Leitsatz (amtlich)

Zur Frist, innerhalb deren eine versäumte Rechtsbeschwerdebegründung nach Bewilligung von Prozesskostenhilfe nachzuholen ist (Fortführung von BGH, Beschl. v. 9.7.2003 - XII ZB 147/02, BGHReport 2003, 1155)

 

Normenkette

ZPO §§ 236, 575 Abs. 2

 

Verfahrensgang

LG Gera (Beschluss vom 19.07.2002; Aktenzeichen 1 S 128/02)

LG Gera (Beschluss vom 07.06.2002; Aktenzeichen 1 S 128/02)

AG Jena (Urteil vom 13.02.2002; Aktenzeichen 28 C 577/01)

 

Tenor

1. Die Verfahren III ZB 84/02 und III ZB 85/02 werden unter dem Aktenzeichen III ZB 84/02 verbunden.

2. Dem Beklagten wird gegen die Versäumung der Fristen zur Einlegung der Rechtsbeschwerden gegen die Beschlüsse der 1. Zivilkammer des LG Gera (LG Gera, Beschl. v. 7.6. und v. 19.7.2002 - 1 S 128/02) - Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bewilligt. Einer Wiedereinsetzung wegen der Versäumung der Fristen zur Begründung der Rechtsbeschwerden bedarf es nicht.

3. Auf die Rechtsbeschwerden des Beklagten werden die vorbezeichneten Beschlüsse der 1. Zivilkammer des LG Gera aufgehoben. Es wird festgestellt, dass die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des AG Jena, Urt. v. 13.2.2002 - 28 C 577/01 - zulässig ist; einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen der Versäumung der Berufungsbegründungsfrist bedarf es nicht.

4. Die Sache wird zur Sachentscheidung über die Berufung an das Berufungsgericht zurückverwiesen, dem auch die Entscheidung über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens vorbehalten bleibt; jedoch werden Gerichtskosten insoweit nicht erhoben (§ 8 GKG).

5. Streitwert: 1.074 Euro

 

Gründe

I.

Durch das auf die mündliche Verhandlung v. 19.12.2001 ergangene und am 13.2.2002 verkündete Urteil des AG wurde ein gegen den Beklagten ergangener Vollstreckungsbescheid aufrechterhalten, durch den der Beklagte verpflichtet worden war, an den Kläger 2.100 DM nebst Zinsen und Kosten zu bezahlen. Dieses Urteil wurde dem Beklagten am 18.2.2002 zugestellt. Mit einem am 15.3.2002 beim LG eingegangenen Telefax und einem am 18.3.2002 eingegangenen Originalschriftsatz legte der Beklagte Berufung ein. Die Berufungsbegründung ging am 18.4.2002 ein, zusammen mit einem Wiedereinsetzungsantrag. Das Berufungsgericht wies durch Beschl. v. 7.6.2002 den Antrag des Beklagten auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist zurück und verwarf mit einem weiteren Beschl. v. 19.7.2002 die Berufung des Beklagten als unzulässig, da sie nicht innerhalb der Berufungsbegründungsfrist begründet worden sei.

Der Beschl. v. 7.6.2002, betreffend die Zurückweisung des Wiedereinsetzungsgesuchs, wurde dem Beklagten am 18.6.2002 zugestellt; derjenige v. 19.7.2002, betreffend die Verwerfung der Berufung, am 25.7.2002.

Mit einem am 17.7.2002 beim BGH eingegangenen Telefax hat der Beklagte Prozesskostenhilfe für eine beabsichtigte Rechtsbeschwerde gegen den Beschl. v. 7.6.2002 beantragt; mit einem weiteren am 26.8.2002, einem Montag, durch Telefax eingegangenen Schriftsatz folgte ein weiteres Prozesskostenhilfegesuch für eine Rechtsbeschwerde gegen den Verwerfungsbeschluss v. 19.7.2002.

Der Senat hat beiden Prozesskostenhilfegesuchen durch Beschl. v. 28.11.2002, dem Beklagten zugestellt am 5.12.2002, stattgegeben. Am 6.12.2002 hat der Beklagte durch eine beim BGH zugelassene Rechtsanwältin gegen die Beschlüsse des LG v. 7.6.und v. 19.7.2002 Rechtsbeschwerden eingelegt und zugleich um Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Rechtsbeschwerdefristen nachgesucht. Zugleich hat der Beklagte beantragt, die Frist zur Begründung der Rechtsbeschwerden um zwei Monate zu verlängern; diesem Antrag ist durch Verfügung des Vorsitzenden entsprochen worden (bis zum 3.3.2003). Die Begründung der Rechtsbeschwerden ist am 3.3.2003 eingegangen.

II.

Die Rechtsbeschwerden sind zulässig.

