Entscheidungsstichwort (Thema)

Deutsches Interlokales Privatrecht nach der Wiedervereinigung

 

Leitsatz (amtlich)

Der Einigungsvertrag setzt nicht zwei verschiedene, sondern ein einziges deutsches Interlokales Privatrecht voraus. Maßgebend ist das an das jetzt einheitliche Internationale Privatrecht des EGBGB angelehnte Interlokale Privatrecht.

Zur Testamentsanfechtung wegen unzutreffender Erwartungen des Erblassers in bezug auf die Wiedervereinigung.

Die Anfechtung gemäß § 374 ZGB setzt auch nach dem 2. Oktober 1990 eine Anfechtungsklage voraus. Für ihre Rechtzeitigkeit kommt es auf den Eingang bei Gericht an.

 

Normenkette

EinigVtr Art. 8; EGBGB vor Art. 3 (Deutsches Interlokales Privatrecht); ZGB DDR § 374; BGB § 2078 Abs. 2; EGBGB Art. 235 § 1, Art. 231 § 6, Art. 3; ZGB-DDR § 374im

 

Verfahrensgang

BezirksG Chemnitz (Urteil vom 16.11.1992)

KreisG Chemnitz-Stadt

 

Tenor

Die Revision der Kläger gegen das Urteil des 2. Zivilsenats des Bezirksgerichts Chemnitz vom 16. November 1992 wird auf Ihre Kosten zurückgewiesen.

Von Rechts wegen

 

Tatbestand

Die beiden Kläger und die Beklagte sind Geschwister, sie streiten um die Erbfolge nach ihrer Mutter.

Die Eltern der Parteien und diese selbst lebten in C.. Während die Eltern und die Beklagte ihren Wohnsitz beibehielten, zogen die beiden Söhne in den Jahren 1955/1956 nach Westdeutschland; sie galten im Osten als Republikflüchtlinge. Im Jahre 1972 errichteten die Eltern ein notarielles gemeinschaftliches Testament, in dem sie sich gegenseitig zu Alleinerben und die Beklagte zur Alleinerbin nach dem Längstlebenden einsetzten. Dementsprechend wurde der im Jahre 1975 verstorbene Vater der Parteien von der Mutter allein beerbt. Nach dem Tode der Mutter am 14. April 1989 hält sich die Beklagte für deren testamentarische Alleinerbin. Die Kläger haben das gemeinschaftliche Testament ihrer Eltern angefochten, soweit diese „sie nicht neben der Beklagten zu je einem Drittel als Schlußerben eingesetzt” haben. Dazu haben sie vorgetragen, die Eltern hätten sie nur deshalb enterbt, weil sie Nachlaßgegenstände als sogenannte Republikflüchtlinge nach den damaligen politischen Verhältnissen nicht hätten erhalten können. Es sei zu befürchten gewesen, daß der Nachlaß insoweit unter staatliche Verwaltung gestellt worden wäre. Nur um dies zu vermeiden, sei die Beklagte als Schlußerbin eingesetzt worden. Die irrige Erwartung der Eltern, die Wiedervereinigung und die damit verbundene Freizügigkeit werde nicht eintreten, berechtigte sie zur Testamentsanfechtung. Ohne den Irrtum der Eltern über die künftige politische Entwicklung wäre die Beklagte nicht zur Alleinerbin eingesetzt worden.

Die Kläger haben beantragt festzustellen, daß sie neben der Beklagten Miterben zu je einem Drittel nach ihrer Mutter geworden seien; hilfsweise haben sie auf Auskunft und Zahlung geklagt. Vor dem Kreisgericht und dem Bezirksgericht hatten die Kläger keinen Erfolg. Mit der zugelassenen Revision verfolgen sie ihre Klageanträge weiter.

 

Entscheidungsgründe

Auch die Revision hat keinen Erfolg.

