Leitsatz (redaktionell)

Ein Schaden, der durch wiederholte, in mehreren Arbeitsschichten eingetretene Gewalteinwirkungen hervorgerufen wird, kommt jedenfalls dann als Folge eines Arbeitsunfalles in Betracht, wenn sich eine einzelne betriebsbedingte Gewalteinwirkung aus der Gesamtheit derart hervorhebt, daß ihr die Bedeutung einer rechtlich wesentlichen Teilursache zukommt (hier: Krebsleiden).

 

Normenkette

RVO § 542 Fassung: 1942-03-09

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts für das Saarland vom 3. Dezember 1963 wird mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

I

Die Kläger sind die Hinterbliebenen des am 22. Januar 1950 gestorbenen Hüttenarbeiters Ludwig L (L.). Sie sind der Ansicht, ihr Ehemann und Vater sei den Folgen eines Arbeitsunfalls erlegen.

L. hatte am kleinen Finger der rechten Hand eine Warze. An ihr verletzte er sich wiederholt; es kam dabei zu blutigen Hautabschürfungen und Einrissen. Derartige Verletzungen hatte er sich auch bei der Arbeit, und zwar schon in den Jahren 1935 bis 1944, zugezogen, als er in einem Eisenhüttenwerk (Drahtstraße) mit dem Bündeln von Eisen- und Drahtpacken als sogenannter Scherenmann beschäftigt war. Unterlagen für ein bestimmtes Unfallereignis sind aus jener Zeit nicht mehr vorhanden. Eine Unfallanzeige ist erst Anfang 1950 erstattet worden. In ihr sind noch zwei bestimmte, den rechten Kleinfinger betreffende Arbeitsunfälle bezeichnet, deren einer am 9. Oktober 1945 und der andere im Jahre 1946 eingetreten ist. Infolge von Verletzungen machten sich zweimal operative Entfernungen der Warze erforderlich; die zweite Operation fand im Juli 1949 statt; die Zeit der ersten Operation ist nicht genau bekannt.

Im Herbst 1949 bildeten sich an verschiedenen Körperstellen des L. Krebsgeschwülste. Sie führten rasch zu seinem Tode. Bei der Leichenöffnung fanden sich zahlreiche, teils pigmentierte Metastasen im Körper, insbesondere in der Leber. Auch in der rechten Achselhöhle war eine solche Tochtergeschwulst vorhanden. An dieser Stelle hatte im Jahre 1949 bereits eine Geschwulstbildung operativ entfernt werden müssen.

Die Kläger behaupten, das tödliche Leiden sei durch die wiederholten Verletzungen der Warze bei der Betriebsarbeit entstanden. Die Landesversicherungsanstalt für das Saarland, Abteilung Allgemeine Arbeitsunfallversicherung (LVA) holte zur Frage, ob der Tod L's die Folge der Warzenschädigungen ist, Berichte der behandelnden Ärzte ein und ließ ein Obduktionsgutachten sowie das Gutachten eines weiteren Pathologen erstatten, die zu gegensätzlichen Ergebnissen kamen.

Daraufhin lehnte die LVA durch Bescheid vom 4. Dezember 1950 die Gewährung der Hinterbliebenenentschädigung mit der Begründung ab, ein Arbeitsunfall sei weder erwiesen noch wahrscheinlich; die Krebserkrankung L's stehe nach der Auffassung des behandelnden Arztes vom H.-krankenhaus B., Dr. Sch, und des Leiters des pathologischen Instituts der Universität Heidelberg, Prof. Dr. R, mit den von den Klägern behaupteten geringfügigen Verletzungen am rechten Kleinfinger im Betriebe nicht im ursächlichen Zusammenhang.

Die Kläger haben hiergegen bei dem nach dem damaligen, im Saarland geltenden Recht zuständigen Oberversicherungsamt (OVA) für das Saarland Berufung eingelegt.

Das OVA hat nach weiterer Beweiserhebung über die streitige Zusammenhangsfrage am 9. September 1952 die LVA dem Grunde nach verurteilt, den Klägern die Hinterbliebenenrente zu zahlen. Es ist der Überzeugung, daß sich L. wiederholt bei der Betriebsarbeit an der Warze verletzt habe und daß dadurch das zunächst gutartige Geschwulstgebilde an dieser Stelle in eine bösartige Gewebserkrankung umgewandelt worden sei.

