Entscheidungsstichwort (Thema)

Volle Verfahrensgebühr auch bei verfrühtem Zurückweisungsantrag

 

Leitsatz (amtlich)

Hat der Rechtsmittelgegner bereits vor Zustellung der Rechtsmittelbegründung die Zurückweisung des Rechtsmittels beantragt, gehört die 1,6-Verfahrensgebühr nach Nr. 3200 VV-RVG regelmäßig zu den zur zweckentsprechenden Rechtsverteidigung notwendigen Kosten i.S.v. § 91 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 ZPO, wenn nach dem verfrühten Zurückweisungsantrag das Rechtsmittel noch begründet wird und das Rechtsmittelgericht in der Sache entscheidet (im Anschluss an BGH, Beschl. v. 1.4.2009 - XII ZB 12/07, NJW 2009, 2220 f.).

 

Normenkette

ZPO § 91 Abs. 1 S. 1; RVG VV Nrn. 3200; RVG VV § 3201 Nr. 1

 

Verfahrensgang

OLG München (Beschluss vom 29.07.2009; Aktenzeichen 11 W 1791/09)

LG Augsburg (Beschluss vom 15.04.2009; Aktenzeichen 10 O 5371/04)

 

Tenor

Auf die Rechtsbeschwerde des Beklagten wird der Beschluss des 11. Zivilsenats des OLG München vom 29.7.2009 aufgehoben.

Auf die sofortige Beschwerde des Beklagten wird der Kostenfestsetzungsbeschluss des LG Augsburg vom 15.4.2009 dahin abgeändert, dass weitere vom Kläger an den Beklagten zu erstattende Kosten festgesetzt werden i.H.v. 312,97 EUR (darin enthalten 49,97 EUR Umsatzsteuer) zzgl. Zinsen hieraus i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz für das Jahr seit 12.2.2009.

Der Kläger hat die Kosten der sofortigen Beschwerde und der Rechtsbeschwerde zu tragen.

Beschwerdewert: 312,97 EUR

 

Gründe

I.

Rz. 1

Der Kläger hat gegen das seine Klage abweisende Endurteil des LG Berufung eingelegt. Nachdem die Prozessbevollmächtigten des Beklagten bereits nach Zugang der Berufung mit Schriftsatz vom 2.10.2008 die Vertretung des Beklagten auch im zweiten Rechtszug angezeigt und den Antrag auf Zurückweisung der Berufung angekündigt hatten, hat der Kläger seine Berufung mit Schriftsatz vom 24.11.2008 begründet. Nach einer Ankündigung des OLG, es sei beabsichtigt, die Berufung durch einstimmigen Beschluss gem. § 522 Abs. 2 ZPO zurückzuweisen, hat der Kläger seine Berufung nicht zurückgenommen. Sie wurde schließlich mit Beschluss des OLG vom 27.1.2009 zurückgewiesen, ohne dass sich der Beklagte nochmals geäußert hatte. Die Kosten des Berufungsverfahrens wurden dem Kläger auferlegt.

Rz. 2

Der Prozessbevollmächtigte des Beklagten hat beantragt, die vom Kläger an den Beklagten zu erstattenden Kosten für die zweite Instanz mit einer 1,6-Verfahrensgebühr nach Nr. 3200 VV-RVG festzusetzen. Das LG hat jedoch nur eine 1,1-Verfahrensgebühr nach Nr. 3201 VV-RVG festgesetzt. Die sofortige Beschwerde gegen diesen Beschluss hat das OLG zurückgewiesen. Mit der vom Beschwerdegericht zugelassenen Rechtsbeschwerde verfolgt der Beklagte sein Begehren weiter.

II.

Rz. 3

1. Das Beschwerdegericht ist der Auffassung, der Beklagte könne vom Kläger für die Berufungsinstanz nur eine 1,1-Verfahrensgebühr nach Nr. 3201 VV-RVG erstattet verlangen, weil der Antrag auf Zurückweisung der Berufung vor Begründung der Berufung nicht notwendig i.S.d. § 91 Abs. 1 Satz 1 ZPO gewesen sei. Es sei dabei ohne Bedeutung, dass eine Berufungsbegründung später noch eingegangen sei. Die Frage, ob aufgewendete Prozesskosten zu einer zweckentsprechenden Rechtsverteidigung i.S.v. § 91 Abs. 1 Satz 1 ZPO notwendig gewesen seien, beurteile sich nämlich danach, ob eine verständige und wirtschaftlich vernünftige Partei eine die Kosten auslösende Maßnahme im Zeitpunkt ihrer Veranlassung als sachdienlich hätte ansehen dürfen. Ein vor Zustellung der Berufungsbegründung gestellter Zurückweisungsantrag sei zu diesem Zeitpunkt jedoch nicht geeignet gewesen, das Verfahren zu fördern. Dies gelte unabhängig davon, ob die Berufung später noch begründet werde.

