Leitsatz (amtlich)

Zur Feststellung eines Pflichtteilsentziehungsrechts.

a) Eine Pflichtteilsentziehung wegen vorsätzlicher körperlicher Mißhandlung setzt eine schwere Verletzung der dem Erblasser geschuldeten familiären Achtung („schwere Pietätsverletzung”) voraus.

b) Das verfassungsrechtliche Obermaßverbot wirkt auch in das Zivilrecht hinein. Es läßt eine Entziehung des Pflichtteils ohne konkrete Abwägung der Vorwürfe gegen den Abkömmling mit dem Gewicht der Pflichtteilsentziehung nicht zu.

 

Normenkette

ZPO § 256; BGB §§ 2333, 2333 Nr. 2; GG Art. 20, 6 Abs. 1, 14

 

Verfahrensgang

OLG Koblenz (Urteil vom 08.07.1988)

LG Trier

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des 10. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Koblenz vom 8. Juli 1988 aufgehoben.

Die Sache wird zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung – auch über die Kosten des Revisionsverfahrens – an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen

 

Tatbestand

Die Beklagte zu 1) ist die Witwe des am 22. Februar 1986 verstorbenen Erblassers. Der Kläger und die Beklagte zu 2) sind ihre Kinder. Durch Erbvertrag vom 22. Juli 1983 setzten beide Eltern, der erstversterbende und der überlebende Teil, die Beklagte zu 2) zu ihrer Alleinerbin ein. Gleichzeitig erklärten die Eltern, dem Kläger die beiden Pflichtteile nach beiden Elternteilen zu entziehen, weil er den Vater vorsätzlich körperlich mißhandelt habe. Der Kläger läßt beide Pflichtteilsentziehungen nicht gelten, weil er nicht in der behaupteten und im Erbvertrag näher dargestellten Weise gegen seinen Vater tätlich geworden und weil die angebliche Tätlichkeit nicht geeignet sei, eine Pflichtteilsentziehung zu rechtfertigen. Er klagt auf Feststellung der Unwirksamkeit beider Pflichtteilsentziehungen. Diese Feststellungsklage richtet sich, wie der Kläger bereits vor dem Landgericht ausdrücklich klargestellt hat (Bl. 33f. d.A.), soweit es sich um die von der Beklagten zu 1) erklärte Entziehung handelt, nur gegen diese. Die Wirksamkeit der Pflichtteilsentziehung durch den Vater ist (nur) Gegenstand der gegen die Beklagte zu 2) als dessen Alleinerbin gerichteten Feststellungsklage und steht in Zusammenhang mit dem weiteren Begehren, durch das der Kläger von seiner Schwester Auskunft über den Nachlaß des Vaters sowie Wertermittlung und im Wege der Stufenklage nicht näher bezifferte Zahlungen auf seinen Pflichtteil nach diesem fordert.

Das Landgericht hat den Feststellungsbegehren durch Teilurteil stattgegeben. Die Berufung der Beklagten hatte keinen Erfolg. Mit ihrer Revision verfolgen die Beklagten ihren Klageabweisungsantrag weiter.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.

1. Landgericht und Oberlandesgericht halten die Klage, soweit über sie entschieden ist, für zulässig. Diese Auffassung erweist sich bei der von der Revision erbetenen Überprüfung im Ergebnis als zutreffend.

a) Unproblematisch ist die Zulässigkeit der Feststellungsklage, soweit sie sich gegen die Beklagte zu 2) wendet. Freilich kann eine Feststellungsklage nach § 256 ZPO (von dem seltenen Fall der Urkundenfeststellungsklage abgesehen) nur auf die Feststellung eines Rechtsverhältnisses und nicht auch auf die Feststellung der Wirksamkeit oder Unwirksamkeit von Willenserklärungen oder sonstigen Rechtshandlungen gerichtet werden (BGHZ 37, 331, 333 und ständig). Indessen geht die Klage gegen die Beklagte zu 2) nur dem Wortlaut nach auf ein solchermaßen eingeschränktes Rechtsschutzziel. In Wahrheit begehrt der Kläger damit, wie sein gesamter Vortrag deutlich ergibt, die positive Feststellung seines Pflichtteilsrechts nach dem Vater.

