Entscheidungsstichwort (Thema)

Selbsttötung als Arbeitsunfall. Zurückweisung der Nichtzulassungsbeschwerde, da keine Rechtssache von grundsätzlicher Bedeutung

 

Orientierungssatz

1. Unter welchen Umständen ein Streß - ua Ereignisse aus dem Tätigkeitsbereich des Betriebsrates - wesentliche Ursache für eine Selbsttötung sein können, ist revisionsgerichtlich ausreichend geklärt.

2. Auch Vorgänge im Bereich des Psychischen oder Geistigen können Ursachen im Rechtssinn sein (vgl BSG 1967-02-24 2 RU 114/65 = SGb 1967, 542).

3. Einer zu psychischen Reaktionen neigenden Anlage des Versicherten kann nicht in jedem Falle von vornherein eine so überragende Bedeutung beigemessen werden, daß sie rechtlich die allein wesentliche Ursache ist und andere Einwirkungen auf die Psyche des Versicherten dadurch als rechtlich unwesentlich in den Hintergrund treten (vgl BSG 1962-12-18 2 RU 189/59 = BSGE 18, 173 und BSG 1964-05-29 2 RU 96/59). Vielmehr sind auch in solchen Fällen die gleichen Erwägungen anzustellen, wie sie von Bedeutung sind, wenn bei dem Verletzten bereits vor dem Unfall ein Leiden in der Anlage oder in fortgeschrittener Entwicklung vorhanden war. Obwohl diese Rechtsprechung an Hand von Fällen entwickelt worden ist, in denen zu entscheiden war, ob zwischen dem Arbeitsunfall und der Selbsttötung ein ursächlicher Zusammenhang besteht (haftungsausfüllende Kausalität), gelten die Ausführungen auch in den Fällen, in denen über den ursächlichen Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und der Selbsttötung (haftungsbegründende Kausalität) zu entscheiden ist, da insoweit die Kausalitätsnorm dieselbe ist.

4. Die Frage, unter welchen Voraussetzungen eine Kette von auf mehrere Arbeitsschichten verteilten Einzeleinwirkungen als Ursache einer zu entschädigenden Selbsttötung in Betracht kommt, hat ebenfalls keine grundsätzliche Bedeutung. Es genügt für die Annahme des Kausalzusammenhanges, wenn sich eine Gewalteinwirkung aus der Gesamtheit wiederholter, in mehreren Arbeitsschichten aufgetretener Gewalteinwirkungen derart hervorhebt, daß sie nicht nur als letzte von mehreren für den Erfolg gleichwertiger Gewalteinwirkungen erscheint (vgl BSG 1969-10-31 2 RU 15/69 = SozR Nr 14 zu § 548 RVO).

5. Es würde der gesetzgeberischen Absicht bei der Einführung der Nichtzulassungsbeschwerde zuwiderlaufen, wenn Verstöße gegen SGG § 128 Abs 1 S 1, die in der Regel gleichzeitig auch eine Abweichung von entsprechenden Entscheidungen des BSG bedeuten, als Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung oder Divergenz geltend gemacht werden könnten, um auf diese Weise eine Nachprüfung des Berufungsurteils hinsichtlich der Beweiswürdigung zu erreichen.

 

Normenkette

SGG § 160 Abs 2 Nr 1, § 160a Abs 2 S 3, § 160 Abs 2 Nr 3, § 128 Abs 1 S 1; RVO § 548 Abs 1 S 1, § 553 S 1

 

Verfahrensgang

Hessisches LSG (Urteil vom 25.10.1978; Aktenzeichen L 3/U - 180/74)

 

Gründe

Das Landessozialgericht (LSG) hat die Beklagte verurteilt, den Klägerinnen aus Anlaß der Selbsttötung ihres Ehemannes bzw Vaters am 18. Mai 1972 Hinterbliebenenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung zu gewähren (Urteil vom 25. Oktober 1978).

Dagegen wendet sich die Beklagte mit der Nichtzulassungsbeschwerde. Sie macht geltend, daß die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung habe und vom LSG gegen Verfahrensvorschriften verstoßen worden sei.

Die Beschwerde ist nicht begründet.

Nach § 160 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ist die Revision nur zuzulassen, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat (Nr 1) oder das Urteil von Entscheidungen des Bundessozialgerichts (BSG) oder des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes abweicht und auf dieser Abweichung beruht (Nr 2) oder ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann; der geltend gemachte Verfahrensmangel kann nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs 1 Satz 1 SGG und auf eine Verletzung des § 103 SGG nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist (Nr 3). In der Beschwerdebegründung muß nach § 160a Abs 2 Satz 3 SGG die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache dargelegt oder die Entscheidung, von der das LSG abgewichen ist, oder der Verfahrensmangel bezeichnet werden (Nr 3).