Die LVA hat gegen das Urteil Rekurs beim Landesversicherungsamt für das Saarland eingelegt und geltend gemacht, für die Annahme eines Arbeitsunfalls fehle es an einem auf längstens eine Arbeitsschicht begrenzten Unfallereignis; außerdem sei kein ausreichender Anhalt dafür vorhanden, daß die Gewalteinwirkungen mit dem raschen Verlauf der tödlichen Geschwulsterkrankung in Einklang zu bringen seien.

Auf Grund des Gesetzes zur Neuordnung der Sozialversicherungsträger im Saarland vom 28. März 1960 ist die Süddeutsche Eisen- und Stahl-Berufsgenossenschaft der zuständige Versicherungsträger geworden und in die Beklagtenrolle eingetreten.

Das Landessozialgericht (LSG) für das Saarland, auf das die Sache übergegangen ist, hat ein Obergutachten eingeholt, das gemeinsam von dem Direktor des Pathologischen Instituts der Universität Bonn, Prof. Dr. H, und dem Direktor des Pathologischen Instituts der Universität Köln, Prof. Dr. Sch, erstattet worden ist.

Das LSG hat durch Urteil vom 3. Dezember 1963 die Klage abgewiesen und zur Begründung u. a. ausgeführt: Das tödliche Geschwulstleiden sei weder durch einen Arbeitsunfall noch durch eine Berufskrankheit (BK) verursacht worden. Prof. Dr. R halte es nicht für wahrscheinlich, daß die zahlreichen Verletzungen am Kleinfinger mittelbar oder unmittelbar das metastasierende Melanomsarkom hervorgerufen hätten. Auch in dem Gutachten des Prof. Dr. H und des Prof. Dr. Sch werde darauf hingewiesen, daß es nach dem derzeitigen Stand der Wissenschaft nicht möglich sei zu sagen, die Verletzungen seien mit mindestens ausreichender Wahrscheinlichkeit für den Tod L's ursächlich gewesen. Gleichwohl werde der ursächliche Zusammenhang zwischen diesen Verletzungen und der tödlichen Erkrankung grundsätzlich, und zwar aus formalen Gesichtspunkten bejaht. Dabei sei nach Auffassung der Sachverständigen allerdings anzunehmen, daß die Verletzungen an der Warze nur in ihrer Gesamtheit das zum Tode führende Leiden verursacht haben könnten; für das Bösartigwerden des Warzengewebes sei also nicht eine einzelne Verletzung wesentlich gewesen. Bei dieser Betrachtungsweise komme der Gesamtheit der Verletzungen, auch soweit sie sich bei versicherten Tätigkeiten ereignet hätten, nicht die Bedeutung eines Arbeitsunfalls zu; denn die schädigende Einwirkung habe sich nicht innerhalb einer Arbeitsschicht zugetragen. Keine der einzelnen Schädigungen sei für sich geeignet, den Tod zu verursachen; ebensowenig wie ein Arbeitsunfall angenommen werden könne, stelle die Gesamtheit der gesundheitsstörenden Einwirkungen eine BK im Sinne der Berufskrankheitenverordnungen (BKVOen) dar.

Das LSG hat die Revision zugelassen.

Die Kläger haben durch ihre Prozeßbevollmächtigten gegen das ihnen am 4. Februar 1964 zugestellte Urteil am 4. März 1964 Revision eingelegt und diese innerhalb der verlängerten Revisionsbegründungsfrist am 4. Mai 1964 begründet.

Die Kläger rügen, das LSG habe den Begriff des Arbeitsunfalls verkannt. Es erkenne zwar an, daß jede der bei der Arbeit eingetretenen Schädigungen begrifflich ein Arbeitsunfall sein könne, lasse aber außer acht, daß die Annahme eines Unfalls in Fällen der vorliegenden Art nicht deshalb entfalle, weil wiederholte Ereignisse zur Schädigung geführt, die Schädigungen sich gehäuft hätten und dadurch erst über die sofort meßbare und unmittelbare Schädigung hinaus das tödliche Leiden herbeigeführt worden sei. Eine der einzelnen Unfallschädigungen müsse die letzte gewesen sein, welche die Umwandlung der gutartigen in die bösartige Geschwulst ausgelöst habe. Das LSG habe hierzu keine klaren Feststellungen getroffen. Die im Ergebnis voneinander abweichenden ärztlichen Gutachten habe das LSG nicht mit erkennbaren Darlegungen gegeneinander abgewogen.