Dieses Pflichtteilsrecht ist Voraussetzung für die weiter eingeklagten Auskunfts- und Wertermittlungsansprüche gemäß § 2314 BGB, sowie für den ebenfalls rechtshängigen Pflichtteilsanspruch gemäß § 2303 Abs. 1 BGB; insoweit ist der Antrag vorgreiflich im Sinne von § 256 Abs. 2 ZPO.

b) Aber auch die Feststellungsklage gegen die Beklagte zu 1) ist zulässig.

Allerdings kann die Klage auch hier nicht auf die Unwirksamkeit der von der Beklagten zu 1) in dem Erbvertrag erklärten Pflichtteilsentziehung beschränkt werden, sondern muß auf die Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens eines Rechtsverhältnisses gehen. Außerdem kann auch eine begründete Entziehungserklärung trotz des Wortlauts von § 2337 Satz 2 BGB nicht bereits mit ihrer formgerechten Abgabe (§ 2336 Abs. 1, 2 BGB) wirksam werden (Senatsurteil vom 18.1.1989 – IVa ZR 296/87 – LM 3 zu § 2335 BGB; vgl. auch RG JW 1916, 405f. mit Anm. von Kretzschmar). Wirkung entfalten, d.h. ein konkretes Pflichtteilsrecht ausräumen kann die Entziehungserklärung vielmehr erst im Zeitpunkt des Todes; bis dahin ist sie weder wirksam noch unwirksam, sondern bleibt gewissermaßen „in der Schwebe”.

Die mangelhafte Fassung des Klageantrages ist jedoch auch hier unschädlich. Denn die Klage geht nach der Auslegung durch den Senat auf ein Rechtsverhältnis im Sinne von § 256 Abs. 1 ZPO, nämlich auf die Feststellung des Nichtbestehens eines Pflichtteilsentziehungsrechts der Beklagten zu 1) wegen des im Erbvertrag geschilderten Vorfalls.

c) Nach höchstrichterlicher Rechtsprechung kann das Recht eines noch lebenden (künftigen) Erblassers, einem seiner pflichtteilsberechtigten Angehörigen den diesem kraft Gesetzes zustehenden Pflichtteil zu entziehen (§§ 2333ff. BGB), Gegenstand einer Feststellungsklage sein (RGZ 92, 1; BGH Urteil vom 1.3.1974 – IV ZR 58/72 – NJW 1974, 1084f.). Davon abzugehen, besteht kein Anlaß.

Die genannten Entscheidungen betrafen allerdings Fälle, in denen es sich um die (positive) Feststellungsklage eines Testators gegen einen Pflichtteilsberechtigten und nicht, wie im vorliegenden Falle, umgekehrt um die Klage des zum Kreis der Pflichtteilsberechtigten gehörenden Klägers gegen seine noch lebende Mutter als künftige Erblasserin. Die im Schrifttum geäußerten Bedenken gegen eine solche Klage (vgl. z.B. Lange, NJW 1963, 1573; Staudinger/Marotzke, 12. Aufl. § 1922 Rdn. 23; MK/Leipold, 2. Aufl. § 1922 Rdn. 79, 80) haben Gewicht. Es ist nicht zu übersehen, daß das Interesse des Erblassers an einer Klärung der Grenzen seiner alsbald wahrzunehmenden Testierfreiheit im allgemeinen geringeren Aufschub verträgt als das Interesse von ungeduldigen Angehörigen an der Feststellung einer Rechtsstellung, die für sie erst nach dem Erbfall fühlbare rechtliche Folgen haben kann. Ob dieser Gesichtspunkt dazu führen kann, zu unterscheiden und – anders als bei der Klage eines Erblassers – dem Pflichtteilsberechtigten das von § 256 Abs. 1 ZPO vorausgesetzte Feststellungsinteresse für eine Klage gegen den noch lebenden Erblasser grundsätzlich abzusprechen, hat der Senat bisher nicht entschieden (Senatsurteil vom 11.10.1989 – IVa ZR 208/87 – zur Veröffentlichung bestimmt) und bleibt weiterhin offen. Davon müßte aber jedenfalls im vorliegenden Fall eine Ausnahme gemacht werden.

Da beiden Pflichtteilsentziehungen ein und derselbe tatsächliche Vorgang zugrunde liegt und dem Kläger in gleicher Weise zum Vorwurf gemacht wird, ist die Zulassung der Feststellungsklage gegen die Beklagte zu 1) schon aus prozeßökonomischen Gründen gerechtfertigt; gegenläufige Interessen in der Person der Beklagten zu 1) sind hier nicht ersichtlich.

