Entscheidungsstichwort (Thema)

Aufhebung eines erstinstanzlichen Urteils wegen fehlender Zustellung an die beschwerte Partei

 

Leitsatz (amtlich)

Ein erstinstanzliches Urteil unterliegt nicht allein deshalb der Aufhebung, weil es der beschwerten Partei nicht innerhalb von fünf Monaten, gerechnet von der Verkündung an, zugestellt worden ist.

 

Normenkette

ZPO § 315 Abs. 2, § 538 Abs. 2 S. 1 Nr. 1, § 547 Nr. 6

 

Verfahrensgang

Thüringer OLG (Urteil vom 07.10.2008; Aktenzeichen 5 U 307/07)

LG Meiningen (Urteil vom 15.11.2006; Aktenzeichen 2 O 1537/05)

 

Tenor

Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des 5. Zivilsenats des OLG Jena vom 7.10.2008 aufgehoben.

Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen

 

Tatbestand

[1] Die Klägerin nimmt den beklagten Insolvenzverwalter im Wege der Stufenklage auf Auskunft über die bei der Veräußerung von Zubehör erzielten Erlöse, Versicherung der Richtigkeit der Auskunft an Eides statt und Zahlung des sich aus der Auskunft ergebenden Betrages in Anspruch. Das LG hat die Klage abgewiesen. Auf die Berufung der Klägerin ist das Urteil aufgehoben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das LG zurückverwiesen worden. Mit seiner vom Berufungsgericht zugelassenen Revision will der Beklagte die Zurückweisung der Berufung der Klägerin erreichen.

 

Entscheidungsgründe

[2] Die Revision führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.

I.

[3] Das Berufungsgericht hat ausgeführt: Das Urteil des LG leide an einem wesentlichen Verfahrensmangel i.S.v. § 513 Abs. 1 ZPO. Es sei am 15.11.2006 verkündet, jedoch erst am 16.4.2007 - fünf Monate und einen Tag nach dem Verkündungstermin - der Klägerin zugestellt worden. Dadurch habe die Klägerin weniger als einen Monat Zeit gehabt zu prüfen, ob Berufung eingelegt werden solle. Die Ursächlichkeit der Rechtsverletzung für das angefochtene Urteil werde gem. § 547 Nr. 6 ZPO unwiderleglich vermutet. Diese Vorschrift sei im Berufungsrecht entsprechend anwendbar. Nach gefestigter Rechtsprechung sei ein bei Verkündung nicht vollständig abgefasstes Urteil nicht mit Gründen versehen, wenn es nicht innerhalb von fünf Monaten ab Verkündung schriftlich niedergelegt, von den Richtern unterschrieben und der Geschäftsstelle übergeben worden sei. Gleiches gelte, wenn - wie im vorliegenden Fall - das Urteil innerhalb der Fünf-Monats-Frist vollständig zur Geschäftsstelle gelangt, aber erst nach Ablauf dieser Frist zugestellt worden sei; denn die vom Gesetz eingeräumte Überlegungsfrist von einem Monat nach Ablauf der Fünf-Monats-Frist müsse der beschwerten Partei ungeschmälert zur Verfügung stehen.

II.

[4] Diese Ausführungen halten einer rechtlichen Überprüfung nicht stand.

[5] 1. Das Urteil des LG war nicht schon deshalb analog § 547 Nr. 6 ZPO aufzuheben, weil es nicht mit Gründen versehen gewesen wäre. Nach gefestigter höchstrichterlicher Rechtsprechung stellen die in § 547 ZPO beschriebenen Verfahrensrechtsverletzungen dann, wenn sie dem erstinstanzlichen Gericht unterlaufen sind, zwar wesentliche Verfahrensmängel (§ 538 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO) dar, auf welchen das erstinstanzliche Urteil beruht (RGZ 37, 248 [249]; BGH, Urt. v. 13.4.1992 - II ZR 105/91, WM 1992, 984 [986]; v. 29.3.2000 - VIII ZR 297/98, NJW 2000, 2508 [2509] [zu § 551 Nr. 6 ZPO a.F.]; ebenso OLG Rostock OLGReport Rostock 2007, 559 f.; Stein/Jonas/Grunsky, ZPO, 21. Aufl., § 539 Rz. 6; Musielak/Ball, ZPO, 6. Aufl., § 538 Rz. 11; Hk-ZPO/Wöstmann, 2. Aufl., § 538 Rz. 9; Zöller/Heßler, ZPO, 27. Aufl., § 538 Rz. 10; Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht 16. Aufl., § 138 Rz. 23; Meyer-Seitz in Hannich/Meyer-Seitz, ZPO-Reform 2002 § 538 Rz. 9; a.A. KG MDR 2007, 48; Rimmelspacher, ZZP 106 (1993), 246 [248 f.]). Ein solcher Mangel liegt hier jedoch nicht vor.