1. Mit Recht legen beide Vorinstanzen ihrer Entscheidung das Erbrecht der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (DDR) zugrunde.

a) Zutreffend erkennt das Berufungsgericht, daß das Zivilgesetzbuch (ZGB) nicht schon deshalb als maßgeblich anzusehen ist, weil Art. 235 § 1 Abs. 1 BGB für die erbrechtlichen Verhältnisse auf das bisherige Recht verweist, wenn der Erblasser vor dem 3. Oktober 1990 verstorben ist. Diese Vorschrift ist eine sogenannte intertemporale Norm, die wie alle Übergangsvorschriften des 6. Teiles des Einführungsgesetzes zum Bürgerlichen Gesetzbuche (Einigungsvertrag Anl. 1 Kap. III Sachgeb. B Abschn. II Nr. 1 – BGBl. 1990 II S. 885, 941, 950) zwar im gesamten Bundesgebiet gilt. Wie alle diese Übergangsvorschriften setzt sie aber ihrerseits voraus, daß das im Gebiet der ehemaligen DDR (Beitrittsgebiet, vgl. Art. 3 Einigungsvertrag) mit dem Einigungsvertrag in Kraft gesetzte Bundesrecht im konkreten Fall überhaupt eingreift. Ist das der Fall, dann geben die Übergangsvorschriften nur Antwort auf die Frage, inwieweit das neue Recht des Beitrittsgebiets mit seinen Besonderheiten anzuwenden ist und wo dessen alte Gesetze maßgebend bleiben.

Von diesen intertemporalen Regelungen zu unterscheiden ist die vorrangige Frage danach, ob das Recht des Beitrittsgebietes (Teilrechtsordnung Ost) oder das im früheren Bundesgebiet geltende Recht (Teilrechtsordnung West) maßgebend ist. Die dafür erforderlichen interlokalen Kollisionsregeln sind nicht gesetzlich normiert. Bei den Verhandlungen zum Einigungsvertrag ist bewußt davon abgesehen worden, derartige Regeln vorzuschreiben (Denkschrift zum Einigungsvertrag Teil C – BT-Drucks. 11/7817 S. 36f. Nomos Verlagsgesellschaft, Erläuterungen zum Einigungsvertrag S. 67 zu Art. 230 Abs. 5).

Die hier vorausgesetzten interlokalen Regeln sind in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs seit langem entwickelt. Sie lehnen sich als deutsch-deutsche Kollisionsregeln an das nunmehr einheitlich geltende Internationale Privatrecht der Art. 3ff. EGBGB an, allerdings mit dem Unterschied, daß in deutsch-deutschen Fällen nicht auf das Heimatrecht, sondern statt dessen auf den gewöhnlichen Aufenthalt der Anknüpfungsperson abgestellt (BGHZ 85, 16, 22; 91, 186, 194ff.) und auf kollisionsrechtliche Interessen der Beteiligten besondere Rücksicht genommen wird (BGHZ 91, 186, 196f.). An diesen ungeschriebenen Regeln hat sich durch den Einigungsvertrag nichts Grundsätzliches geändert (vgl. BGH, Beschluß vom 12.12.1990 – XII ZB 201/87 – LM EinigungsV Art. 8 Nr. 3 unter 2 = BGHR EGBGB Art. 234 § 6 „Durchführung 1”). Sie sind gemäß Art. 8 des Einigungsvertrages seit der deutschen Einigung auch im Beitrittsgebiet zu beachten (vgl. Erläuterungen zum Einigungsvertrag S. 68 Abs. 2). Im Hinblick auf die noch bestehenden Unterschiede zwischen den beiden deutschen Teilrechtsordnungen werden sie auf nicht absehbare Zeit auch für Neufälle von besonderer Bedeutung sein.

Im Erbrecht gilt danach einheitlich im gesamten Bundesgebiet die Regel, daß sich die Rechtsnachfolge von Todes wegen nach einem deutschen Erblasser nach den Bestimmungen derjenigen Teilrechtsordnung richtet, in deren Geltungsbereich der Erblasser seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte (BGH, Beschluß vom 6.7.1977 – IV ZB 63/75 – FamRZ 1977, 786, 787 = WM 1977, 1145, 1146).