2. Nach § 2333 Nr. 2 BGB kann der Erblasser einem Abkömmling den Pflichtteil entziehen, wenn dieser sich einer vorsätzlichen körperlichen Mißhandlung des Erblassers (oder gegebenenfalls des Ehegatten des Erblassers) schuldig macht. Das Berufungsgericht versteht diese Vorschrift dahin, daß die Pflichtteilsentziehung nach dieser Norm nicht in allen Fällen der vorsätzlichen Körperverletzung im Sinne von § 223 StGB möglich sei, sondern daß die Entziehung stets auch eine schwere Verletzung der Achtung voraussetze, die Kinder ihren Eltern schulden (Pietätsverletzung). Die Verletzung müsse so schwer sein, daß sie das Eltern-Kind-Verhältnis empfindlich störe.

Die Auffassungen, die zu dieser Frage in der Rechtsprechung und im Schrifttum vertreten werden, sind geteilt. Das Reichsgericht hielt es in einer Entscheidung vom 21. November 1912 („ziemlich forscher Stoß” SeuffArch 68 Nr. 105 S. 199 = WarnR 1913 Nr. 102) unter Berufung auf die Gesetzesmaterialien für nötig, daß die Körperverletzung durch das Kind zugleich auch eine Verletzung der den Eltern geschuldeten Pietät darstellt. Ob eine Körperverletzung die Pflichtteilsentziehung (sogar) nur dann rechtfertige, wenn sie eine grobe Pietätsverletzung enthalte, ließ es dagegen in seinem Urteil vom 5. Juli 1913 („Holzscheit” RG WarnR 1913 Nr. 402 S. 482) ausdrücklich offen. Der Bundesgerichtshof hat in dem Urteil seines damals für das Erbrecht zuständigen V. Zivilsenats vom 6. Juni 1961 (V ZR 18/60 „Ohrfeige in der Garage” FamRZ 1961, 437) die Auffassung vertreten, § 2333 Nr. 2 BGB setze eine vorsätzliche Körperverletzung im Sinne von § 223 StGB und damit auch eine mehr als unerhebliche Beeinträchtigung des Wohlbefindens voraus. Ein darüber hinausgehender Grad von Schwere der Beeinträchtigung („schwere Mißhandlung”), Böswilligkeit des Handelns oder eine gewisse Dauer des Verhaltens werde aber anders als in Nr. 3 bis 5 nicht verlangt. Daß der V. Zivilsenat sich damit von der Auffassung des Reichsgerichts hätte lösen und von dem Erfordernis der Pietätsverletzung überhaupt hätte absehen wollen, wird in der Entscheidung jedoch nicht deutlich. Der frühere IV. Zivilsenat hat in seinem Urteil vom 1. März 1974 („Alleinvertriebsvertrag” – IV ZR 58/72 – NJW 1974, 1084 = LM 2 zu § 2333 BGB) zu § 2333 Nr. 1 bis 4 BGB allgemein ausgeführt, insoweit kämen nur schwere Verfehlungen in Betracht. Dabei müsse es sich um Verfehlungen handeln, die eine grobe Mißachtung des Eltern-Kind-Verhältnisses zum Ausdruck bringen. In die gleiche Richtung weist es, wenn der frühere IV. Zivilsenat in seinem nichtveröffentlichten Urteil vom 19. Mai 1978 („Fehlschlag” – IV ZR 70/76) geäußert hat, bei der Auslegung des Begriffs „körperliche Mißhandlung” im Sinne von § 2333 Nr. 2 BGB könnten „auch” die für § 223 StGB geltenden Gesichtspunkte herangezogen werden. Allerdings heißt es in dem Urteil vom 25./26. Oktober 1976 („seelische Mißhandlung” – IV ZR 109/74 – FamRZ 1977, 47, 49 – NJW 1977, 339), der körperliche Angriff auf Eltern stelle eine besonders krasse Verletzung der den Vorfahren geschuldeten Achtung dar.