Die Kläger beantragen,

das angefochtene Urteil aufzuheben und unter Wiederherstellung des Urteils des OVA für das Saarland vom 9. September 1952 ihnen Hinterbliebenenrente zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie führt u. a. aus, das LSG habe die den Klägern günstigen Gutachten der Prof. Dr. R, Dr. H und Dr. S verfahrensrechtlich einwandfrei gewürdigt; denn es sei zutreffend davon ausgegangen, daß die Verletzungen nur in ihrer Gesamtheit das zum Tode führende Leiden verursacht hätten.

II

Die Revision ist zulässig. Sie hatte auch Erfolg.

Das LSG ist zutreffend davon ausgegangen, daß L. einem Krebsleiden erlegen ist, welches durch Umwandlung einer gutartigen Warzenbildung am Kleinfinger der rechten Hand in ein metastasierendes Melanomsarkom hervorgerufen worden ist. Der Hinterbliebenenanspruch der Kläger wäre von vornherein unbegründet, wenn diese tödliche Erkrankung nicht durch die Verletzungen in dem Warzenbereich, die L. nach den unangegriffenen tatsächlichen Feststellungen des LSG auch bei seiner versicherten Tätigkeit wiederholt erlitten hat, verursacht worden wäre. Den Ausführungen des angefochtenen Urteils ist jedoch nicht zu entnehmen, daß das LSG seine Entscheidung auf eine Verneinung dieses Ursachenzusammenhangs im medizinischen Sinne hat stützen wollen. Zwar wird in den Entscheidungsgründen auf die ärztlichen Gutachten und Berichte der behandelnden Ärzte Bezug genommen; es wird aber zu der Frage, ob die tödliche Krebserkrankung von der Schädigung der Warze herrührt, nicht abschließend Stellung genommen. Die Ausführungen der ärztlichen Sachverständigen sind in dem Berufungsurteil wohl dargelegt, jedoch, soweit sie in ihren Ergebnissen nicht übereinstimmen, nicht gegeneinander abgewogen worden, so daß schon deshalb das LSG nicht zu einem eindeutigen negativen Beweisschluß hinsichtlich der streitigen medizinischen Zusammenhangsfrage gelangen konnte. Das LSG hat somit nicht nach § 163 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) bindend festgestellt, daß der Tod L's keine Folge einer Schädigung der Warze sei. Für eine solche Feststellung bestand auch kein zwingender Anlaß, da das LSG auf Grund des gemeinsamen Gutachtens von Prof. Dr. H und Prof. Dr. Sch einen tatsächlichen Gesichtspunkt aufgegriffen hat, der es zur Verneinung des Entschädigungsanspruchs aus rechtlichen Gründen geführt hat. Es ist diesem Gutachten in der Auffassung gefolgt, daß bei der Häufung der Warzenschädigungen nicht eine einzelne Verletzung, sondern nur die Gesamtheit der sich über lange Zeiträume erstreckenden Verletzungsvorgänge das tödliche Krebsleiden verursacht habe. Hieraus hat es gefolgert, daß die Verletzungsvorgänge im Bereich der Warze insgesamt, auch soweit sie sich bei versicherten Tätigkeiten ereignet haben, nicht als Arbeitsunfall im Sinne der gesetzlichen Unfallversicherung zu werten seien.

Diese Auffassung hält jedoch der Nachprüfung im Revisionsverfahren nicht stand.