Die von der Beklagten geltend gemachte grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache erfordert, daß die Entscheidung von der Beantwortung einer Rechtsfrage abhängt, die klärungsbedürftig ist. Eine Rechtsfrage ist nicht klärungsbedürftig, wenn ihre Beantwortung unmittelbar aus dem Gesetz zu entnehmen, sie so gut wie unbestritten oder revisionsgerichtlich bereits ausreichend geklärt ist (vgl Weyreuther, Revisionszulassung und Nichtzulassungsbeschwerde in der Rechtsprechung der obersten Bundesgerichte, S 28, 29). Das BSG hat in dem von der Beklagten in ihrer Beschwerdebegründung vorangestellten unveröffentlichten Urteil vom 29. Mai 1964 - 2 RU 96/59 - nicht zu entscheiden gehabt, ob es eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung ist, unter welchen Voraussetzungen eine Selbsttötung als Folge eines Arbeitsunfalls anzunehmen ist. In jener Streitsache war die Revision vom LSG zugelassen worden. Der Beklagte hatte jedoch geltend gemacht, daß sie gleichwohl nicht nach § 162 Abs 1 Nr 1 SGG aF statthaft sei, weil das LSG nicht über Fragen von grundsätzlicher Bedeutung entschieden habe. Diese Einwendungen gegen die Wirksamkeit der Revisionszulassung hat das BSG schon deshalb nicht als begründet angesehen, weil das LSG es als eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung angesehen hat, unter welchen Voraussetzungen eine Selbsttötung rechtlich als Folge eines Arbeitsunfalls anzuerkennen ist. Damit hat das BSG zum Ausdruck gebracht, daß es an die Zulassung der Revision durch das LSG gebunden war, weil sie nicht nur zur Überprüfung tatsächlicher Fragen und damit nicht offensichtlich gesetzwidrig zugelassen worden ist; es hat daher insoweit auf die Entscheidungen in BSGE 6, 70 und 10, 240 Bezug genommen, die sich mit der gesetzwidrigen Zulassung der Revision befassen. Die von der Beklagten im einzelnen aufgeworfenen sonstigen Fragen haben keine grundsätzliche Bedeutung. Unter welchen Umständen ein Streß - u.a. Ereignisse aus dem Tätigkeitsbereich des Betriebsrates - wesentliche Ursache für eine Selbsttötung sein können, ist revisionsgerichtlich ausreichend geklärt. Bereits in einem Urteil vom 18. Dezember 1962 - 2 RU 56/58 - (Breithaupt 1963, 768) hat der erkennende Senat entschieden, daß die Prüfung, welche Ursachen für die Selbsttötung als wesentlich anzusehen sind, nicht auf Geschehensabläufe beschränkt werden darf, die sich auf körperlich- organischem Gebiet abgespielt haben, vielmehr auch Vorgänge im Bereich des Psychischen und Geistigen hinsichtlich ihrer rechtlichen Bedeutung zu würdigen sind. Auch Vorgänge im Bereich des Psychischen oder Geistigen können Ursachen im Rechtssinn sein. In weiteren Urteilen vom 18. Dezember 1962 - 2 RU 189/59 - (BSGE 18, 173), vom 29. April 1964 - 2 RU 215/60 - (DMW 1964, 2299), vom 29. Mai 1964 - 2 RU 96/59 - (unveröffentlicht) und vom 24. Februar 1967 - 2 RU 114/65 - (SGb 1967, 542) hat der Senat seine Auffassung nochmals ausdrücklich betont. Er hat auch entschieden, daß einer zu psychischen Reaktionen neigenden Anlage des Versicherten nicht in jedem Falle von vornherein eine so überragende Bedeutung beigemessen werden kann, daß sie rechtlich die allein wesentliche Ursache ist und andere Einwirkungen auf die Psyche des Versicherten dadurch als rechtlich unwesentlich in den Hintergrund treten (BSGE 18, 173; Urteil vom 29. Mai 1964 - 2 RU 96/59). Vielmehr sind auch in solchen Fällen die gleichen Erwägungen anzustellen, wie sie von Bedeutung sind, wenn bei dem Verletzten bereits vor dem Unfall ein Leiden in der Anlage oder in fortgeschrittener Entwicklung vorhanden war. Obwohl diese Rechtsprechung an Hand von Fällen entwickelt worden ist, in denen zu entscheiden war, ob zwischen dem Arbeitsunfall und der Selbsttötung ein ursächlicher Zusammenhang besteht (haftungsausfüllende Kausalität), gelten die Ausführungen auch in den Fällen, in denen über den ursächlichen Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und der Selbsttötung. (haftungsbegründende Kausalität) zu entscheiden ist, da insoweit die Kausalitätsnorm dieselbe ist. Die unterschiedliche Fallgestaltung bietet für die rechtliche Beurteilung keine grundsätzlichen Probleme. Die von der Beklagten aufgeworfenen Frage, unter welchen Voraussetzungen eine Kette von auf mehrere Arbeitsschichten verteilten Einzeleinwirkungen als Ursache einer zu entschädigenden Selbsttötung in Betracht kommt, hat ebenfalls keine grundsätzliche Bedeutung. In tatsächlicher Hinsicht hat das LSG festgestellt, daß durch die mit der Tätigkeit des Verletzten als Betriebsratsvorsitzender zusammenhängenden Geschehnisse am 18. Mai 1972 ein seelisches Trauma eingetreten ist, welches sich aus einer bisher nicht vorhanden gewesenen depressiven Verstimmung entwickelt hat. Nach der Rechtsprechung des Senats in den Urteilen vom 30. Juli 1965 - 2 RU 57/64 - (ZfS 1966, 115) und vom 31. Oktober 1969 - 2 RU 15/69 - (SozR Nr 14 zu § 548 des Reichsversicherungsordnung -RVO-) genügt es für die Annahme des Kausalzusammenhanges, wenn sich eine Gewalteinwirkung aus der Gesamtheit wiederholter, in mehreren Arbeitsschichten aufgetretener Gewalteinwirkungen derart hervorhebt, daß sie nicht nur als letzte von mehreren für den Erfolg gleichwertigen Gewalteinwirkungen erscheint. Einer nochmaligen Entscheidung der von der Beklagten aufgeworfenen Frage bedarf es nicht.