Diese Rechtslage gewährleistet den mit dem Einigungsvertrag angestrebten interlokal-privatrechtlichen Entscheidungseinklang (vgl. Erläuterungen zum Einigungsvertrag aaO).

Entgegen einer im Schrifttum vertretenen Auffassung besteht dagegen kein Raum, die in der DDR früher praktizierte Auffassung, wonach deren Internationales Privatrecht auch in deutsch-deutschen Kollisionsfällen anzuwenden sei, beizubehalten oder gar ein eigenes interlokales Privatrecht „Ost” daraus erst neu zu entwickeln (Heldrich, Das Interlokale Privatrecht Deutschlands nach dem Einigungsvertrag S. 9ff.). Die DDR-Staatsbürgerschaft, an die § 25 des Rechtsanwendungsgesetzes der DDR für die Erbfolge anknüpfte, kommt als interlokal-privatrechtliches Anknüpfungsmoment ohnehin schon deshalb nicht in Betracht, weil sie in der Bundesrepublik nicht anerkannt wurde, da sie im Hinblick auf das Wiedervereinigungsgebot der Präambel des Grundgesetzes aus verfassungsrechtlichen Gründen auch nicht anerkannt werden durfte (BVerfGE 36, 1; 37, 57) und weil sie zudem seit der deutschen Einigung untergegangen ist. Abgesehen davon müßte ein zweites (ostdeutsches) interlokales Kollisionsrecht, das sich von dem bewahrten, an Art. 3ff. EGBGB angelehnten interlokalen Kollisionsrecht unterschiede und dem Rechtsanwendungsgesetz der DDR nachgebildet wäre, die mit dem Einigungsvertrag angestrebte Rechtseinheit prinzipiell verfehlen. Allerdings sollten Eingriffe in bereits entstandene Rechte nach Möglichkeit vermieden werden.

b) Da die Erblasserin bei ihrem Tode ihren gewöhnlichen Aufenthalt in C. hatte, verweist das ungeschriebene interlokale Privatrecht auf das Recht des Beitrittsgebietes. Danach ist gemäß Art. 235 § 1 Abs. 1 EGBGB intertemporal für den Erbfall vom 14. April 1989 nicht das heute dort geltende, sondern das bisherige Recht, nämlich das Erbrecht des Zivilgesetzbuches maßgebend.

2. Mit Recht läßt das Berufungsgericht die Klage auch nicht daran scheitern, daß die Frist für die Anfechtung versäumt sei. Soweit, es sich um die Anfechtung der von der Mutter der Parteien verfügten Schlußerbeneinsetzung der Beklagten handelt, sind die dafür maßgebenden Fristen gewahrt.

Das ZGB und das Einführungsgesetz zum ZGB (EGZGB), die am 1. Januar 1976 in der DDR in Kraft traten (§ 1 EGZGB), ließen die Wirksamkeit der bis dahin unter der Geltung des Bürgerlichen Gesetzbuches errichteten Testamente im Grundsatz unberührt (§ 8 Abs. 2 Satz 1 EGZGB). Jedoch war gemäß § 2 Abs. 2, § 8 Abs. 1 EGZGB, soweit der Erbfall nicht schon zuvor eingetreten war, eine Testamentsanfechtung nicht mehr nach §§ 2078ff. BGB, sondern nach § 374 ZGB zu beurteilen. Danach hatte die Anfechtung nicht mehr durch Erklärung gegenüber dem Nachlaßgericht (staatlichen Notariat), sondern durch Klage gegen den Begünstigten zu erfolgen. Diese Form ist hier eingehalten.

Wie das Berufungsgericht rechtsfehlerfrei feststellt, haben die Kläger Kenntnis von dem behaupteten Anfechtungsgrund nicht schon mit dem Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 erlangt, sondern frühestens aufgrund der Gemeinsamen Erklärung der Regierungen der beiden deutschen Staaten zur Regelung offener Vermögens fragen vom 15. Juni 1990 – BGBl. II S. 1237 – und deren Nr. 2 über die Rückgabe von Vermögen der sogenannten Republikflüchtlinge. Auch die Revisionserwiderung, die insoweit um rechtliche Überprüfung bittet, kann hierzu keinen Rechtsfehler anführen.