Im Schrifttum wird überwiegend die Auffassung vertreten, für § 2333 Nr. 2 BGB könne zwar eine „leichte” vorsätzliche Körperverletzung ausreichen; es müsse aber stets eine schwere Pietätsverletzung vorliegen. Strohal (Erbrecht 4. Aufl. Bd. I S. 497 Fn. 10) hat diese Auffassung bereits Anfang des Jahrhunderts vertreten (ebenso Planck/Strohal, BGB 3. Aufl. § 2333 Anm. 3b; Planck/Greiff, BGB 4. Aufl. § 2333 Anm. 3b und Ebbecke, Recht 1914 Sp. 407 Fn. 2). Auch das neuere Schrifttum folgt dieser Linie weithin (Firsching, JR 1960, 129, 130; Staudinger/Ferid/Cieslar, BGB 12. Aufl. § 2333 Rdn. 4; Soergel/Dieckmann, BGB 11. Aufl. § 2333 Rdn. 3; MK/Frank, BGB 2. Aufl. § 2333 Rdn. 7; Palandt/Edenhofer, BGB 48. Aufl. § 2333 Anm. 2b; vgl. auch OLG Stuttgart BWNotZ 1976, 92). Im wesentlichen wird sie heute nur noch von Erman/Schlüter (BGB 8. Aufl. § 2333 Rdn. 4) und Johannsen (BGB RGRK 12. Aufl. § 2333 Rdn. 6) ohne Begründung abgelehnt.

3. Der Senat schließt sich der überwiegenden Meinung im Ergebnis an.

Der Revision ist zuzugeben, daß der Wortlaut des § 2333 Nr. 2 BGB neben der vorsätzlichen körperlichen Mißhandlung nicht noch ein weiteres Tatbestandsmerkmal der Pietätsverletzung nennt. Die Revision kann auch darauf verweisen, daß die zweite Kommission in ihrer 376. Sitzung zwar beschlossen hat, in § 2001 Nr. 2 E I nach „vorsätzlichen” das Wort „groben” einzufügen, diesen Beschluß aber in der folgenden Sitzung wieder aufgehoben hat (Protokolle V S. 558, 559). Dabei trat die Kommission mit Mehrheit weiterhin der Auffassung entgegen, daß jede tätliche Mißhandlung der Eltern durch das Kind einen Entziehungsgrund bilden solle (S. 557); zur Aufrechterhaltung der „Familienzucht” reiche die Möglichkeit, das Kind auf den Pflichtteil zu setzen, schon aus (S. 561). Weiter wurde geltend gemacht: Nach dem Prinzip, der dem Entwurf zugrunde liege, berechtigte nur eine besonders schwere Pflichtverletzung den Erblasser zur Entziehung des Pflichtteils. Als eine solche grobe Pietätsverletzung werde eine leichte Mißhandlung nicht immer empfunden. Dennoch sei eine Streichung des Wortes „groben” vorzuziehen; denn auch in einer objektiv nicht schweren Mißhandlung könne eine schwere Pietätsverletzung liegen. Es müsse deshalb richtiger zum Ausdruck gebracht werden, daß (nur) eine solche Mißhandlung zur Entziehung berechtigte, in der eine schwere Pietätsverletzung dem Erblasser gegenüber liege. Da dieser Gedanke sich schwer ausdrücken lasse, liege es nahe, Nr. 2 ganz zu streichen. Das erschien aber nicht ratsam. Festgehalten wurde hierzu ferner, daß immer eine Mißhandlung erfordert werde. Aus diesem Begriff werde sich bei richtiger Auslegung von selbst ergeben, daß immer eine schwere Pietätsverletzung vorliegen müsse.

Die in dieser Begründung enthaltene Absage der Kommission an einen hergebrachten patriarchalischen Rigorismus hat ihr Gewicht bis heute keineswegs verloren. Daher ist es geboten, bei der bereits vom Reichsgericht angelegten Linie zu bleiben. Das gilt zumal deshalb, weil es unter der Geltung des aus dem Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 GG hervorgehenden Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit und des daraus folgenden Übermaßverbotes bedenklich wäre, den Forderungen eines strengen Rigorismus im Bereich der Pflichtteilsentziehung nachzugeben.