1. Zwar hatte der Beklagte die Notfrist zur Einlegung der Rechtsbeschwerden - einen Monat nach Zustellung der angefochtenen Beschlüsse (§ 575 Abs. 1 S. 1 ZPO) - versäumt. Dieses Versäumnis beruhte jedoch auf einem für ihn unverschuldeten Hindernis (§ 233 ZPO), nämlich seiner Mittellosigkeit. Nachdem ihm auf seine rechtzeitig gestellten Anträge Prozesskostenhilfe bewilligt worden war, hatte er die versäumten Prozesshandlungen, verbunden mit einem Wiedereinsetzungsgesuch, rechtzeitig und formgerecht nachgeholt (§§ 234, 236 ZPO). Ihm war daher, wie geschehen, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu bewilligen.

2. Die einmonatige Frist zur Begründung der Rechtsbeschwerden war durch die Zustellung der angefochtenen Beschlüsse ebenfalls in Lauf gesetzt und daher nach dem Wortlaut des Gesetzes ebenfalls versäumt worden (§ 575 Abs. 2 S. 1 und 2 ZPO). Eine den Wortlaut des § 236 Abs. 2 S. 2 ZPO strikt befolgende Handhabung dieser Vorschrift hätte daher die Notwendigkeit zur Folge, auch die Begründung der Rechtsbeschwerde innerhalb von zwei Wochen nach Behebung des Hindernisses nachzuholen (§ 234 Abs. 1 und Abs. 2 ZPO). Ein Antrag auf Verlängerung der Begründungsfrist hätte nach bisheriger Rechtsprechung die fristgerechte Nachholung der Begründung grundsätzlich nicht ersetzt (Zöller/Greger, ZPO, 23. Aufl. 2003, § 236 Rz. 8m. w. N.). In Fortführung der Erwägungen des XII. Zivilsenats in dessen Entsch. v. 9.7.2003 (BGH v. 9.7.2003 - XII ZB 147/02, BGHReport 2003, 1155) bedarf es indessen einer verfassungskonformen Auslegung des § 236 Abs. 2 S. 2 ZPO (und im Ergebnis des § 575 Abs. 2 S. 1 und 2 ZPO), wenn eine Partei wegen Mittellosigkeit nicht fristgemäß Rechtsbeschwerde einlegen konnte. Die arme Partei kann dann nicht gezwungen sein, auch die Rechtsbeschwerdebegründung innerhalb der zweiwöchigen Wiedereinsetzungsfrist einzureichen, falls inzwischen, wie regelmäßig und so auch hier, auch die Rechtsbeschwerdebegründungsfrist des § 575 Abs. 2 S. 1 ZPO verstrichen ist. Eine Verpflichtung der armen Partei, auch die Beschwerdebegründung innerhalb der nicht verlängerbaren Wiedereinsetzungsfrist nachzuholen, würde zu einer aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht hinnehmbaren Benachteiligung führen. Diese Regelung ist darum verfassungskonform zu korrigieren. Der XII. Zivilsenat zieht für den Fall einer versäumten Berufungsbegründung - entsprechendes gilt für die hier in Rede stehende Rechtsbeschwerdebegründung mit der Maßgabe, dass die Begründungsfrist hier nur einen Monat statt wie dort zwei Monate beträgt - in Erwägung, die volle Frist erst mit Zustellung der Prozesskostenhilfebewilligung in Lauf zu setzen. Alternativ dazu kommt in Betracht, dass mit Zustellung der die Wiedereinsetzung bewilligenden Entscheidung eine einmonatige Begründungsfrist in Lauf gesetzt wird. Dies entspricht der Rechtsprechung anderer oberster Gerichtshöfe des Bundes für die dortigen Verfahrensordnungen (Nachweise in BGH, Beschl. v. 9.7.2003 - XII ZB 147/02, BGHReport 2003, 1155). Auch im vorliegenden Fall ist der Senat nicht gezwungen, sich abschließend auf einen der beiden Lösungswege festzulegen. Folgt man nämlich der Zweiten Alternative - Begründungsfrist von einem Monat ab Zustellung der Wiedereinsetzungsentscheidung -, so würde die Frist erst mit der Zustellung des jetzigen Beschlusses in Lauf gesetzt und wäre damit durch die bereits vorliegende Beschwerdebegründung gewahrt. Beginnt hingegen die volle gesetzliche Begründungsfrist mit Zustellung der Prozesskostenhilfeentscheidung, so muss konsequenterweise in Modifizierung der bisherigen Rechtsprechung auch die gesetzliche Regelung des § 575 Abs. 2 S. 3i. V. m. § 551 Abs. 2 S. 6 ZPO gelten. Dies hat die Folge, dass der Vorsitzende berechtigt ist, unabhängig von den Schranken des § 234 ZPO auf Antrag des Beschwerdeführers die volle Verlängerungsmöglichkeit um bis zu zwei Monate auszuschöpfen. Eben dies ist hier geschehen. Die Beschwerdebegründung ist daher in jedem Falle rechtzeitig eingegangen, so dass es insoweit einer gesonderten Wiedereinsetzung nicht bedarf.

3. Die Rechtsbeschwerde ist, so weit sie sich gegen den Verwerfungsbeschluss v. 19.7.2002 richtet, nach § 522 Abs. 1 S. 4i. V. m. § 574 Abs. 1 Nr. 1 ZPO statthaft.