Maßgebend für die Rechtzeitigkeit der Anfechtung ist gemäß § 11 Abs. 2, Abs. 1 Satz 1 EGZGB die Jahresfrist des § 374 Abs. 2 Satz 2 ZGB. Diese war, da sie hier frühestens am 15. Juni 1990 zu laufen begann, am 3. Oktober 1990 noch nicht abgelaufen. Daher sind die Oberleitungsvorschriften des Art. 231 § 6 EGBGB anzuwenden. Diese betreffen zwar in erster Linie die Verjährung, gelten aber gemäß Art. 231 § 6 Abs. 3 EGBGB entsprechend auch für Ausschlußfristen, die für die Geltendmachung, den Erwerb oder den Verlust eines Rechtes maßgebend sind. Darunter fallen auch die Fristen für die Anfechtung eines Testaments. Indessen verändern diese Vorschriften, da die Frist des § 374 Abs. 2 Satz 2 ZGB nicht länger ist als diejenige des § 2082 Abs. 1 BGB, gemäß Art. 231 § 6 Abs. 3 in Verb, mit Abs. 2 EGBGB weder die Dauer der Frist noch deren Beginn.

Soweit Art. 231 § 6 Abs. 3 in Verb, mit Abs. 1 Satz 1 EGBGB für Ausschlußfristen uneingeschränkt auf die Verjährungsvorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuches verweist, kann sich die Frage stellen, ob auch Ausschlußfristen nach Maßgabe des Verjährungsrechts sollen unterbrochen und gehemmt werden können. Diese Frage ist hier nicht zu beantworten. Jedenfalls regeln die genannten Verjährungsvorschriften nicht, in welcher Weise verfahren werden muß, um den einzelnen Ausschlußfristen, hier der Anfechtungsfrist des § 374 ZGB, zu genügen. Deshalb muß es in dieser Beziehung bei der allgemeinen Verweisung des Art. 235 § 1 Abs. 1 EGBGB auf das Zivilgesetzbuch und bei dem dort normierten Erfordernis der Anfechtungsklage verbleiben (so OLG Dresden DtZ 1993, 311; a.M. Notariat I Müllheim DtZ 1992, 157, 159; Bestelmeyer, RPfleger 1993, 381, 387). Ob es insoweit seit dem 3. Oktober 1990 der Klageerhebung, nämlich der Zustellung der Klageschrift (§ 253 Abs. 1 ZPO) mit der dadurch begründeten Rechtshängigkeit (§ 261 Abs. 1 ZPO) bedarf, oder ob schon die bloße Einreichung der Klageschrift bei Gericht (hier am 15. März 1991) genügt, richtet sich daher nicht nach § 262 ZPO, sondern gemäß Art. 235 § 1 Abs. 1 EGBGB ebenfalls nach dem bisherigen materiellen Recht. Danach ist für die Einhaltung der Frist wie in den Fällen der §§ 477 Abs. 1 Nr. 2, 127 ZGB, § 62 FGB, § 126 Abs. 2 AGB materiell-rechtlich auch hier auf die Einreichung der Klage abzustellen (so OLG Dresden DtZ 1993, 311, 312; vgl. auch Kellner, Zivilprozeßrecht der DDR S. 155; a.M. Notariat I Müllheim DtZ 1992, 157, 159; Bestelmeyer, RPfleger 1993, 381, 387).

4. Der Senat folgt dem Berufungsgericht ferner, soweit es § 374 ZGB dahin versteht, daß auch der sogenannte Motivirrtum im Sinne von § 2078 Abs. 2 BGB zur Anfechtung berechtigte.