Wie der Senat bereits wiederholt ausgesprochen hat, kommt eine Pflichtteilsentziehung mit ihrem außerordentlichen Gewicht und ihrem demütigenden Charakter einer „Verstoßung über den Tod hinaus” nahe (BGHZ 94, 36, 43; Senatsurteil vom 18.1.1989 – IVa ZR 296/87 – NJW 1989, 2054, 2055). Sie ohne schwere Verletzung der dem Erblasser geschuldeten familiären Achtung von Rechts wegen zuzulassen, wäre mit dem verfassungsrechtlichen Übermaßverbot, das auch in das Zivilrecht hineinwirkt (vgl. z.B. Canaris, JZ 1987, 993), schwerlich zu vereinbaren. Das gilt um so mehr, als das Recht der pflichtteilsberechtigten Angehörigen des Erblassers auf eine angemessene Beteiligung an dessen Vermögen in einem gewissen Umfang auch unter dem Schutz von Art. 14, 6 Abs. 1 GG steht (BGHZ 98, 226, 233). Daß eine Entziehung dieser Rechtsposition auch bei einer vorsätzlichen Körperverletzung nicht ohne konkrete Abwägung der Gewichte der dem Abkömmling vorgeworfenen Vergehen gegen die familiären Bande zum Erblasser einerseits und der darauf gestützten Zerschneidung eben dieser Bande durch Quasiverstoßung (Art. 6 Abs. 1 GG) andererseits gerechtfertigt werden kann, liegt auf der Hand. Für eine Pauschalabwägung dahin, daß eine vorsätzliche Körperverletzung diesen schwersten Eingriff in das Eltern-Kind-Verhältnis immer rechtfertige, ist dieses Gebiet nicht geeignet. Körperverletzungen haben allgemein und auch in den Fällen des § 223 Abs. 2 StGB sehr unterschiedliches Gewicht. Der Strafrahmen reicht bis zu fünf Jahren Freiheitsstrafe; es kann aber im Einzelfall auch gemäß § 233 StGB von jeder Strafe abgesehen werden. Diese Unterschiede bei der Pflichtteilsentziehung völlig außer Acht zu lassen, ist nicht vertretbar.

4. Dennoch kann das angefochtene Urteil nicht bestehen bleiben.

Die Beklagten stellen den Vorfall, auf den die Pflichtteilsentziehungen gestützt sind, wie folgt dar:

Nach einer geschäftlichen Auseinandersetzung im Sommer 1981 habe der Erblasser dem Kläger eine Rechnung vorgelegt. Der Kläger habe hierauf äußerst aggressiv reagiert. Er habe sich auf den Erblasser „wie ein Stier” gestürzt, ihn auf die Brust geboxt und gestoßen. Er habe geschrien, der Erblasser solle machen, daß er „raus komme”, sonst würde er, der Kläger, sich vergessen.

Der Erblasser sei an diesem Tag in höchster Erregung nach Hause gekommen und habe über Schmerzen im Brustkorb geklagt. Er habe dann den Arzt aufgesucht. Dieser habe eine Prellung des Brustkorbes festgestellt. Der Erblasser habe erklärt, er habe dem Arzt aus Scham nicht die Ursache für die Verletzung genannt. Noch im Oktober 1981 habe der Erblasser seinem Schwiegersohn gegenüber weiterhin über anhaltende Schmerzen aufgrund des Vorfalls im Sommer 1981 geklagt. Auch in den auf Oktober 1981 folgenden Monaten sei der Erblasser wiederholt auf den Angriff des Klägers zu sprechen gekommen; dabei sei er jeweils in schwere Erregung geraten und mehrfach in Tränen ausgebrochen. Er habe nur mit Mühe wieder beruhigt werden können. Der Erblasser habe ferner dem ihn beratenden Rechtsanwalt berichtet, daß der Kläger ihn geschlagen habe, und stets daran festgehalten, daß er aus dem Verhalten des Klägers Konsequenzen ziehen werde.