[6] a) Das LG hat am Schluss der mündlichen Verhandlung am 15.11.2006 das Urteil durch Verlesung der Urteilsformel verkündet. Am 11.4.2007 ist die mit Tatbestand und Entscheidungsgründen versehene, von den mitwirkenden Richtern unterschriebene vollständige Fassung des Urteils zur Geschäftsstelle gelangt. Je eine Ausfertigung des Urteils ist dem Beklagten am 13.4.2007 und der Klägerin am 16.4.2007 zugestellt worden. Gleichwohl beruht das Urteil noch auf der mündlichen Verhandlung vom 15.11.2006. Die äußerste Grenze für die Übergabe des vollständig abgefassten Urteils an die Geschäftsstelle, die dem Begriff "alsbald" noch gerecht wird, beträgt nach gefestigter höchstrichterlicher Rechtsprechung fünf Monate (GmS-OGB, Beschl. v. 27.4.1993 - GmS-OGB 1/92, ZIP 1993, 1341 [1343 ff.]; BGH, Beschl. v. 18.6.2001 - AnwZ (B) 10/00, NJW-RR 2001, 1642 [1643]; Urt. v. 19.5.2004 - XII ZR 270/02, NJW-RR 2004, 1439; Beschl. v. 22.11.2004 - NotZ 23/04, NJW-RR 2005, 1151 [1152]). Diese vom BVerfG verfassungsrechtlich nicht beanstandete Frist (vgl. BVerfG NJW 2001, 2161 [2162]) hat das LG gewahrt.

[7] b) Dass der Klägerin infolge der späten Zustellung die Fristen zur Einlegung (§ 517 ZPO) und Begründung (§ 520 Abs. 2 Satz 1 ZPO) der Berufung nicht in vollem Umfang zur Verfügung standen, führt entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts nicht dazu, dass das landgerichtliche Urteil als "nicht mit Gründen versehen" i.S.v. § 547 Nr. 6 ZPO anzusehen ist.

[8] aa) Die Rechtsprechung des BGH und des Gemeinsamen Senats der Obersten Gerichtshöfe des Bundes zur Höchstfrist von fünf Monaten, innerhalb derer das verkündete Urteil abgesetzt und vollständig zur Geschäftsstelle gelangt sein muss, beruht vor allem auf der Erkenntnis, dass das richterliche Erinnerungsvermögen abnimmt. Nach Ablauf von mehr als fünf Monaten ist nicht mehr gewährleistet, dass der Eindruck von der mündlichen Verhandlung und das Beratene zuverlässigen Niederschlag in den so viel später abgefassten Gründen der Entscheidung finden (GmS-OGB, a.a.O., S. 1344; BVerfG, a.a.O.). Es geht mithin um die Vermeidung von Fehlerinnerungen und damit um Gründe der Rechtssicherheit (GmS-OGB, a.a.O.; BGH, Urt. v. 19.5.2004, a.a.O.). Mit der Frist zur Einlegung und Begründung des jeweils statthaften Rechtsmittels hat das nichts zu tun.