Das ZGB regelt die Gründe für eine Anfechtung testamentarischer Verfügungen nur in § 374 Abs. 1. Danach ist eine Anfechtung möglich, „wenn der Erblasser sich über den Inhalt seiner Erklärung im Irrtum befand und er bei Kenntnis der Sachlage die Erklärungen nicht abgegeben hätte”. Dieser Wortlaut behandelt nur den Inhaltsirrtum. Er sagt über den Motivirrtum und auch über den sogenannten Erklärungsirrtum nichts aus. Dennoch wurde die Vorschrift im Schrifttum der ehemaligen DDR einhellig dahin ausgelegt, daß sie auch den in § 2078 Abs. 1 BGB behandelten Erklärungsirrtum und den in § 2078 Abs. 2 BGB geregelten Fall des Motivirrtums mitumfaßt (Drews/Halgasch, Erbrecht 1979 S. 41f.; Göhring/Posch, Zivilrecht Lehrbuch Teil 2 1981 S. 261f.; Kommentar zum Zivilgesetzbuch, herausgegeben vom Ministerium der Justiz 2. Aufl. 1985 § 374 Anm. 1.1.). Das hängt damit zusammen, daß das ZGB – abgesehen von der Streichung einiger erbrechtlicher Institute wie des Erbvertrages und tiefgreifenden Änderungen zu Einzelfragen – weithin gemeindeutscher Tradition verhaftet blieb (vgl. Meincke, JR 1976, 9, 47). Dementsprechend beschränkte sich die Neuregelung des Erbrechts großenteils auf den Versuch, gemäß den Vorgaben des VIII. Parteitages der SED mit dem „Hang zum Perfektionismus” (Arnold, NJ 1975, 14) und dem, „alten Paragraphendickicht … aufzuräumen” und statt dessen den Wortlaut zu straffen und durch bessere Überschaubarkeit und Verständlichkeit (Weichelt, NJ 1975, 409) in die „Sprache des Volkes” (Ebert, NJ 1975, 407, 409) zu bringen. Die angeführten Äußerungen lassen darauf schließen, daß § 374 ZGB von vornherein, in dem überkommenen umfassenden Sinn gemeint war und allgemein auch so praktiziert worden ist. Diese Rechtspraxis wäre bei der Beurteilung von Kollisionsfällen schon immer auch von westdeutschen Gerichten zu beachten gewesen. Sie insgesamt heute in Frage zu stellen, geht nicht an. Vielmehr ist das bisherige Recht der DDR auch nach der deutschen Einigung im Grundsatz so anzuwenden, wie dies dort gehandhabt wurde.

Die grundsätzliche Übernahme des alten Normenverständnisses entspricht dem Vertrauensgrundsatz, auf dem die Regelung des Art. 235 § 1 Abs. 1 EGBGB aufbaut. Wenn Art. 235 § 1 Abs. 1 EGBGB für Erbfälle vor dem 3. Oktober 1990 die Weitergeltung des bisherigen Rechts anordnet, so soll dadurch das Vertrauen des Erblassers geschützt werden, daß das bei seinem Tod geltende Erbrecht auch weiterhin gelten wird. Der Erblasser vertraut aber nicht nur darauf, daß das Erbrecht in seinem Text unverändert bestehen bleibt, sondern auch darauf, daß sich an dessen Verständnis nichts ändert. Auch im Internationalen Privatrecht ist anerkannt, daß es auf das Normenverständnis an Ort und Stelle ankommt, wenn ausländisches Recht anzuwenden ist (Kegel, Internationales Privatrecht 6. Aufl. S. 318; MünchKomm/Sonnenberger, EGBGB 2. Aufl. Einleitung Rdn, 455ff.).