Diesen Vortrag unterstellt der Tatrichter als zutreffend. Daß in diesem unterstellten Verhalten des Klägers eine Pietätsverletzung liege, sei nicht zu bestreiten. Die Tätlichkeit stelle auch nicht in einem solchen Maße eine Bagatelle dar, daß die Verletzung schon wegen des Umfangs und des Gewichts der Verletzungshandlung als so geringfügig angesehen werden könne, daß die Anwendung von § 2333 Nr. 2 BGB mangels hinreichender Schwere ohne weiteres zu verneinen wäre. Trotzdem verneint das Berufungsgericht eine schwere Pietätsverletzung. Dafür nennt es zwei Gründe: Einmal habe sich (der Vorfall und) die (darin liegende) Manifestation kindlicher Mißachtung nicht vor Augenzeugen, sondern nur vor Ohrenzeugen ereignet und sei damit ein (bloßes) Internum geblieben. Zum andern stellt das Berufungsgericht entscheidend darauf ab, daß zwischen dem verletzten Erblasser und dem Kläger heftiger Streit über die Zusammenarbeit im Betrieb des Erblassers sowie mit dem eigenen Betrieb des Klägers bestanden habe. Der Streit und die daraus entspringende Tätlichkeit des Klägers habe nicht in familiärem Rahmen, sondern innerhalb geschäftlicher Beziehungen gespielt. Es handele sich um harte Auseinandersetzungen zwischen Geschäftsleuten, die entgegengesetzte Interessen mit Nachdruck verfolgt und zudem noch dasselbe Büro geteilt hätten. Wenn die Beteiligten dabei nicht nur mit Worten, sondern auch körperlich aneinandergeraten seien, dann könne der von den Beklagten geschilderte Boxhieb des Klägers gegen den Erblasser, auch wenn dieser im Recht gewesen sei, nicht als so schwere Pietätsverletzung gewertet werden, daß eine Pflichtteilsentziehung gemäß § 2333 Nr. 2 BGB möglich sei.

Diese Bewertung beanstandet die Revision zutreffend als rechtsfehlerhaft.

Ob die Tätlichkeit eines Abkömmlings gegen den Erblasser eine so schwere Pietätsverletzung darstellt, daß sie die darauf gestützte Pflichtteilsentziehung gemäß § 2333 Nr. 2 BGB rechtfertigt, ist zwar eine Wertungsfrage, deren Beantwortung weitgehend einer Würdigung durch den Tatrichter überlassen bleiben muß. Dem Berufungsgericht sind aber in diesem Zusammenhang Rechtsfehler unterlaufen, die zur Aufhebung des angefochtenen Urteils führen.

So erscheint es schon nicht widerspruchsfrei, wenn das Berufungsgericht einerseits eine Pietätsverletzung ausdrücklich bejaht und deren „hinreichende Schwere” nicht verneinen kann, andererseits aber schwere Pietätsverletzung trotzdem verneint, weil es sich um ein „Internum” innerhalb „geschäftlicher Beziehungen” handele. Hinzu kommt, daß die Gesichtspunkte „Internum” und „geschäftliche Beziehungen” ungeeignet sind, eine etwa aufgrund des Umfangs und des Gewichts einer Verletzungshandlung zu bejahende schwere Pietätsverletzung zu einer nichtschweren abzumildern.

Zu der ersten Begründung des Berufungsgerichts („Internum”) ist zu sagen: Wenn der Kläger den Erblasser nicht nur (im Verborgenen) mißhandelt, sondern vor Betriebsangehörigen mißhandelt hätte, dann könnte dieser Umstand bei der Bewertung der darin liegenden Pietätsverletzung gewiß erschwerend ins Gewicht fallen. Das gilt aber nicht auch umgekehrt. Überdies ist es wenig einleuchtend, hier zwischen Augen- und Ohrenzeugen zu unterscheiden.

Dagegen kann es für die Bewertung einer Pietätsverletzung als einer schweren oder nichtschweren im allgemeinen nicht ins Gewicht fallen, ob diese im „geschäftlichen” oder im „familiären” Bereich vorgekommen ist. Die den Vorfahren geschuldete Achtung läßt eine derartige Differenzierung nicht zu, sondern umfaßt alle Lebensbereiche. Die vom Berufungsgericht herangezogene Entscheidung des Bundesgerichtshofes (NJW 1974, 1084) besagt nichts anderes.

Hiernach wird das Berufungsgericht die gegen den Kläger erhobenen Vorwürfe im einzelnen aufklären und in ihrem Gesamtzusammenhang neu zu würdigen haben.

 

Unterschriften

Rottmüller, Dr. Lang, Dehner, Dr. Schmidt-Kessel, Dr. Zopfs

 

Fundstellen

BGHZ

BGHZ, 306

NJW 1990, 911

FamRZ 1990, 398

Nachschlagewerk BGH

DNotZ 1990, 808

JZ 1990, 697

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