Die von der Beklagten gerügten Verfahrensmängel liegen nicht vor. Nach § 160 Abs 2 Nr 3 SGG kann ein Verfahrensmangel nicht auf eine Verletzung des § 128 Abs 1 Satz 1 SGG gestützt werden; nach dieser Vorschrift entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Damit sind die Ausführungen der Beklagten zur Würdigung der ärztlichen Gutachten durch das LSG nicht geeignet, die Zulassung der Revision zu begründen. Die Beweiswürdigung kann auch nicht mit der Begründung nachgeprüft werden, daß die beweismäßigen Grundsätze für die Beurteilung, ob gegenüber § 553 Abs 1 RVO, wonach kein Entschädigungsanspruch besteht, wenn der Verletzte den Arbeitsunfall absichtlich verursacht hat, eine Ausnahme vorliegt, eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung sei. Mit der Einführung der Nichtzulassungsbeschwerde durch das Gesetz zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes vom 30. Juli 1974 (BGBl I 1625) hat der Gesetzgeber eine Beschränkung der Verfahrensrevision beabsichtigt (BT-Drucks 7/861 zu Art I Nr 13 S 9 und 7/2024 I Abs 3 S 3). Es würde der gesetzgeberischen Absicht zuwiderlaufen, wenn Verstöße gegen § 128 Abs 1 Satz 1 SGG, die in der Regel gleichzeitig auch eine Abweichung von entsprechenden Entscheidungen des BSG bedeuten, als Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung oder Divergenz geltend gemacht werden könnten, um auf diese Weise eine Nachprüfung des Berufungsurteils hinsichtlich der Beweiswürdigung zu erreichen. Zur Beweiswürdigung gehören auch die Ausführungen des LSG, daß mehrere Formulierungen im Gutachten von Prof. Dr. Dc Tellenbach nicht einer unparteiischen gutachtlichen Beurteilung iS des § 410 Abs 1 Zivilprozeßordnung (ZPO) entsprechen. Das LSG hat diese Vorschrift nicht angewendet, sondern lediglich daraus, daß der Sachverständige nach § 410 Abs 1 ZPO zu beeiden hat, daß das Gutachten von ihm unparteiisch erstattet worden ist, einen Maßstab für die Beweiswürdigung entnommen.

Da die Beschwerde nicht begründet ist, mußte sie zurückgewiesen werden.

Die Kostenentscheidung ergeht in entsprechender Anwendung des § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1658815

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