4. Durch Beschluss des VIII. Zivilsenats v. 4.9.2002 (BGH v. 4.9.2002 - VIII ZB 23/02, BGHReport 2002, 1113 = NJW 2002, 3783) ist geklärt, dass die Rechtsbeschwerde gegen einen die Berufung als unzulässig verwerfenden Beschluss auch dann zulässig ist, wenn - wie hier - die Wertgrenze des § 26 Nr. 8 EGZPO nicht erreicht ist.

5. Die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erfordert hier eine Entscheidung des Senats (§ 574 Abs. 2 Nr. 2 zweite Alt. ZPO). Die Zulässigkeit der Berufung beurteilt sich hier noch nach altem Verfahrensrecht, da die letzte mündliche Verhandlung vor dem AG bereits im Dezember 2001 stattgefunden hatte (§ 26 Nr. 5 EGZPO). Dies hatte die Konsequenz, dass die Berufungsbegründungsfrist mit der Einlegung der Berufung begonnen hatte (§ 515 Abs. 2 S. 2 Hs. 2 ZPO a. F.). Diese Konstellation wird in Zukunft nicht mehr eintreten können, da nunmehr auch für die Berufungsbegründungsfrist auf die Zustellung des Urteils abzustellen ist (§ 520 Abs. 2 S. 1 ZPO n. F.). Gleichwohl vermag der Senat die Erforderlichkeit der Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung hier nicht schon deshalb zu verneinen, weil es sich um auslaufendes Recht handelt. Die angefochtene Entscheidung tangiert das Verfahrensgrundrecht auf rechtliches Gehör. Sie steht in Widerspruch zur Rechtsprechung des BGH (s. im Folgenden III). Die Obliegenheit der unteren Instanzen, die höchstrichterliche Rechtsprechung zu beachten und sich mit ihr auseinander zu setzen, ist ein Gesichtspunkt, der im Rahmen der Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung auch dann Bedeutung behält, wenn das anzuwendende Recht selbst überholt ist.

6. Die Rechtsbeschwerde ist auch insoweit zulässig, als sie sich gegen den früheren Beschluss des LG v. 7.6.2002 richtet, durch den dem Beklagten die Wiedereinsetzung versagt worden ist. Auch insoweit ist sie statthaft (§ 238 Abs. 2 ZPO [unverändert] i. V. m. §§ 522 Abs. 1 S. 4, 574 Abs. 1 Nr. 1 ZPO n. F.). Die Erwägungen zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung gelten hier entsprechend.

III.

Die Rechtsbeschwerden führen zur Aufhebung der angefochtenen Beschlüsse und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.

1. Entgegen der Auffassung des LG war die Berufungsbegründungsfrist hier nicht versäumt worden. Deshalb bedurfte es weder einer Wiedereinsetzung, noch hätte die Berufung als unzulässig verworfen werden dürfen. Wie oben bereits ausgeführt, war das auf die mündliche Verhandlung v. 19.12.2001 ergangene und am 13.2.2002 verkündete Urteil des AG dem Beklagten am 18.2.2002 zugestellt worden. Die Berufungsschrift ging per Telefax am 15.3.2002 beim LG ein; der Berufungsschriftsatz im Original folgte am 18.3.2002, d. h. noch innerhalb der Berufungsfrist. Die Berufungsbegründung ging zusammen mit dem Wiedereinsetzungsantrag am 18.4.2002 ein. Dies bedeutete, dass die Begründungsfrist zwar bezogen auf die am 15.3.2002 durch Telefax eingelegte Berufung versäumt worden war, nicht jedoch bezogen auf die am 18.3.2002 durch Schriftsatz eingelegte Berufung. Dementsprechend lag hier dieselbe Konstellation vor wie bei dem Beschluss des II. Zivilsenats v. 20.9.1993 (BGH v. 20.9.1993 - II ZB 10/93, MDR 1993, 1234 = CR 1994, 142 = NJW 1993, 3141): Wird durch Telefax zulässigerweise Berufung eingelegt und innerhalb der Berufungsfrist auch das Original des Schriftsatzes bei Gericht eingereicht, dann liegt mangels abweichender Anhaltspunkte eine mehrfache Berufungseinlegung mit der Folge vor, dass die zunächst wirkungslose zweite Einlegung wirksam wird, wenn die durch Telefax eingelegte Berufung ihre Wirksamkeit verliert. Der Umstand, dass die Berufung v. 15.3.2002 durch Versäumung der Berufungsbegründungsfrist ihre Wirksamkeit verloren hatte, bewirkte also, dass die ebenfalls noch fristgemäß eingelegte Berufung v. 18.3.2002 Wirksamkeit erlangte und diese durch die rechtzeitig eingegangene Berufungsbegründung auch behielt.

2. Dementsprechend waren der Verwerfungsbeschluss v. 19.7.2002 aufzuheben und der die Wiedereinsetzung versagende Beschl. v. 7.6.2002 für gegenstandslos zu erklären.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1050014

NJW 2003, 3782

BGHR 2003, 1360

EBE/BGH 2003, 347

AnwBl 2003, 724

InVo 2004, 24

VersR 2004, 1201

KammerForum 2004, 69

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