Der rechtlichen Betrachtungsweise des angefochtenen Urteils liegt ein Sachverhalt zugrunde, der dadurch gekennzeichnet ist, daß die Krebserkrankung L's nur durch Verletzungen an der Warze hervorgerufen worden sein kann, die sich in verschiedenen, mehr oder weniger eng aufeinanderfolgenden zahlreichen Arbeitsschichten ereignet und auf eine lange Zeit verteilt haben. Für das Bösartigwerden des Warzengewebes kommt als rechtlich wesentliche Ursache somit nicht eine einzelne Verletzung, sondern nur die Gesamtheit der im Laufe der Jahre eingetretenen Schädigungen am rechten Kleinfinger in Betracht. Einen solchen Geschehensablauf hat das LSG zwar mit Recht nicht als einen Arbeitsunfall gewertet, da die Gesamtheit der auf einen längeren Zeitraum verteilten Gewalteinwirkungen nicht ein Unfallereignis im Sinne des § 542 der Reichsversicherungsordnung (RVO) aF (= § 548 Abs. 1 Satz 1 RVO nF) darstellt. Dies schließt jedoch nicht aus, daß ein Schaden, der durch wiederholte, in mehreren Arbeitsschichten aufgetretene Gewalteinwirkungen hervorgerufen wird, gleichwohl als Folge eines Arbeitsunfalles anzusehen ist, wenn sich eine einzelne Gewalteinwirkung aus der Gesamtheit derart hervorhebt, daß sie nicht nur als die letzte von mehreren für den Erfolg gleichwertigen Gewalteinwirkungen erscheint (vgl. Lauterbach, Unfallversicherung, 3. Aufl., S. 202 Anm. 3 C I zu § 548 RVO nF; BSG 15, 112, 115; Bayer. LVAmt in Breith. 1951, 794; LSG Baden-Württemberg in Breith. 1955, 1030).

Unter diesem rechtlichen Gesichtspunkt, den auch die Revision im wesentlichen hervorkehrt, hat das LSG den Sachverhalt nicht geprüft. Im Berufungsurteil ist daher die bei der gegebenen Sach- und Rechtslage notwendige Entscheidung darüber unterblieben, ob eine der zahlreichen Schädigungen an der Warze ein Unfallereignis darstellt, das innerhalb einer Arbeitsschicht abgelaufen ist und daher die Bedeutung einer wesentlichen Teilursache im Rechtssinne für die Entstehung des Krebsleidens hat. Das angefochtene Urteil enthält lediglich allgemeine Ausführungen zu dieser Rechtsfrage, jedenfalls keine ausreichenden tatsächlichen Feststellungen, welche es ermöglichen zu beurteilen, ob einer der konkreten Verletzungsvorgänge, gegebenenfalls welcher, als eine wesentliche Teilursache für die Geschwulstbildung an der Warze in Betracht kommt. Hierbei wären nicht nur Verletzungen zu berücksichtigen, die L. unmittelbar bei seiner Betriebsarbeit erlitten hat, sondern auch mögliche schädigende Einwirkungen durch Heilmaßnahmen, wie Ätzen der Wunden, das Auftragen von Salben und vor allem das operative Entfernen der Geschwulstbildung im Zusammenhang mit solchen Verletzungen.

Unter Zugrundelegung der vorstehenden Rechtsauffassung müssen zunächst noch die erforderlichen tatsächlichen Feststellungen vom LSG nachgeholt werden. Das Bundessozialgericht konnte daher in der Sache nicht abschließend entscheiden. Deshalb mußte das angefochtene Urteil aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an die Vorinstanz zurückverwiesen werden (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG). Dem LSG werden zur weiteren Klärung des Sachverhalts ergänzende Auskünfte der behandelnden Ärzte, vor allem des Dr. M, der die erste Operation an der Warze vorgenommen hat und sich bei einer persönlichen Vernehmung als sachverständiger Zeuge auf entsprechenden Vorhalt möglicherweise an bestimmte Verletzungs- und Behandlungsvorgänge erinnern wird, zur Verfügung stehen. Ausgeschlossen ist auch nicht, daß sich aus den Krankenpapieren des Bürgerhospitals in Saarbrücken, deren Vorlage vom LSG für die Begutachtung L's als notwendig erachtet worden, aber unterblieben ist, aufschlußreiche Anhaltspunkte für die Klärung der Todesursache ergeben, und schließlich kann auch die Kenntnis der ärztlichen Unterlagen des H.-krankenhauses B., die aus Anlaß der dort durchgeführten zweiten Operation an der Warze entstanden sind, von Bedeutung sein. Vom Ergebnis der weiteren Ermittlungen wird es abhängen, ob noch eine abschließende fachärztliche Begutachtung geboten ist.

Als die Folge einer Krankheit im Sinne der BKVOen kann, wie das LSG zutreffend ausgeführt hat, der Tod L's nicht in Betracht kommen. Ein Krebsleiden, das durch zahlreiche, in sich abgeschlossene Gewalteinwirkungen hervorgerufen wird, fällt nicht unter die in den Anlagen zu den BKVOen aufgeführten Entschädigungsansprüche begründenden Krankheiten.

Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2375022

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