oder unsittlichen Lebenswandel" der Witwe hergeleitet wird (vgl. § 66, 2. Alternative EheG). Ob etwas anderes gelten muß, wenn die Witwe "sich nach der Scheidung einer schweren Verfehlung gegen den Verpflichteten schuldig macht" (vgl. § 66, 1. Alternative EheG) oder unter Verstoß gegen allgemeine Rechtsgrundsätze (Böswilligkeit, Gesetzesumgehung) und trotz Bestehens eines zivilrechtlichen Unterhaltsanspruchs den ungekürzten Versorgungsanspruch erreichen will, braucht hier nicht erörtert zu werden, weil dafür im vorliegenden Falle jegliche Anhaltspunkte fehlen. Die Klägerin hat mit der Durchführung des Unterhaltsprozesses (1971 bis 1973) trotz Ablehnung ihres Armenrechtsgesuches mehr getan, als ihr billigerweise zugemutet werden kann.

Der Rechtsgedanke, daß Versorgungsberechtigte, die Anspruch auf subsidiäre oder einkommensabhängige Leistungen haben, grundsätzlich gehalten sind, im Interesse der Minderung der Versorgungslast zumutbare Eigenleistungen zu erbringen und zumutbare eigene Einkommensquellen auszunützen und tunlichst zu erhalten (vgl. zB §§ 30 Abs. 7, 44 Abs. 5 Satz 3 BVG; § 9 Abs. 5 DVO zu § 30 Abs. 3 und 4 BVG), kann hier nicht zur Geltung kommen. Soweit durch den Verlust des Unterhaltsanspruchs der Witwe gegen ihren geschiedenen Ehemann eine - unfreiwillige - "Versorgungslücke" entstanden ist, beruht dies auf dem Scheidungsfolgerecht, das für die zweite Ehe maßgebend ist; eine Minderung der Versorgung der Witwe aus der früheren Ehe ist damit nicht zu rechtfertigen. Die Entscheidung des LSG, wonach die Klägerin so gestellt werden muß, als ob sie Unterhaltsansprüche aus der neuen Ehe nicht verwirklichen kann (vgl. § 44 Abs. 5 Satz 1 BVG), erweist sich daher als richtig. Der Klägerin sind weiterhin über den 31. Juli 1971 hinaus die ungekürzten Versorgungsbezüge nach § 44 Abs. 2 BVG ohne Anrechnung eines fiktiven Unterhaltsbeitrages ihres geschiedenen zweiten Ehemannes zu gewähren. Die Revision des Beklagten ist als unbegründet zurückzuweisen (§ 170 Abs. 1 SGG).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1646531

BSGE, 260

NJW 1976, 991

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