[9] bb) Die Höchstfrist von fünf Monaten, innerhalb derer das unterschriebene Urteil zum Zwecke der Zustellung auf die Geschäftsstelle gelangt sein muss, dient allerdings auch noch einem weiteren Zweck. Insbesondere der unterlegenen und an der Einlegung eines Rechtsmittels interessierten Partei ist nicht zuzumuten, nach der Verkündung eines Urteils übermäßig lange warten zu müssen, um - über eine etwaige mündliche Urteilsbegründung hinaus - die näheren Gründe zu erfahren, die zu ihrem Unterliegen geführt haben (GmS OBG, a.a.O., S. 1345). Die durch das Urteil beschwerte Partei soll nicht in die Zwangslage versetzt werden, mit Rücksicht auf den Ablauf der Rechtsmittelfrist ein Rechtsmittel einlegen zu müssen, ohne die Urteilsgründe zu kennen (BGH, Urt. v. 8.7.1986 - VI ZR 99/85, NJW 1986, 2958 [2959]; v. 29.10.1986 - IVa ZR 119/85, NJW 1987, 2446 [2447]). In der älteren Rechtsprechung des BGH ist daraus weitergehend der Schluss gezogen worden, der Partei müsse die vom Gesetz eingeräumte Überlegungsfrist von einem Monat nach Ablauf des Fünfmonatszeitraums zwingend uneingeschränkt zur Verfügung stehen (BGH, Urt. v. 29.10.1986, a.a.O.; v. 24.10.1990 - XII ZR 101/89, NJW 1991, 1547; ebenso Grunsky in Stein/Jonas, ZPO, 21. Aufl., § 551 Rz. 34; Wieczorek/Schütze/Prütting, ZPO, 3. Aufl., § 547 Rz. 45; Musielak/Ball, a.a.O., § 547 Rz. 13; zweifelnd Hk-ZPO/Kayser, 2. Aufl., § 547 Rz. 15; a.A. Wenzel in MünchKomm/ZPO, 3. Aufl., § 547 Rz. 16).

[10] Obwohl die Zustellung eines erstinstanzlichen Urteils nach Ablauf der Fünfmonatsfrist die Verfahrensrechte der beschwerten Partei beeinträchtigt, nämlich die Fristen zur Einlegung (§ 517 ZPO) und Begründung (§ 520 Abs. 2 ZPO) der Berufung verkürzt oder jedenfalls verkürzen kann, unterliegt das verspätet zugestellte Urteil jedoch nicht zwingend der Aufhebung (im Ergebnis ebenso BGH, Beschl. v. 15.10.2003 - XII ZB 102/02, NJW-RR 2004, 361 [362]).

[11] (1) Die Frist für die Berufungsbegründung beträgt zwei Monate. Sie beginnt mit der Zustellung des in vollständiger Form abgefassten Urteils, spätestens aber mit Ablauf von fünf Monaten nach der Verkündung (§ 520 Abs. 2 Satz 1 ZPO). Wird das erstinstanzliche Urteil später als fünf Monate nach der Verkündung zugestellt, verkürzt sich die Frist entsprechend. Die Begründungsfrist kann jedoch verlängert werden (§ 520 Abs. 2 Satz 2 und 3 ZPO). Ist das anzufechtende Urteil fünf Monate nach der Verkündung noch nicht zugestellt, kann die Berufung außerdem zunächst allein mit der unterbliebenen Zustellung begründet werden. Die Berufungsbegründung muss nur erkennen lassen, dass das Urteil, welchen Inhalt es auch immer haben möge, angefochten wird, soweit es die Partei beschwert, und zugleich auf die fehlende Zustellung hinweisen (BGH, Beschl. v. 15.10.2003, a.a.O.; v. 13.4.2005 - VIII ZB 115/04, BGH NJW-RR 2005, 1086 [1087]). So hat sich die Klägerin im vorliegenden Fall verhalten. Wird das Urteil danach, aber vor Ablauf der Begründungsfrist noch zugestellt, können der bestimmte Berufungsantrag sowie eine sachliche Begründung - ggf. nach einer ohne Weiteres zu bewilligenden Fristverlängerung - nachgereicht werden. Auch das hat die Klägerin im vorliegenden Fall getan. Erfolgt die Zustellung des vollständigen Urteils erst nach Ablauf der Begründungsfrist, kann auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt werden (§ 233 ZPO). Die verfahrensmäßigen Rechte des Berufungsführers können so ausreichend gewahrt werden.

[12] (2) Die Frist zur Einlegung der Berufung beträgt einen Monat. Auch sie beginnt mit der Zustellung des in vollständiger Form abgefassten Urteils, spätestens mit dem Ablauf von fünf Monaten nach der Verkündung (§ 517 ZPO). Erfolgt die Zustellung des erstinstanzlichen Urteils nach Ablauf der Fünfmonatsfrist, hat die beschwerte Partei folglich weniger als einen Monat Zeit zu überlegen, ob Berufung eingelegt werden soll oder nicht. Anders als bei der Berufungsbegründungsfrist bietet die Zivilprozessordnung auch kaum Möglichkeiten, diesen Nachteil auszugleichen. Vor allem kann die Berufungsfrist als Notfrist nicht verlängert werden (§§ 224 Abs. 2 Halbs. 2, 517 ZPO). Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 233 ZPO) kommt nach dem Wortlaut des Gesetzes in Betracht, wenn eine Frist versäumt worden ist, nicht jedoch, wenn die Frist nicht in ihrem vollem Umfang zur Verfügung steht.