Davon gilt allerdings eine hier nicht eingreifende Ausnahme: Da mit dem Wirksamwerden des Beitritts das Grundgesetz gemäß Art. 3 des Einigungsvertrages in der ehemaligen DDR in Kraft getreten ist, ist eine in der ehemaligen DDR vertretene Gesetzesauslegung nur maßgebend, wenn sie mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Sie ist auch dann unmaßgeblich, wenn sie auf spezifisch sozialistischen Wertungen beruht. Dies folgt schon aus Art. 1 des DDR-Gesetzes (Verfassungsgrundsätze) vom 17. Juni 1990 (GBl. DDR I S. 299) und aus Art. 4 Abs. 1 Satz 1 des Vertrages über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik und der DDR vom 18. Mai 1990 (BGBl. 1990 II S. 537ff.), nach denen das Recht der DDR, soweit es nach dem Vertrag unverändert fortbesteht, unter anderem gemäß den im gemeinsamen Protokoll vereinbarten Leitsätzen (BGBl. 1990 II S. 545f.) auszulegen ist. Danach (Leitsatz A I 2 des gemeinsamen Protokolls) sind von spezifisch sozialistischen Wertungen geprägte Vorschriften nicht mehr anzuwenden. Das dementsprechend ausgelegte DDR-Recht ist das bisherige DDR-Recht im Sinne des Art. 235 § 1 Abs. 1 EGBGB (vgl. auch BGH Urteil vom 22.6.1993 – VI ZR 302/92 – m.w.N. – ZIP 1993, 1265 = VersR 1993, 1158).

Die Auslegung, nach der § 374 Abs. 1 ZGB auch den Motivirrtum umfaßt, ist schließlich mit dem Grundgesetz vereinbar. Sie verstößt nicht gegen rechtsstaatliche Prinzipien. Insbesondere gibt es keinen verfassungsrechtlichen Grundsatz, der auch nicht ausnahmsweise eine Auslegung zuließe, die dem Wortlaut nicht ohne weiteres zu entnehmen ist (nur im Ergebnis ebenso Notariat I Müllheim DtZ 1992, 157, 159; Sandweg, BWNotZ 1992, 45, 55).

5. a) Auch im übrigen lehnt sich das Bezirksgericht bei der Auslegung von § 374 ZGB im Hinblick auf den knappen Wortlaut der. Norm und fehlendes Auslegungsmaterial an die Vorläufervorschrift des § 2078 BGB an. Dabei geht es davon aus, daß mit der Einführung des Zivilgesetzbuches keine grundsätzliche Abkehr von der früheren Regelung der Testamentsanfechtung gewollt gewesen sei. Das sei hier anders als bei der Abschaffung des Erbvertrages. Auch diesen Ausgangspunkt teilt der Senat; er kann sich auf verschiedene Stimmen im neueren Schrifttum stützen (vgl. z.B. MK/Leipold, BGB 2. Aufl. Ergänzungsband Einigungsvertrag Rdn. 660). Für den Senat gibt hier den Ausschlag, daß der auf Rechtsvereinheitlichung gerichtete Einigungsvertrag es nahelegt, die beiden aus der deutschen Teilung hervorgegangenen Teilrechtsordnungen nach Möglichkeit auch für Altfälle beieinanderzuhalten und zwischen ihnen bestehende Unterschiede jedenfalls nicht im Nachhinein noch zu vergrößern oder zu verstärken.

b) Damit kommt es darauf an, ob die Mutter der Parteien zu ihrer Verfügung in dem gemeinschaftlichen Testament vom 13. November 1972, durch die sie die Beklagte zu ihrer Alleinerbin einsetzte, durch eine irrige Erwartung bestimmt worden ist. Diese Erwartung soll nach dem Klägervortrag darauf gerichtet gewesen sein, daß die Wiedervereinigung Deutschlands und die damit verbundene Freizügigkeit nicht eintreten werde; sie habe sich im Nachhinein als irrig erwiesen.

c) Ob eine irrige Vorstellung oder Erwartung die Testamentsanfechtung begründet, setzt im Einzelfall eine umfassende Prüfung der Motivationslage des Erblassers voraus (BGH Urteile vom 23.4.1951 – IV ZR 17/51 – LM BGB § 2100 Nr. 1 unter II 2 Bl. 1 R; vom 27.5.1971 – III ZR 53/69 – WM 1971, 1153, 1155 unter II 2 a). Nur auf der Grundlage einer solchen Prüfung kann zuverlässig entschieden werden, welche Beweggründe den Erblasser zu der Verfügung bestimmt haben. Nur dann kann beurteilt werden, ob eine auf die Zukunft gerichtete Erwartung des Erblassers – sei sie nun (bewußte) Vorstellung oder (unbewußte) „Selbstverständlichkeit” – von dem „erheblichen Gewicht” eines „bewegenden Grundes” war, das die Anfechtung voraussetzt (Senatsurteil vom 27.5.1987 – IVa ZR 30/86 – WM 1987, 1019, 1020), um nachträglichen Spekulationen über den Erblasserwillen entgegenzuwirken.