Rz. 4

2. Die Rechtsbeschwerde ist nach Zulassung durch das Beschwerdegericht statthaft (§ 574 Abs. 1 Nr. 2 ZPO) und auch im Übrigen zulässig, insb. form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§§ 567 Abs. 2, 575 ZPO). Sie hat auch in der Sache Erfolg. Die Ausführungen des Beschwerdegerichts halten einer rechtlichen Nachprüfung nicht stand.

Rz. 5

Auch wenn der Rechtsmittelgegner bereits vor Zustellung der Rechtsmittelbegründung die Zurückweisung des Rechtsmittels beantragt, können die dadurch entstehenden Anwaltsgebühren im Einzelfall zur zweckentsprechenden Rechtsverteidigung notwendige Kosten i.S.v. § 91 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 ZPO darstellen, wenn nach dem verfrühten Zurückweisungsantrag das Rechtsmittel noch begründet worden ist und das Rechtsmittelgericht in der Sache entschieden hat (vgl. BGH, Beschl. v. 1.4.2009 - XII ZB 12/07, NJW 2009, 2220 f.).

Rz. 6

Zwar beurteilt sich die Frage, ob aufgewendete Prozesskosten zu einer zweckentsprechenden Rechtsverteidigung i.S.v. § 91 Abs. 1 Satz 1 ZPO notwendig waren, grundsätzlich danach, ob eine verständige und wirtschaftlich vernünftige Partei eine die Kosten auslösende Maßnahme im Zeitpunkt ihrer Veranlassung als sachdienlich ansehen durfte (vgl. BGHZ 166, 117, 124; BGH, Beschl. v. 20.10.2005 - VII ZB 53/05, NJW 2006, 446, 447; v. 11.11.2003 - VI ZB 41/03, NJW-RR 2004, 430; v. 16.10.2002 - VIII ZB 30/02, FamRZ 2003, 441, 443).

Rz. 7

Nach Einreichung der Rechtsmittelbegründung kann dem Rechtsmittelgegner aber ein berechtigtes Interesse nicht mehr abgesprochen werden, mit anwaltlicher Hilfe eine Zurückweisung des Rechtsmittels anzustreben und einen entsprechenden Antrag anzukündigen. In diesem Zeitpunkt, auf den der verfrühte Zurückweisungsantrag fortwirkt, wird eine Verteidigung somit notwendig und wäre mit Kosten in der geltend gemachten Höhe verbunden gewesen. Diese wären bei einer Antragstellung nach Eingang der Rechtsmittelbegründung zweifellos auch erstattungsfähig gewesen. Unter solchen Umständen kann es für die Frage der Erstattungsfähigkeit aber nicht auf die zeitliche Reihenfolge der jeweiligen Anträge ankommen. Vielmehr wäre es eine unnötige Förmelei, von dem Rechtsmittelgegner zu verlangen, dass er nach Eingang der Rechtsmittelbegründung nochmals einen Schriftsatz mit einem Gegenantrag bei Gericht einreicht, um die Erstattungsfähigkeit der vollen Verfahrensgebühr herbeizuführen. Dieser Beurteilung steht die Entscheidung des erkennenden Senats v. 3.7.2007 - VI ZB 21/06, NJW 2007, 3723 nicht entgegen, da sie einen Fall betraf, in welchem der Auftrag wegen Rücknahme der Berufung vor Durchführung des Rechtsmittels vorzeitig beendet worden ist, so dass sich der verfrüht gestellte Antrag nicht nachträglich als notwendig erweisen konnte.

 

Fundstellen

Haufe-Index 2379674

EBE/BGH 2010

FamRZ 2010, 1652

JurBüro 2010, 649

ZAP 2010, 1095

MDR 2010, 1157

Rpfleger 2011, 47

VersR 2010, 1470

AGS 2010, 513

HRA 2010, 12

NJW-Spezial 2010, 669

RENOpraxis 2011, 36

RVGreport 2010, 431

r+s 2011, 539

Rafa-Z 2010, 10

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