[13] Der Nachteil, der in der verkürzten Überlegungsfrist besteht, ist jedoch grundsätzlich hinzunehmen. Dafür sprechen zum einen praktische Gründe. Die Partei wird die Entscheidung über die Einlegung der Berufung vielfach davon abhängig machen, ob und in welchem Umfang das Urteil sie beschwert. Die Urteilsgründe spielen dann erst bei der Begründung der Berufung eine Rolle. Selbst im Regelfall der ordnungsgemäßen (fristgerechten) Zustellung eines Urteils werden Rechtsmittel häufig zunächst fristwahrend eingelegt und kurz vor Ablauf der Begründungsfrist zurückgenommen. Aber auch dann, wenn man davon ausgeht, dass die Partei die Urteilsgründe benötigt, um die Frage der Einlegung der Berufung zu prüfen, kann nicht jede Einschränkung der Monatsfrist notwendig zu einer Aufhebung des Urteils führen. Das zeigt ein Vergleich mit den Regelungen über die Wiedereinsetzung nach schuldloser Versäumung einer Rechtsmittelfrist (oder einer anderen Notfrist, §§ 233 ff. ZPO). Die Wiedereinsetzung muss innerhalb einer zweiwöchigen Frist beantragt (§ 234 Abs. 1 ZPO) und die Einlegung des Rechtsmittels (die Nachholung der versäumten Prozesshandlung) muss innerhalb der Wiedereinsetzungsfrist erfolgen (§ 236 Abs. 2 Satz 2 ZPO). Die Zivilprozessordnung hält notfalls also eine Frist von zwei Wochen für ausreichend, um eine Entscheidung über die Einlegung eines Rechtsmittels zu treffen. Im vorliegenden Fall stand der Klägerin eine deutlich längere Überlegungsfrist zur Verfügung; die Monatsfrist war nur um einen Tag nicht gewahrt. Einer Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils zur Wahrung ihrer Verfahrensrechte bedurfte es damit nicht. Hinzu kommt, dass die Aufhebung und Zurückverweisung und die damit verbundene Verlängerung und Verteuerung des Verfahrens regelmäßig eine erhebliche Belastung darstellt, die nach der Vorstellung des Reformgesetzgebers nur noch unter engen Voraussetzungen möglich sein soll (vgl. BT-Drucks. 14/3750, 42, 74). In aller Regel erstrebt eine Partei eine Sachentscheidung zu ihren Gunsten. Auch im vorliegenden Fall hat die Klägerin in der Berufungsinstanz trotz der durch die späte Zustellung des erstinstanzlichen Urteils verkürzten Berufungsfrist ihren Sachantrag weiterverfolgt und den Antrag auf Zurückverweisung nur auf Veranlassung des Berufungsgerichts und nur hilfsweise gestellt.

[14] Wie zu verfahren ist, wenn das vollständige Urteil erst kurz vor Ablauf der Berufungsfrist zugestellt wird - der Partei könnte zugemutet werden, das Rechtsmittel vorsorglich einzulegen und nach Vorliegen der Urteilsgründe ggf. zurückzunehmen; äußerstenfalls könnte aber auch eine Wiedereinsetzung nach verspäteter Einlegung in Betracht kommen - braucht hier nicht entschieden zu werden.

III.

[15] Das angefochtene Urteil kann daher keinen Bestand haben. Es ist aufzuheben (§ 562 Abs. 1 ZPO), die Sache ist zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 563 Abs. 1 ZPO). Zu weiteren Hinweisen sieht der Senat derzeit keinen Anlass.

 

Fundstellen

Haufe-Index 2192077

BGHR 2009, 1063

EBE/BGH 2009, 259

FamRZ 2009, 1481

NJW-RR 2009, 1712

FA 2009, 276

WM 2009, 1624

AnwBl 2009, 220

MDR 2009, 1238

NZI 2010, 39

NZI 2010, 6

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