d) Im vorliegenden Fall hat das Berufungsgericht zu der Motivationslage der Erblasserin festgestellt, auch die politischen Verhältnisse in der damaligen DDR hätten die Abfassung des gemeinschaftlichen Testamentes von 1972 mitbestimmt. Da die Kläger als Republikflüchtlinge gegolten hätten, sei zu befürchten gewesen, daß, wenn sie zu Erben eingesetzt würden, ihre Nachlaßanteile unter staatliche Verwaltung gestellt (und der Familie verlorengehen) würden: Deshalb sei es durchaus nachvollziehbar, daß die Eltern das Familienvermögen vor dem staatlichen. Zugriff hätten bewahren wollen. Dies könne mit ein Grund dafür gewesen sein, daß die Beklagte als alleinige Schlußerbin eingesetzt worden sei.

Andererseits sieht das Berufungsgericht nicht als bewiesen an, daß die Eltern bei Kenntnis der künftigen Entwicklung eine andere testamentarische Verfügung getroffen haben würden. Zwischen den Klägern und ihren Eltern habe es nämlich schwere Zerwürfnisse gegeben, unter denen diese schwer gelitten hätten. Gerade diese hätten dazu geführt, daß die Beklagte Alleinerbin habe werden sollen. Hinzu komme, daß die Eltern in ihrem Testament von 1972 die Einsetzung der Beklagten damit begründet hätten, daß diese sie seit vielen Jahren in der Wirtschaft unterstütze und damit dazu beitrage, ihnen einen schönen Lebensabend zu bereiten.

Damit hat das Berufungsgericht schon die Kausalität des geltend gemachten Motivirrtums für die getroffene Verfügung nicht festgestellt. Die dagegen gerichteten Angriffe der Revision sind im Ergebnis unbegründet.

e) Da die deutsche Einigung für alle Beteiligten überraschend kam und jedenfalls im Jahre 1972 von keiner Seite erwartet wurde und erwartet werden konnte, liegt es nahe, mit den Klägern anzunehmen, die Erwartungen der Eltern in bezug auf die politische Entwicklung in Deutschland hätten sich nachträglich als irrig erwiesen. Anders ist es bei der Frage, wie die Eltern der Parteien bei Errichtung ihres gemeinschaftlichen Testaments verfügt haben würden, wenn sie im Jahre 1972 die politische Entwicklung bis zum 3. Oktober 1990 zutreffend vorausgesehen hätten. Da die gegenseitige Erbeinsetzung der Eltern von den Beteiligten hingenommen wird, bestehen allerdings keine Zweifel, daß sie diese auch ohne den Irrtum verfügt haben würden. Dagegen läßt sich nicht ohne weiteres sagen, wie die Eltern für den Erbfall nach dem Längstlebenden von ihnen testiert haben würden. Dies gilt selbst dann, wenn man die übrigen Motive der Erblasserin und ihres Ehemannes (Zerwürfnis mit den Klägern, Unterstützung durch die Beklagte) zunächst beiseite läßt und nur annimmt, es sei den Eltern ausschließlich darum gegangen, ihr Vermögen möglichst nicht in die Hand des DDR-Staates gelangen zu lassen. In der hier angenommenen Lage wäre es selbst einem den Klägern wohlgesonnenen und ihren Zielen wohlwollenden Berater schwergefallen, diesen einen zweckmäßigen Rat zu erteilen, der von dem gemeinschaftlichen Testament inhaltlich abwiche.

Da die Eltern im Jahre 1972 damit rechnen mußten, der Längstlebende von ihnen werde vor dem Jahre 1990, der künftigen Wiedervereinigung, sterben, mußten sie gerade für diesen Fall Vorsorgen. Dafür bot sich aus ihrer Sicht nur eine Alleinerbeinsetzung der Beklagten an. Dadurch wurde vermieden, daß etwaige Erbteile der Kläger unter staatliche Verwaltung kamen. Auch eine aufschiebend bedingte Zuwendung an die Kläger für den Fall der künftigen Wiedervereinigung wäre den Klägern nicht ohne weiteres zu empfehlen gewesen, weil eine derartige Verfügung als ein Verstoß gegen die sozialistische Moral im Sinne von § 373 Abs. 1 ZGB hätte angesehen werden können und weil das den Klägern andere Nachteile von selten des DDR-Staates hätte eintragen können. Daß die Erblasser in einer derartigen Zwangslage einen Ausweg gefunden hätten, der ihren aus der DDR geflohenen Abkömmlingen trotz der bekannten Haltung der Staatsorgane gegenüber Republikflüchtlingen einen angemessenen Anteil am Nachlaß sicherte, erscheint unwahrscheinlich und dürfte jedenfalls im allgemeinen nicht anzunehmen sein. Schon deshalb ist die angefochtene Entscheidung im Ergebnis nicht zu beanstanden.

f) Hier kommt noch hinzu, daß das Berufungsgericht zwei weitere Motive festgestellt hat, die für die Schlußerbeneinsetzung der Beklagten bestimmend oder mitbestimmend gewesen sind oder gewesen sein können, die die Kläger nicht haben ausräumen können. Unter diesen Umständen ist das Berufungsgericht im Ergebnis mit Recht zu dem Ergebnis gelangt, daß die unzutreffende Beurteilung der künftigen politischen Entwicklung in Deutschland durch die Erblasser für die angefochtene Verfügung schon nicht kausal war. Auf die besonderen Anforderungen, die der Senat an die Qualität irriger Erwartungen bei der Testamentsanfechtung stellt (Urteil vom 27.5.1987 – WM 1987, 1019, 1020), kommt es danach nicht mehr an. Auch auf die weitere in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat angeschnittene Frage nach einer Einschränkung der Testamentsanfechtung bei der Erwartung künftiger Umstände durch den Erblasser, die sich erst nach seinem Tode als irrig erweist, braucht nicht eingegangen zu werden.

g) Wenn das Berufungsurteil an mehreren Stellen darauf abstellt, es sei nicht bewiesen, daß die Erblasserin ohne den behaupteten Motivirrtum eine andere testamentarische Verfügung oder sogar eine solche zugunsten der Kläger getroffen haben würde, dann geht das über die Anforderungen hinaus, die an eine Testamentsanfechtung zu stellen sind. Wie die Revision zutreffend ausführt, ist notwendig nur der Nachweis, daß die angefochtene Verfügung nicht getroffen worden wäre. Auf dieser unzutreffenden Sicht beruht das Berufungsurteil aber nicht, weil das Berufungsgericht ersichtlich auch sagen will, daß die Erblasserin ohne den Irrtum ebenso testiert haben würde, wie das geschehen ist.

Auch verkennt das Berufungsgericht nicht, daß Kausalität nicht voraussetzt, daß es sich bei dem irrig erwarteten Umstand um die einzige Ursache handelt. Es schließt nämlich ausdrücklich aus, daß der behauptete Motivirrtum der alleinige maßgebliche Grund für die Schlußerbeneinsetzung sei. Gerade deshalb kann es sich nicht davon überzeugen, daß die Erblasserin ohne den Irrtum so nicht testiert haben würde.

 

Unterschriften

Bundschuh, Dr. Schmidt-Kessel, Dr. Zopfs, Römer, Dr. Schlichting

 

Fundstellen

Haufe-Index 1128865

BGHZ

BGHZ, 270

NJW 1994, 582

Nachschlagewerk BGH

ZEV 1994, 101

JZ 1994, 468

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